Der Bär zeigt wieder Krallen

Putin will angesichts der neuen geopolitischen Lage die schleichende Isolierung seines Landes überwinden und Russland mit der EU zu einer Art Gegenmacht aufbauen - Teil 2

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Im ersten Teil (Der russische Präsident stoppt den Ausverkauf des Landes, muss dem politischen Treiben vor seiner Haustür aber hilflos zusehen) wurde gezeigt, wie Putin das Land wirtschaftlich und politisch auf Vordermann gebracht hat, aber der westlichen Ein- und Umkreisungspolitik hilf- und machtlos zusehen muss. Im zweiten Teil geht es um die Frage, wie Russland seine defensive Position überwinden und mit der EU eine eurasische Achse bilden will. Eine Gesamtbetrachtung am Ende, die sowohl die neue Rolle und gewachsene Bedeutung der EU reflektiert als auch die der anderen Global Player, nimmt die Chancen und Möglichkeiten einer solchen Kooperation in den Blick.

Isolierung Russlands

Es gibt mithin gar viele und gute Gründe für Amerika oder den Westen, sich die Ukraine zur Beute zu machen. Daher wird die ukrainische Unabhängigkeit vom Westen politisch auch schon seit längerem gefördert und unterstützt. Seit 1994 räumen die USA den Beziehungen zur Ukraine höchste Priorität ein. Bei jeder passenden Gelegenheit ließen westliche Politiker keinen Zweifel daran, dass die Ukraine Teil Europas sei. Auch unterhält das Land seit Mitte der 1990er mit Amerika eine "strategische Partnerschaft", die sich an gemeinsamen Übungen der Nato mit ukrainischen Truppenverbänden zeigt. Um die Regierung zu schwächen, laufen von Amerika aus massive Geldzahlungen an NGOs, Medien und liberale Politiker. Und mit der Mitgliedschaft Polens und anderer osteuropäischer Länder, hat der Wunsch der Ukraine nach einem Beitritt in die EU nochmals immensen Auftrieb bekommen.

Dass angesichts dieser Einmischung und der vom Westen aus geschürten Zuspitzung dem russischen Präsidenten der Kragen geplatzt ist, verwundert daher nicht. In selten gekannter Schärfe) warnte er den Westen vor den Folgen einer weiteren Isolierung Russlands: "Wenn wir das als Bestreben interpretieren, Russlands Möglichkeiten zur Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen einzuschränken," so Putin auf einer Pressekonferenz in Moskau, "dann ist es gleichzusetzen mit dem Wunsch, die Russische Föderation zu isolieren."

Den Ärger ausgelöst hatte eine Bemerkung des polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski, der gesagt haben soll, Russland ohne die Ukraine sei besser als Russland mit der Ukraine. Nach russischer Lesart gilt Polen, das sich zum Vermittler berufen fühlte, als Sprachrohr Amerikas (Die Ukraine weckt Erinnerungen).

Mit seinem Verdacht liegt Putin sicherlich nicht völlig daneben. Diese Absichten untermauert ein Kommentar, den Robert Kagan nach den annullierten Wahlen Anfang Dezember in der Washington Post abgegeben hat (Embraceable E.U.). Darin lobt er ausdrücklich das arbeitsteilige Vorgehen des Westens im Falle der Ukraine. Auf exemplarische Weise habe die EU in Kiew ihre "Soft Power" eingesetzt, um "Wladimir Putin und seine Möchtegern-Quislinge von ihrem verunglückten Staatsstreich abzubringen". Dadurch sei "die Wiedergeburt eines autoritären russischen Imperiums an den Rändern des demokratischen Europas im Keim erstickt" worden. Hier zeige sich, "welche bedeutungsvolle und vitale Rolle Europa bei der Gestaltung von Politik und Wirtschaft der Nationen und Völker innerhalb ihrer ständig expandierenden Grenzen spielen kann und spielt." So groß war die Begeisterung, dass er die Operation sogleich für andere Krisen und Regionen empfohlen hat.

