Islamstaat sucht Untertanen

Dem syrischen Philosophen Sadek al-Azm zufolge liegt die Scharia mehr oder minder ad acta. An ihrer Stelle habe sich längst der Säkularismus in die Region eingeschlichen

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Der muslimische Staat als "Staat der Religion". Auf Sadek al-Azms Gesicht breitet sich ein Grinsen aus, wenn er diese vom Westen und den Fundamentalisten gleichermaßen kultivierte Vorstellung hört. De facto sei der Islam bereits seit einem dreiviertel Jahrhundert dabei, seine Bedeutung als gesetzgebende Macht einzubüssen - und somit zur reinen Privatsache zu werden.

Herr al-Azm, Sie verankern das Kernproblem der arabischen Misere nicht im westlichen Imperialismus, sondern in dem noch nicht gewonnenen inner-muslimischen Kampf um die Menschenrechte.

Sadek al-Azms: Der Umstand, dass die Menschenrechte so viele erbitterte Feinde in der Region haben, beweist ja ihre Bedeutung. Die arabischen Staaten wissen längst, dass ohne Zivilgesellschaft kein Weiterkommen ist. Zivilgesellschaft aber ist nur ein anderes Wort für Säkularismus und Menschenrechte - und in diesen Punkten bleiben die islamischen Nationen noch außen vor.

Zugleich betonen Sie aber, dass sich längst ein informeller Säkularismus etabliert habe.

Sadek al-Azms: Ja, ich bezeichne ihn als schleichenden Säkularismus. Im Grunde wurde allerortens den Religionsleuten die Macht über das öffentliche Leben entzogen. Beispielsweise ist das Erziehungssystem, mit Ausnahme vielleicht Saudi-Arabiens, genauso wenig in den Händen der "Ulama" wie Rechtsprechung, Armee, Medien oder die Künste.

Wann setzte das ein?

Sadek al-Azms: In Schlüsselstaaten wie Syrien, Ägypten und Irak entbrannte in den dreißiger Jahren ein heftiger Streit über die Entschleierung der Frau, der die Befreiung von der Scharia einleitete. Die derzeitigen Rückschritte halte ich für eine kurzfristige Erscheinung ohne Aussicht auf Erfolg. Der Fundamentalismus will mit seiner verquasten Ideologie die Dauerkrise der Muslime kompensieren. Tatsächlich aber kontrollieren die Scharia-Verfechter nur noch das Familien- und Personenstandsrecht, das sie mit Zehen und Klauen verteidigen. Sie wissen genau, dass es ihr letztes Revier und alles andere unwiederbringlich verloren ist. Eine Reform zum Beispiel in Richtung ziviler Eheschließung ist daher momentan sehr schwer. Somit ist eine vollständige Trennung von Staat und Moschee keineswegs vollzogen, aber längst im Gange.

Der Islam verliert seine Attraktivität

Die westliche Vorstellung von der Einheit von Islam und Staat geht also an der Realität vorbei?

Sadek al-Azms: Die westliche und die fundamentalistische. Denn die Moschee ist schon seit langem die Dienerin des Präsidentenpalastes. Anders gesagt: Der Islam ist zwar noch die Religion des Staates, aber der Staat ist nicht mehr der Staat des Islams. Das sieht man daran, dass die Al-Azhar-Universität, die Meinungsbildnerin in Sachen Islambotschaft, staatlich kontrolliert wird. Seit langem wird der Koran je nach politischer Erfordernis eingesetzt: Im Kampf gegen Israel dient er normalerweise zur Mobilisierung, schließt Sadat aber Frieden mit Israel, dient er zur Rechtfertigung dieses Umschwungs.

Somit kämpfen die Fundamentalisten auf verlorenem Posten - und zwar an allen Fronten?

Sadek al-Azms: Sie sind der lebende Beweis dafür, dass der Wind aus einer ganz anderen Richtung bläst: Wenn sie sagen, dass die Scharia ab sofort wieder anzuwenden ist, heißt das nichts anderes, als dass sie nicht mehr angewandt wird. Und wenn sie die Gesellschaften reislamisieren wollen, bedeutet das, dass die meisten Muslime nur noch nominell Muslime sind.

Trotzdem ist der Islam ja nun nicht gerade Folklore.

