Terrorismus und Radikalisierung in den Niederlanden

Die niederländische Regierung sieht eine enorme Bedrohung in der Radikalisierung von Muslimen und schmiedet ununterbrochen neue Antiterrorismusgesetze

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Nur wenige Meter entfernt vom Tatort des Mordes an Theo van Gogh in Amsterdam entrissen am Mittag des 17. Januar dieses Jahres zwei Jugendliche marokkanischer Herkunft auf einem Motorroller einer 43-jährigen Autofahrerin die Handtasche. Als die Diebe flüchteten, legte die bestohlene Frau sofort den Rückwärtsgang ein und verfolgte die beiden mit überhöhter Geschwindigkeit. Nach etwa 50 Metern zerquetschte der Personenwagen einen der beiden Diebe an einem Baum. Kurze Zeit später versammelten sich junge marokkanische Immigranten vor Ort und skandierten "Mord!"

Am nächsten Tag wurde bekannt, dass sich der getötete Jugendliche kurz vor dem Diebstahl wegen eines bewaffneten Raubüberfalls vor Gericht hatte verantworten müssen. Dessen ungeachtet fand am nächsten Tag ein - unter der einheimischen Bevölkerung sehr umstrittener - Gedenkmarsch zu Ehren des verstorbenen Diebes statt; Teilnehmer waren ausschließlich Immigranten.

Gegen die Autofahrerin, die später dem Untersuchungsrichter erklärte, sie sei den Dieben nur nachgefahren, um sie auf die Wertlosigkeit des Inhalts ihrer Handtasche hinzuweisen, wird wegen Verdachts auf vorsätzliche Tötung ermittelt.

Selbstjustiz ­ ein Kavaliersdelikt?

Da die niederländische Strafprozessordnung keine Offizialmaxime kennt, also kein Verbrechen von Amts wegen verfolgt wird, zeigt die Öffentlichkeit jeweils großes Interesse, in welchen Fällen die Staatsanwaltschaft tatsächlich ein Strafverfahren einleitet - und reagiert in der Regel mit großer Empörung, wenn dies einen Fall von Selbstjustiz betrifft.

Die Aufklärungsrate von Verbrechen ist in den Niederlanden eine der tiefsten in Europa (im Jahr 2003 betrug sie 20 Prozent). Wer Selbstjustiz übt, kann häufig mit dem Verständnis seiner Mitbürger rechnen. So hatte zum Beispiel auch Prinz Bernhard zwei Jahre vor seinem Tod in der Öffentlichkeit scharfe Kritik an der strafrechtlichen Verfolgung zweier Verkäufer geäußert, die einen Dieb misshandelt hatten. Er vergütete den beiden verurteilten Gewalttätern sogar die Prozesskosten.

Auch als die Autolenkerin angeklagt wurde, löste das Proteste aus. Ein erster Aufschrei der Entrüstung kam am 20. Januar vom Rechtspopulisten und Parlamentarier Geert Wilders. Die strafrechtliche Verfolgung der Frau sei "eine Schande" und stelle "die Welt auf den Kopf": Gegenwärtig würden "anstelle der Täter die Opfer strafrechtlich verfolgt". Dieser Argumentation folgte später auch die Ministerin für Ausländerfragen und Integration, Rita Verdonk. Sie zeigte Verständnis für die Reaktion der Autofahrerin - von Totschlag könne keine Rede sein.

"Der Bedrohung entschlossen die Stirn bieten"

Seit dem Mord am Filmemacher und notorischen Provokateur Theo van Gogh am 2. November 2004 debattiert die niederländische Öffentlichkeit und Politik nicht so sehr über die Polarisierung zwischen Einheimischen und Immigranten, sondern - und dies umso intensiver - über die angeblich stattfindende Radikalisierung der islamischen Bevölkerung. Radikalisierung ist nun allerdings ein sehr diffuser Begriff, die niederländische Regierung schrieb nicht umsonst in ihrem Brief vom 10. November 2004 an das Parlament anlässlich des Mordes an Van Gogh:

Über das Ausmaß der Radikalisierung kann wenig mit Sicherheit ausgesagt werden. (...) Es ist kaum möglich, die Bedrohungsanalysen des Allgemeinen Nachrichten- und Sicherheitsdienstes mit statistischen Zahlen zu untermauern, um ein realistisches Bild der Bedrohung der nationalen Sicherheit aufzuzeigen.