Expansive Ausrichtung

Der Beobachtung kann man kaum widersprechen. Binnen Jahren ist die EU vom einstigen Brückenkopf, den sie vormals in der Geostrategie der USA für Eurasien gespielt hat, zum globalen Akteur gereift. In auswärtigen Angelegenheiten ist ihre Kommission mittlerweile hyperaktiv geworden. Sie betreibt politisch anspruchsvolle Programme im Nahen Osten, auf dem Balkan, in Zentral- und Osteuropa und versucht, ihren Einfluss im Iran und Zentralafrika geltend zu machen. Mit der Schaffung eines politischen Sicherheitskomitees besitzt sie ein Mandat zum Krisenmanagement, das sich kurzfristig treffen und entscheiden kann. Sie hat einen "High Representative" ernannt, durch den sie ihre Diplomatie und ihr Krisenmanagement bündeln kann.

In den vergangenen Jahren hat die EU zwei Militäroperationen durchgeführt, eine auf dem Balkan, die andere im Osten des Kongo. Geplant ist, die Nato in Bosnien abzulösen. Neben der Ausbildung von Polizisten und dem Ausbau des Justizwesens auf dem Balkan, greift sie Staatsanwälten und Richtern in Georgien bei der Rechtsprechung unter die Arme, während Militärplaner die Afrikanische Union in Darfur unterstützen.

Die Bilanz, die Robert Cooper, einst enger Berater Tony Blairs und inzwischen rechte Hand von Javier Solana, da nicht ohne Stolz zieht, ist durchaus beeindruckend. Sie belegt nicht nur den Kurswechsel, den die EU mit der Verabschiedung ihrer neuen Sicherheitsdoktrin vorletztes Jahr vollzogen hat, sondern erhärtet auch den Verdacht, dass die EU sich langsam als eine "Macht mit globalem Einfluss begreift" (Das imperiale Europa). Anders als die US-Weltmacht agiert sie aber meist innerhalb ihrer Grenzen und beschränkt sich so auf ihr Einflussgebiet. Weswegen Europa trotz ihrer Größe und Wirtschaftskraft keine Supermacht im üblichen Sinne ist. Die Last globaler Strategien will sie jenseits des eigenen Hauses (noch) nicht mittragen, auch wenn manche Politiker dazu durchaus bereit wären.

Dem alten Kontinent mangelt es demnach nicht an strategischem Denken und dem Willen zur Gestaltung, wie in der Vergangenheit oftmals behaupten wurde. Europa hat mittlerweile sehr wohl eine Geostrategie, sie heißt "Erweiterung". Ihre Kraft, Stärke und Anziehungskraft beruhen nicht auf Zwang, sondern auf Freiwilligkeit. Spielen die USA allzu häufig mit den militärischen Muskeln, winkt Europa, wie das Beispiel Ukraine lehrt, mit dem "Köder der Mitgliedschaft" (Robert Cooper). Der konzentrisch expandierende Koloss zwingt nicht, er schluckt Probleme und Konflikte, die an seinen Rändern toben, indem er Angebote macht.

Auf die von Kriegen, ethnischen Konflikten und wirtschaftlicher Armut zerfurchten Staaten, wirkt Europa allein durch seine Präsenz wie ein Magnet. Schon die Aussicht, Mitglied im erlauchten Club zu werden, führt dazu, dass davon befallene Staaten, siehe Balkan und Türkei, ihre Politik europäischen Standards anpassen. Robert Cooper hat diese postmoderne Großmachtpolitik vor einiger Zeit als "Imperialismus der Nachbarschaft" bezeichnet. Ziel ist es folglich, einen Großraum des Wohlstands, des Rechts und der guten Nachbarschaft zu schaffen, einen "Ring befreundeter Staaten" um sich zu legen, zu denen man enge, friedliche und kooperative Beziehungen unterhält (The new liberal imperialism).