Sadek al-Azms: Im Vergleich zum post-religiösen Europa ist er natürlich noch überaus funktionstüchtig. Aber das Syrien von heute ist nicht mehr das von vor 100 Jahren, als jeder Studienplatz von Scheichs vergeben wurde. Hinzu kommt, dass der Islam seine Attraktivität verliert. Ich will nicht sagen, dass die Zahl der Atheisten in die Höhe schnellt, aber es gibt eine gewisse Entfremdung. Meines Erachtens nimmt er früher oder später dieselbe Entwicklung wie das Christentum: Er wird eine Option, etwas Privates.

Das türkische Modell ist die konkreteste Orientierungshilfe für die muslimischen Länder

Die diversen Bemühungen um eine neue Lesart des Korans oder zumindest um eine Klarstellung seiner Grundbotschaft entspringen aber doch dem Bestreben, die Religion zu retten.

Sadek al-Azms: Sie entspringen dem Bestreben, den Koran an die Moderne anzupassen - im Gegensatz zu den Islamisten, die die Moderne an den Islam anpassen wollten, wie Sayyed al-Qutb. Ich schätze diese mitunter unglaublich aufwendigen Versuche als lobenswerten Akt der Rationalisierung. Nur werde ich immer dann skeptisch, wenn sie behaupten, dass Gott oder die Offenbarung "absolut" seien. Woher wollen sie das wissen?

Die derzeitige Infragestellung der fundamentalistischen Losung "Zurück zum Islam" hängt sicherlich damit zusammen, dass die Islamisten nie etwas hervorbrachten, das funktioniert. Weder die Taliban, noch der Scharia-Iran. Trug die US-Intervention in irgendeiner Form zu dieser Revision bei?

Sadek al-Azms: Sie schürt eher den Fundamentalismus. Aber neben Taliban und Iran war auch der Untergang Bagdads ein Trauma. Das hätte die Mutter aller Schlachten im Kampf gegen den Imperialismus werden sollen. Stattdessen ging dann dieses erschütternde Sinnbild arabischer Impotenz um die Welt: Sie waren nicht einmal fähig, Saddams Statue zu Fall zu bringen. Eine unverhofft positive Nebenwirkung der US-Invasion war aber, dass sie die Wahrheit über das Ausmaß von Saddams Terror enthüllte und sich alle fragten, wie es dazu kommen konnte. Dies spielt den Regimegegnern in anderen Ländern in die Hände: Sie können jetzt immer schön auf das Verhalten des irakischen Volkes bei Saddams Sturz verweisen: Ein unterdrücktes Volk lässt seinen Tyrannen bei der ersten Gelegenheit wie eine heiße Kartoffel fallen. Keine Reformen, keine Unterstützung.

Zugleich nötigt der US-Druck die Regime zu mehr Offenheit. Die rigorose Ablehnung von säkular-demokratischen Ideen schwindet doch, wie die neu gehegte Sympathie für die Türkei zeigt?

Sadek al-Azms: Die Türkei ist der erste islamische Staat, der die Trennung von Kirche und Staat vollzog - und sich gegenüber dem Westen behauptet. Welcher arabische Staatschef könnte wie Erdogan dem US-Präsidenten in Augenhöhe entgegnen: "Mein Parlament lehnt die Teilnahme an Deinem Krieg ab"? Diesen Status verdankt die Türkei ihrem säkular-demokratischen Modell, für das sich jetzt von der arabischen Linken bis zur fundamentalistischen Rechten alle interessieren. Moderate Islamisten wie die Bewegung Hizb al-Wasat, die für Bürgerrechte, Pluralismus, Trennung von Exekutive, Legislative und Gerichtsbarkeit usw. eintritt, imitiert de facto Erdogan. Und Ägypten spielt sich als Promoter des türkischen EU-Beitritts auf. Ich hoffe sehr, dass das türkische Modell an nichts scheitert - denn momentan ist es die konkreteste Orientierungshilfe, die die Araber haben.

1934 als Spross einer der traditionsreichsten Damaszener Familien geboren, zählt Sadek al-Azm zu den wichtigsten Philosophen der arabischen Welt. Seit seiner Emeritierung an der Universität Damaskus 1999 setzt al-Azm seine Versuche, für Zivilrechtlichkeit und Demokratie in arabischen Ländern zu werben, ex professo fort. Seine Werke bescherten ihm - je nach Standort - unter anderem den Titel "Ketzer von Damaskus" und den ERASMUS-Preis 2004.