Nichts desto trotz steht für das holländische Kabinett fest, dass die Bedrohung durch Radikalisierung enorm sei. Der in dramatischem Stil verfasste Brief, in dem zahllose Maßnahmen gegen die Radikalisierung in Aussicht gestellt werden, verkündet denn auch:

Wenn es jemals Anlass gab, gemeinsam, entschlossen und mit Verantwortungsbewusstsein einer Bedrohung die Stirn zu bieten, dann jetzt.

Vorläufig keine Verfolgung des Mörders an Van Gogh wegen Terrorismus

Der Strafprozess gegen den geständigen Mörder Van Goghs, Mohammed Bouyeri, wurde am 26. Januar 2005 eröffnet. Die Anklage beinhaltet neben dem Mord auch versuchten Mord an den Polizisten, die ihn verhaftet haben, und versuchten Totschlag an einigen Zivilpersonen, die bei der Verhaftung in die Nähe des Schusswechsels gerieten. Zudem wird Bouyeri zur Last gelegt, die Parlamentarierin Ayaan Hirsi Ali bei der Ausübung ihres politischen Mandats behindert zu haben - ein Delikt, das mit lebenslänglicher Haft bestraft werden kann, lange Zeit in Vergessenheit geraten war, seit einigen Monaten aber regelmäßig Eingang in Anklageschriften findet.

Da die Untersuchungen im Zusammenhang mit den Bouyeri ebenfalls vorgeworfenen terroristischen Verbrechen laut Staatsanwaltschaft noch einige Zeit in Anspruch nehmen werden, wird er in dieser Sache - wahrscheinlich - zu einem späteren Zeitpunkt verfolgt.

Des Weiteren sind zwölf junge Männer - der jüngste ist 17-jährig und fällt unter das Jugendstrafgesetz - angeklagt, den Mord an Van Gogh unterstützt zu haben (bei einigen von ihnen fand man einen ähnlichen Brief,wie denjenigen, den Bouyeri an Van Goghs Leiche geheftet hatte). Das Strafverfahren gegen diese angeblichen Mittäter hat am 7. Februar 2005 begonnen: Sie werden der Beteiligung an einer terroristischen Organisation verdächtigt, die die Staatsanwaltschaft in Anspielung auf den ermordeten Theo Van Gogh Arlesgruppe taufte. Sein Urgroßonkel, der Maler Vincent van Gogh, lebte von 1888 bis 1889 in dem französischen Städtchen Arles. Weiter wird den Angeklagten vorgeworfen, sie hätten auch auf die Parlamentarier Hirsi Ali und Wilders Mordanschläge geplant.Der niederländische Allgemeine Nachrichten- und Sicherheitsdienst (AIVD) gab der angeblichen Terroristengruppe einen anderen Namen: Hofstadgruppe (Hofstadgroep). Der Name "Hofstad" (Hauptstadt) begründet sich darin, dass der AIVD davon ausging, die Verdächtigen hätten Anschläge auf Regierungsgebäude in Den Haag geplant. Der AIVD überwachte die teilweise fundamentalistischen (salafistischen) Muslime meist marokkanischer Herkunft schon seit Sommer 2002. Sie besuchten damals die islamistische Al-Tawheed-Moschee in Amsterdam und zeigten laut Amtsberichten des AIVD "äußere Merkmale fortgeschrittener Radikalisierung" (Bärte und Dschellabas). Auch erkannte der AIVD Zeichen von "konspirativem Verhalten": Die jungen Männer trafen einander des öfteren in privatem Rahmen.

Zwei dieser "Terroristen", Samir Azzouz und Zakaria T., damals 16 und 17 Jahre alt, versuchten sich anfangs 2003 in einem stümperhaften Unterfangen den muslimischen Rebellen in Tschetschenien anzuschließen. Sie kamen nicht weiter als bis zur russischen Grenze. In einem Interview mit der Zeitung "Utrechts Nieuwsblad" beschrieb Azzouz später, wie er und Zakaria T. in der Nacht, bevor sie vom russischen Zoll aufgegriffen wurden, frierend einen Grenzfluss hätten überqueren müssen, dies aber nicht wagten, da sie befürchteten, das Eis würde unter ihnen brechen. Der AIVD nannte die Reise der beiden damals ein "pubertäres" Vorhaben.