Eine solche abstrakte "Nachbarschaftspolitik" kann selbstverständlich keine geografischen, kulturellen oder ethnische Grenzen mehr kennen. Weshalb sie bislang auch nur von wenigen geteilt wird. Hier herrscht eher die Überzeugung vor, dass Europa eine Zivilisation ist, die von den Werten des Christentums und der Aufklärung bestimmt wird. Doch wie man an der Neuausrichtung der Türkei-Politik in Paris und Berlin erkennt, bekommt sie immer mehr Anhänger. Mittlerweile wird sie nicht mehr nur in Polen oder von Tony Blair geteilt, sondern auch von Chirac und Schröder, von Fischer und Verheugen. Sah man noch vor Jahren einer Vollmitgliedschaft der Türkei äußerst skeptisch entgegen, weil Europa dadurch mit so konfliktträchtigen Staaten wie Syrien und dem Irak eine gemeinsame Grenze bekäme, ist man jetzt der Meinung, dass ein türkischer Beitritt ein wichtiger Beitrag zum War on Terror, aber auch ein Beweis dafür werden könnte, dass Modernität und Islam sehr wohl vereinbar seien.

Dieser Logik zufolge könnte praktisch bald auch Israel den Weg in die EU finden. Und auch die Beitritte von Algerien, Marokko und anderer nordafrikanischer Staaten wären im Bereich des Möglichen. Denn auch in dieser Region besitzen die Europäer, was Stabilität und Prosperität dieses Raumes angehen, längst ein vitales Interesse. Nicht nur wegen der dort lagernden Energievorkommen, sondern auch, um noch größere Flüchtlingsströme als bisher zu vermeiden, sollte es dort zu failed states kommen.

Bedenkt man, dass es von deutschen Baumeistern wie dem Münchner Hermann Sörgel in der Zwischenkriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts schon Pläne gab, durch eine partielle Trockenlegung des Mittelmeeres, Europa und Afrika zu einem zusammenhängenden Kontinent namens "Atlantropa" zu verbinden, dann schlösse sich ein Kreis aus Politik und Planungen, Macht und Projektionen, die weit ins 19. Jahrhundert hineinreichen. Solche in Real- und Biopolitik getauchte Fantasien zeigen, dass der Kolonialismus, die Zivilisierung und aktuell die Demokratisierung ganzer Landstriche und Regionen immer schon die "konstitutive Außenseite" des westlichen Kapitalismus waren und immer noch sind.

Strategische Partnerschaft

Diese dominante Rolle, die Europa mittlerweile in der Welt einnimmt, ist Russland natürlich nicht verborgen geblieben. Die Attraktivität des europäischen Integrationsprozesses strahlt längst auf die russische Politik aus. Und mit Putin und seinen Beratern ist eine neue Elite an die Macht gekommen, die keine imperialen Bestrebungen mehr hat und stattdessen zielstrebig die Integration in den EU-Markt betreibt. "Wir leben seit langem in der realen Welt und der Realpolitik. Pragmatismus ist das Kriterium, das uns leitet. Wir setzen in unserer Außenpolitik auf keinerlei Ideologie oder Propaganda", so der russische Außenminister Lawrow jüngst im Interview mit dem Handelsblatt. Solange die wirtschaftlichen Interessen Russlands gewahrt bleiben, ist es für ihn auch kein Problem, die Ukraine in die Nato und danach auch in die EU zu entlassen.

Für die neuen Machthaber im Kreml stellt Europa nicht mehr, wie noch zur Sowjetzeit, den wirtschaftlichen Arm US-amerikanischen Containements dar, deren militärischen Teil davon die NATO ist. Auch betrachten sie Europa nicht mehr als abhängige Größe, dessen Behauptungswille gegenüber der Weltmacht schwach entwickelt ist. Vielmehr beginnt man dort, das von der EU propagierte Modell der sozial abgefederten Marktwirtschaft als echte Alternative zum amerikanischen Weg zu entdecken.

