Deutschland, dein Armutszeugnis

Zum zweiten Mal musste die Bundesregierung am Mittwoch einen Bericht über Entwicklung von Armut und Reichtum in Deutschland vorstellen. Das Papier zeigt beunruhigende Trends auf und lässt drängende Fragen offen

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Es war keine gute Woche für die SPD-Grünen-Bundesregierung. Am Dienstag bescheinigte ihr das UN-Kinderhilfswerk UNICEF eine Zunahme der Kinderarmut in Deutschland (Arme Kinder in reichen Ländern. Nur einen Tag später stellte das Bundessozialministerium den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vor. In der Presse ist seither meist nur vom "Armutsbericht" die Rede. Nicht zu Unrecht, denn der Anteil derjenigen, deren Einkommen unter der von der Europäischen Union definierten Armutsgrenze liegt, hat sich seit dem Amtsantritt der Regierung im Jahr 1998 bis 2003 von 12,1 Prozent auf 13,5 Prozent erhöht. Solche Eingeständnisse macht man in Berlin natürlich nicht aus freien Stücken. Ein Bundestagsbeschluss vom 19. Oktober 2001 hält die Bundesregierung an, den Bericht zu erstellen.

So unternahmen die Verfasser dann auch alle erdenklichen Manöver, die Gründe für die steigende Armut zu verschleiern. Als Erklärung wird etwas diffus der weltwirtschaftliche allgemein schlechte Trend als Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 oder der US-Krieg gegen den Irak genannt. Auch die Bewertung der sozialpolitischen Maßnahmen Berlins wird auf ein Minimum beschränkt: Sie setzt erst ab 2001 ein, während der gesamte Bericht den Anspruch erhebt, die Trends von 1998 bis 2003 aufzuzeigen. Die Verteilung des Privatvermögens in Deutschland von knapp acht Billionen Euro wird nur zu einem Drittel dokumentiert. Richtig bemerkte die Arbeiterwohlfahrt (AWO) schon in ihrer Reaktion auf den Entwurf des "Armutsberichtes" Mitte Januar:

Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheit sind zwar gestiegen, die durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommen aber auch. Erklärungen liefert der Bericht für dieses Phänomen nicht.

Aus der AWO-Stellungnahme

Vermieden werden im Entwurf wie in der Endfassung umfassendere Bilanzen der "Lebensstandarddefizite in Erwerbstätigenhaushalten". Die Lage der "arbeitenden Armen" nehme, so bemängelt die AWO, gerade mal eine halbe Seite ein. Im tabellarischen Anhang suche man die Trends bei dieser vom Armut bedrohten Bevölkerungsgruppe sogar vergeblich. Solche Verknappungen sind nicht zufällig, zumal soziale Organisationen eine "Amerikanisierung" des deutschen Arbeitsmarktes seit geraumer Zeit beklagten. Erwerbstätige halten sich demnach wie in den USA zunehmend mit mehreren Niedriglohnjobs über Wasser.

Bei allen Unschärfen weist der aktuelle Bericht der Bundesregierung aber noch immer beunruhigende Trends auf, die sich mit wenigen Zahlen umreißen lassen. Während die Armut zugenommen hat, entfallen auf die vermögensstärksten 20 Prozent der Haushalte inzwischen rund zwei Drittel des gesamten Nettovermögens. Die reichsten zehn Prozent besitzen sogar 47 Prozent. Im Gegensatz dazu steht die Hälfte der Haushalte, auf die gerade einmal vier Prozent des totalen Nettovermögens entfallen. Nicht überraschend kommt die Erkenntnis, dass Armut mit Arbeitslosigkeit korrespondiert. Für Erwerbslose hat das Risiko, in Armut abzurutschen von 33,1 Prozent auf 40,9 Prozent zugenommen.

Neue Kritik an Sozialkürzungen

Oppositionsparteien nutzten den Bericht zum politischen Frontalangriff auf die Regierungskoalition. So nannte der CDU-Arbeitsmarktexperte Gerald Weiß das Papier einen "gesellschaftspolitischen Offenbarungseid". Der FDP-Sozialpolitiker Heinrich Kolb bezeichnete die Bundesregierung gar als "größtes Armutsrisiko für die Menschen in Deutschland". Den Vogel im Wettbewerb populistischer Parolen schoss aber CDU-Generalsekretär Kauder mit der Feststellung ab, die Armen würden immer ärmer und die Reichen immer reicher. Ob eine Unionsgeführte Bundesregierung sich auf das Ahlener Programm berufen und diesen Trend umkehren würde, ließ Kauder allerdings ebenso offen wie er Gegenvorschläge präsentierte.

Konkrete Vorschläge und Forderungen kamen von sozialen Organisationen. So bewertete der Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) den Regierungsbericht als "erschreckendes Dokument der sozialen Zerrissenheit". Eine Erkenntnis sei es, dass sowohl die Sozialhilfe als auch das Arbeitslosengeld II zu gering bemessen seien, um zuverlässig vor Armut und Ausgrenzung zu schützen. Eine logische Folge der schwindenden staatlichen Unterstützung läge in der zunehmenden Überschuldung privater Haushalte. So sei ihre Zahl allein von 1998 bis 2002 von 2,8 auf 3,13 Millionen angestiegen.

Die Zahlen spiegeln in dramatischer Weise die wachsende Dynamik der gesellschaftlichen Spaltung wieder: In wenigen Jahren hat sich der Schuldenstand der Ärmsten von durchschnittlich 3900 Euro auf 7900 Euro gut verdoppelt.

Stellungnahme der Vorsitzende des DPWV Barbara Stolterfoht

Solche Kritik ist nicht neu. Schon in ihrer sozialpolitischen Bilanz 2004 hatten die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und die Nationale Armutskonferenz eine Kluft zwischen Rhetorik und Realpolitik auf der Bundesebene bemängelt. In ihren Anmerkungen zu dem Nationalen Aktionsplan Soziale Integration, der im Sommer 2003 von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde, kritisierten die Verbände, dass "die Agenda 2010 gerade für Arme und benachteiligte Menschen zu unzumutbaren Härten führen wird". Es sei deshalb "nicht nachzuvollziehen", wenn die Agenda von der Bundesregierung weiterhin als "umfassendes Reformprogramm zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung" dargestellt werde.

Die Arbeiterwohlfahrt weist indes auf die Verfehlungen in der Bildungspolitik hin. Der jüngste Bundesbericht belege schließlich, dass von einhundert Kindern aus armen Familien gerade einmal elf einen akademischen Abschluss erreichen. "Bildung", schlussfolgerte der AWO-Bundesgeschäftsführer Rainer Brückers, "ist zur neuen sozialen Frage geworden".