Konditionstraining in Pakistan

Ein anderer Angeklagter namens Jason Walters brüstete sich später in Internet-Chatrooms trotzdem damit, dass sein Freund Azzouz in Tschetschenien Seite an Seite mit den Rebellen gekämpft habe. Walters und Zakaria T. waren im Sommer 2003 für einen Monat nach Pakistan gereist und kehrten aus unbekanntem Anlass verfrüht zurück. Nach seiner Heimkehr verkündete der damals 17-jährige Walters in Chatrooms, er habe nahe der Grenze zu Afghanistan an einer paramilitärischen Kampfausbildung teilgenommen und gelernt, mit einer Kalaschnikov in der Hand Hechtrollen zu machen und anschließend zu schießen sowie mit einer AK-47 zwischen den Beinen zu beten. Vor allem aber habe er Konditionstraining gemacht und deshalb stark abgenommen, so schrieb der korpulente Walters.

Die erste Verhaftungswelle in diesem Kreis von Terrorverdächtigen erfolgte anlässlich der Festnahme von Abdeladim Akoudad am 14. Oktober 2003 in Spanien. Er wurde von den marokkanischen Behörden verdächtigt, an der Planung der Selbstmordattentate auf ausländische Einrichtungen am 16. Mai 2003 in Casablanca beteiligt gewesen zu sein. Da erwiesen war, dass zwei Angehörige der Hofstadgruppe Kontakt zu Akoudad gehabt hatten, wurden kurz nach dessen Verhaftung fünf Männer der Gruppe in den Niederlanden festgenommen. Darunter auch Azzouz, Walters und der Syrier Redouan Al-Issar, den die niederländische Staatsanwaltschaft als Anführer des Kreises und "europäischen Osama bin Laden" einstufte. Als 43-Jähriger war Al-Issar der einzige der Gruppe, der zu jener Zeit älter war als 24. Alle Verhafteten wurden zehn Tage später mangels Beweisen wieder freigelassen.

Rund acht Monate später, kurz vor der Fußballeuropameisterschaft in Portugal, reisten drei zur Hofstadgruppe gerechnete Personen nach Porto. Aufgrund entsprechender Mitteilungen der niederländischen Staatsanwaltschaft an portugiesische Behörden wurden sie am 11. Juni 2004 in Portugal wegen Vorbereitung terroristischer Anschläge festgenommen. Mangels Beweisen wurden sie zehn Tage später freigelassen und nach Holland abgeschoben.

Kurz darauf geriet auch Azzouz wieder ins Visier der Staatsanwaltschaft: Er wurde verdächtigt, die Waffen für einen Überfall auf ein Lebensmittelgeschäft in Rotterdam geliefert zu haben. Am 30. Juni 2004 wurde er also erneut verhaftet, und als die Polizei seine Wohnung durchsuchte, fand sie einen Schalldämpfer, eine kugelsichere Weste, Ammoniak, Salzsäure, ein Fläschchen Zitronensaft und Kabel elektrischer Weihnachtsbaumkerzen. Material, das zwar nicht zur Herstellung einer Handgranate taugt, jedoch an dafür verwendbares Material erinnert.

Auch stieß die Polizei in der Wohnung des 17-Jährigen auf Pläne der niederländischen Kernzentrale Borssele, des Parlaments und des Flughafens Schiphol. Dieser Fund führte am 9. Juli 2004 zum nationalen Terroralarm, der noch heute gilt und nach dem Mord an Van Gogh verschärft wurde.

Der AIVD intensivierte in dieser Zeit die Überwachung der Gruppe. Diverse, zum Kreis gerechnete Personen wurden ausgiebig abgehört und weitere Hausdurchsuchungen vorgenommen. Auch Bouyeri wurde abgehört, obgleich er in den damaligen Amtsberichten des AIVD immer wieder als hinsichtlich der Hofstadgruppe unbedeutende Person beschrieben wurde - diese Einschätzung änderte der Sicherheitsdienst erst nach dem Mord an Van Gogh.

Dem Mord folgte eine weitere Welle von Verhaftungen. Diesmal wurden 15 Personen festgenommen (wobei man drei von ihnen später wieder freiließ). Bei einer dieser Festnahmen setzten sich die Verdächtigen, es ging um Walters und Ismail Akhnikh, massiv zur Wehr: Nach gescheiterten Versuchen der Polizei, die verbarrikadierte Eingangstür der Wohnung in Den Haag zu stürmen, warfen die beiden eine jugoslawische M91-Handgranate auf die Strasse, die bei ihrer Detonation drei überraschte Polizisten verletzte, woraufhin die Antiterroreinheit aufgeboten sowie die Evakuierung von 200 Anwohnern und die Sperrung des Luftraums über der Stadt angeordnet wurde.