Wie der "Konzeption Außenpolitik der Russischen Föderation" vom 28. Januar 2000 zu entnehmen ist, räumt Russland bei seiner Integration in den Weltmarkt der Beziehung zur EU mittlerweile eine "Schlüsselfunktion" ein. Sie wird dort "als einer ihrer wichtigsten politischen und ökonomischen Partner" angesehen, mit der man eine intensive und langfristige Kooperation eingehen will.

Die Daten der letzten Jahre sprechen auch eine deutliche Sprache. So ist die EU inzwischen zum größten Investor in Russland geworden. Mehr als die Hälfte des russischen Außenhandels werden mit der EU getätigt. Ein Großteil davon entfällt auf Energielieferungen, die sich weiter steigern lassen, wenn Eon, wie geplant, seinen Anteil an Gazprom auf erlaubte 20 Prozent aufstocken und in den nächsten zehn Jahren dort 20 Milliarden Euro investieren wird. Darum war der Kanzler Anfang November auch in geheimer Mission nach London gedüst. Zusammen mit dem BP-Chef wollte Schröder ausloten, ob die Briten sich eventuell am Bau einer Erdgas-Pipeline durch die Ostsee beteiligen wollen. Die Leitung soll die Gasfelder Sibiriens mit Westeuropa verbinden und bei Greifswald das Festland erreichen. Nach Berichten der International Energy Agency (IEA) könnte das dazu führen, dass Europa im Jahre 2030 zu 90 Prozent vom russischen Öl abhängig sein könnte und die Gasversorgung Europas durch Russland von 40 auf 81 Prozent steigen dürfte.

Deutschland, die größte und mächtigste Nation der EU, spielt bei all diesen Planungen und Kooperationen Putins sicher eine außergewöhnliche Rolle. Nicht nur, weil Putin hier lange Zeit gelebt und so eine persönliche Beziehung zu dem Land und seinen Leuten aufgebaut hat. Oder weil er vielleicht einen besonders guten Draht nach Berlin, zu Doris und Kanzler Schröder hat, und es mit den beiden sehr gut kann. Sondern vor allem, weil der Handelsumsatz von Jahr zu Jahr steigt, Deutschland Russlands wichtigster Handelspartner ist und zusammen mit Frankreich sich den Begehrlichkeiten Amerikas vor, während und nach dem Irak-Krieg erfolgreich widersetzt hat. In der Zusammenarbeit mit Berlin und Paris sieht er eine Möglichkeit, den Unilateralismus der Amerikaner auszubalancieren.

Kein Wunder, dass sowohl das Treffen mit Schröder in Moskau im Juli letzten Jahres als auch das kurz vor Weihnachten in Schleswig zur beiderseitigen Zufriedenheit verlaufen ist. Schröder konnte sich dort (wie schon in China) die russische Zustimmung für einen ständigen Sitz Deutschlands im Weltsicherheitsrat mit Vetorecht einholen. Neben einer früheren Rückzahlung russischer Auslandsschulden, dem Verkauf von Hochgeschwindigkeitszügen durch die Firma Siemens, eine Kooperation im Güter- und Reiseverkehr, wurde darüber hinaus auch ein Dialog zur Stabilisierung des Kaukasus vereinbart und eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine sowie eine kooperativ-konstruktive Haltung im umstrittenen Tschetschenien-Konflikt erreicht. Gut gelaunt konnte Putin daher den verdutzten Demonstranten mitteilen, dass der Krieg dort seit drei Jahren beendet ist.