Im Jahr 2003 hatte der AIVD diese Wohnung in Den Haag mit Abhörapparaturen versehen. Als die beiden jungen Männer nach ihrer Verhaftung im Oktober 2003 mangels Beweisen wieder freigelassen wurden, sorgte der AIVD dafür, dass sie sich just dort einquartierten, und überwachte sie anschließend permanent. Dass nun der AIVD die völlig überraschten Polizisten nicht über das mögliche Vorhandensein von Waffen informiert hatte, führte zu starken Spannungen zwischen dem für die Sicherheit der Polizisten verantwortlichen Bürgermeister Wim Deetman von Den Haag und dem Innenminister Johan Remkes.

Die seit drei Jahren laufenden Ermittlungen gegen die Hofstadgruppe resultierten in einem gigantischen Strafdossier. Allein die in der Wohnung in Den Haag aufgenommenen Gespräche haben eine Dauer von mehr als 20 Stunden, und die bei den diversen Angeklagten konfiszierten digitalen Datenbestände umfassen rund 1000 Gigabyte (umgerechnet etwas mehr als zwei Millionen Buchseiten Text). Gleichwohl geben sich die zahlreichen Rechtsanwälte der Angeklagten gelassen: Es gebe keinerlei Beweise für die Existenz einer terroristischen Organisation oder für eine Beteiligung an der Ermordung Van Goghs. Und tatsächlich legen die bisherigen Ermittlungserfolge der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Hofstadgruppe die Vermutung nahe, dass die Untersuchungen erneut zu einem peinlichen Fiasko führen.

Flut neuer Antiterrorismusgesetze

Die ersten niederländischen Antiterrorismusgesetze traten im August 2004 in Kraft. Es ging dabei in erster Linie um Implementierungen des bindenden Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung der Europäischen Union vom 7. Dezember 2001. Unter anderem müssen alle EU-Länder die Definition terroristischer Straftatbestände (die nun weitgehend korrespondiert mit jener des US-amerikanischen "Patriot Act") in ihren Gesetzen angleichen beziehungsweise einführen.

Laut neuer Definition ist ein terroristischer Straftatbestand eine Tat, die mit dem Ziel begangen wird, "die Bevölkerung auf schwer wiegende Weise einzuschüchtern oder öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören."

Den Mitgliedstaaten steht es frei, diese Definition zu ergänzen und auszuweiten, wovon die niederländische Regierung prompt Gebrauch machte, indem sie festlegte, dass als terroristische Straftatbestände auch Vergehen gelten, die lediglich einen Teil der Bevölkerung einschüchtern und dies nicht auf schwerwiegende Weise geschehen muss. Diese ausgeweitete Definition hat zur Folge, dass in den Niederlanden nun auch Vergehen von Öko- und Tierschutzaktivisten oder Globalisierungsgegnern als Terrorismus gelten können.Nachdem es in diversen Prozessen gegen Terrorverdächtige stets zu Freisprüchen gekommen war, hielt es die niederländische Regierung am 20. August 2003 - und damit noch während der parlamentarischen Behandlung dieses ersten Paketes der neuen Antiterrorismusgesetze - zudem für nötig, zwei Gesetzesentwürfe anzufügen, die nicht auf den Rahmenbeschluss der Europäischen Union zurückzuführen sind. Dadurch wurde vom gebräuchlichen Prozedere abweichend der "Raad van State" übersprungen, der solche Begehren als wichtigste Instanz zu prüfen und darüber zu beraten hat. Dieses Vorgehen der Regierung ist befremdlich, zumal es bei beiden Entwürfen um sehr tiefgreifende Gesetzesänderungen ging und man gemeinhin davon ausgehen sollte, dass Beratung und Kontrolle in solchen Fällen besonders wertvoll sind.

Trotzdem und auch ungeachtet starker Vorbehalte und unumwundener Kritik etlicher Experten wie etwa des Vorsitzenden der Niederländischen Juristenvereinigung (NJV), Jan Watse Fokkens, oder des Politologen Herman van Gunsteren, stimmten das Parlament und der Senat den Gesetzen in vollem Umfang zu. Das eine der überstürzt angefügten Gesetze stellt das Werben für den bewaffneten Kampf unter Strafe, das andere Konspiration mit terroristischer Absicht.