Mit dieser engen Kopplung an die EU wird es immer unwahrscheinlicher, dass Russland die asiatische Karte zieht und seine Zukunft in enger Kooperation mit China, Indien oder dem Iran suchen wird, eine Option, die wegen des latenten Misstrauens und der Eigenständigkeit Chinas auf Sand gebaut wäre. Zumal Russland in einer solchen Partnerschaft, auch wenn der Besuch Putins in China durchaus erfolgreich war, bald die Rolle des Juniorpartners spielen würde, was Moskau kaum akzeptieren dürfte. Obendrein wäre Russland dort in ständige Händel und Zwistigkeiten mit zentralasiatischen Bevölkerungsgruppen, aber auch mit China verwickelt, mit dem es eine immens lange Grenze teilt.

Den Westen gibt es nicht mehr

Ein eurasischer Raum, der von Dublin über Moskau bis nach Wladiwostok reicht, könnte mithin durchaus "realistisch und im beiderseitigen Interesse" sein, wie so mancher Politiker und Berater in Brüssel (Die neue Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union), Paris oder Berlin meint. Ob eine solche Achse Paris-Berlin-Moskau auch "als langfristiges geostrategisches Ziel" in Rechnung gezogen werden kann, als Alternative und Gegenmodell zur transatlantischen Allianz taugen wird oder gar als Gegengewicht und Gegenmacht zur Weltmacht USA in Frage kommen kann, wird letztlich aber davon abhängen, wie sich das transatlantische Bündnis, das Verhältnis Europa und USA mittelfristig entwickeln wird.

Vormals Subjekt und Hauptakteur auf der Bühne der Weltpolitik, ist Europa mit dem Ende von WK II zum Objekt mutiert, um das die Sowjets und Amerikaner erbittert wetteiferten. Der Kampf endete bekanntlich mit der Aufteilung des Kontinents. Während die SU einen sozialistischen Schutzwall um sein Reich legte, brauchte Westeuropa, um sich zu verteidigen, die USA. Allein dazu nicht in der Lage, legte Europa Schutz und Sicherheit bereitwillig in den Schoß der Vereinigten Staaten. So entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Art von Arbeitsteilung, die mehr oder weniger gut funktionierte. War Selbstsorge und Nabelschau die Kernaufgabe der europäischen Länder, kümmerten sich Nato und die USA um die Ost-West-Beziehungen und das globale Geschehen außen herum. Auf diese Weise konnte im Windschatten der US-amerikanischen Streitmacht das neue und friedliche Europa reifen und zu einem postmodernen Planeten der Seligen (Venus) werden, der dem Recht und der Moral, den Vorzug vor der Macht und den Gesetzen des Dschungels geben konnte und kann.

Mit dem Ende des Kalten Kriegs und der Öffnung des Eisernen Vorhangs ging Jalta, und damit die von den Siegermächten dort beschlossene alte Weltkriegsordnung zu Ende. Vieles ist seitdem wieder im Fluss, viele Karten werden neu gemischt und verteilt. Darunter auch die transatlantische Allianz. Der Dissens über den Irak-Feldzug hat die unterschiedlichen Haltungen, Interessen und Stärken überdeutlich gemacht, er hat den Westen gespalten und das Bündnis in Trümmer fallen lassen.

Folgt man Richard Haass, dem Planungsdirektor im US-Außenministerium, dann ist die Beschwörung gemeinsamer Werte, die von feurigen Atlantikern gemacht werden, "weitgehend Geschwafel". Den Westen als solchen gibt es nicht mehr. "Das Verhältnis zwischen Amerika und Europa wird nie mehr so eng werden, wie es beim notwendigen Schulterschluss während des Kalten Krieges gewesen ist", meint auch Egon Bahr. Und mit der EU-Osterweiterung, besonders aber mit Italien, England (das sieht man an Robert Cooper) und Polen, haben die USA "trojanische Pferde" in der EU platziert, mit deren Hilfe es (wie im Falle Irak bereits geschehen) möglich wird, die Europäer gegeneinander auszuspielen (Die Krise ist noch nicht beendet.

Entscheidend wird sein, wie die Weltmacht mit einem zunehmend selbstbewussten Europa umgehen wird. Wird sie Europa als eigenständigen und ebenbürtigen Partner achten, ihm als Juniorpartner, Befehlsempfänger oder Vasall begegnen oder es gar als Gegner und Rivale betrachten? Dass Bush nach Ableistung seines zweiten Amtseides zunächst nach Europa kommen, dort auch Schröder treffen, und nicht in Washington auf Besuch aus Europa warten will, zeigt, dass Amerika um die neue Bedeutung Europas in der Welt, aber auch die von Deutschland weiß. Und: anders herum gefragt: Wie wird Europa mit seiner neuen Rolle, Stärke und Macht umgehen? Wie wird es sich gegenüber Amerika verhalten? Wird es sich weiter unterwürfig, dienend und arbeitsteilig zeigen, sich endlich selbstsicher präsentieren, die eigenen Interessen betonen und dabei eigene (von Amerika unzensierte) Wege beschreiten?

Will es den Weg der Selbst- und Eigenständigkeit, wie angedacht, weiter einschlagen, dann ist es nur konsequent, wenn man in der EU (das heißt besonders in Paris und Berlin) die "strategische Partnerschaft" mit Moskau vertieft und eifrig am Ausbau der Achse Paris-Berlin-Moskau bastelt und feilt. Zumal man mit Putin einen Partner vor sich hat, der nicht nur viel zu bieten hat (also Energie und Rohstoffe), sondern auch aus eigenem Interesse heraus, darauf höchst erpicht ist. Das Wohl und Wehe, und damit der Fortschritt und die Zukunft Russlands hängen, seitdem es seine imperialen Gelüste begraben musste, vom Gelingen der Partnerschaft mit Europa ab.

Großraumordnungen

Alle diese politischen Realitäten sind ziemlich weit davon entfernt, was Habermas sich als neue, kontrafaktische Weltordnung vor Monaten zusammenfabuliert hat (Weltinnenpolitik ohne Weltregierung). Statt einer vom Recht und Gesetz, von Regeln und gegenseitigem Einvernehmen konstituierten Weltordnung, die die hegemoniale Expansion der liberalen Konsum- und Warengesellschaft à la americaine in ihre Schranken weist, werden wir es langfristig, wenn dem US-Unilateralismus der revolutionäre Atem ausgeht und das politische Europa nicht durch "Überdehnung" vorher zu Fall kommt, aller Wahrscheinlichkeit nach mit unterschiedlichen Großräumen zu tun haben, die sich gegenseitig belauern, streng auf ihre jeweiligen Interessen achten, sich gegenseitig in Schach zu halten versuchen und, wenn nötig, Bündnisse auf Zeit eingehen.

So gesehen ist die mit dem westfälischen Frieden in Gang gekommene Nationenordnung, die sich nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges herausgebildet hat und die das internationale Staatensystem prägt, alles andere als überholt oder vom Tisch. Sie hat sich nur aufgespreizt und wird aktuell von wenigen Großräumen ausgeübt.

Bislang scheinen sich am Horizont vier solcher Großräume abzuzeichnen: Amerika als dominanter Großraum und Supermacht; Eurasien als Gegengewicht und Alternative dazu; der arabisch-islamische Raum als ständiger Unruheherd und Zankapfel; ein wirtschaftlich aufstrebender pazifischer Raum unter der wuchtigen Fuchtel Chinas (nicht umsonst überbieten sich die meisten westlichen Staaten mit Hilfen an die von der Killerflut betroffenen Gebiete). Mit ihnen, und das ist das haarige, aber auch nicht ganz Neue daran, kehrt auch die Schaukelpolitik alter Bismarckscher Prägung (im globalen Maßstab) auf die Weltbühne zurück. Es bleibt zu hoffen, dass die Revolver, die vor allem in Amerika derzeit recht locker sitzen, nicht weiter entsichert werden.