Ersteres ist unter anderem kontrovers, weil es für die dem Gesetz zugrundeliegende Haltung, die Rekrutierung für den Dschihad (darauf zielt das Gesetz laut Regierung) stelle in den Niederlanden eine ungemein große Bedrohung dar, keinerlei Anzeichen gibt - wie die Regierung selbst auch feststellte. Überdies wird scharf kritisiert, dass die Formulierung "Werben für den bewaffneten Kampf" derart vage ist, dass darunter beispielsweise auch das Werben für den bewaffneten Kampf der Amerikaner im Irak fallen könnte. Was wiederum der Regierungspolitik zuwider läuft - die Niederlande haben den Krieg im Irak nicht nur nicht verurteilt, sondern vielmehr an ihm teilgenommen. Die unklare Formulierung führt dazu, dass die Politik zu klären hat, welches Werben nunmehr strafbar ist. Verschiedene Regierungen werden diese Frage verschieden beantworten, und es ist auch sehr fraglich, ob eine dermaßen unklar formulierte Strafrechtsnorm dem Anspruch des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebotes Folge leisten kann.

Große Schritte Richtung Gesinnungsstrafrecht

Das Verbot der Verschwörung mit terroristischer Absicht wiederum, das laut dem Justizminister angelehnt sein soll an das angelsächsische Verbot von "conspiracy" und auch an § 30 des deutschen StGB, ist laut Experten fragwürdig, weil der betreffende Tatbestand schon vorher strafbar war.

Gleichzeitig wird von rechtswissenschaftlicher Seite (u.a. Ybo Buruma, Harm van der Wilt und Britta Böhler bei ihrer Befragung am 10. Dezember 2003 im Parlament) darauf hingewiesen, dass es laut neuem Gesetz - anders als beim angelsächsischen Pendant - nicht erforderlich ist, jemandem den Ausführungsbeginn einer geplanten terroristischen Tat nachzuweisen, um ihn strafrechtlich belangen zu können. So kann schon ein witzig gemeintes Gespräch in einer niederländischen Kneipe über einen angeblich geplanten Anschlag unter die strafbaren Handlungen fallen.

Zudem ist anders als im entsprechenden deutschen Gesetz im niederländischen die Bemerkung in der Kneipe über einen beabsichtigten Anschlag auch strafbar, wenn sie ernst gemeint gewesen wäre, später aber aus eigener Initiative von der Ausführung des Anschlags abgesehen würde Unterschiede, die der Justizminister in seinem Vergleich mit angelsächsischem und deutschem Recht offensichtlich für irrelevant hielt.

Geht es nach einem weiteren, noch nicht abgesegneten Vorschlag der Regierung, soll der allzu unbedacht scherzende Kneipenbesucher künftig sogar in Untersuchungshaft genommen werden können - dies im Gegensatz zur heutigen Regelung, die Untersuchungshaft nur in Fällen von dringendem Tatverdacht bei besonders schweren Delikten erlaubt.

Die Regierung schlägt zudem vor, dass die Untersuchungshaft in solchen Fällen auch verlängert werden könnte - um zusätzliche zwei Jahre. Eine Person, die in der Kneipe von Anschlagsplänen plaudert, muss unter der neuen Strafprozessordnung folglich damit rechnen, dass sie wegen ihrer Bemerkungen die nächsten 103 Tage und zwei Jahre in Untersuchungshaft verbringt.

In die Kategorie der Gesetzgebungen, die fundamentale Freiheiten in Frage stellen und verschiedenen Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zuwiderlaufen, fällt auch der von der parlamentarischen Mehrheit unterstützte Gesetzesentwurf, nach dem die ideologische Verteidigung oder Rechtfertigung (Apologie) von terroristischen Delikten mit Strafe zu belegen ist - etwa mit einem verwaltungsrechtlichen Berufs- oder Gebietsverbot.

Ein weiteres fragwürdiges Begehren, das im Parlament breite Unterstützung findet, ist das Vorhaben, Personen, die beispielsweise oft islamistische Websites besuchen, verwaltungsrechtlich zu verpflichten, sich regelmäßig bei der zuständigen Polizeistation zu einer Unterredung einzufinden.

Es sind diese beachtlichen Schritte in Richtung eines Gesinnungsstrafrechts, die angesehene niederländische Rechtswissenschaftler wie Van der Wilt oder Buruma dazu veranlassten, die neuen Gesetze "unverständlich" zu nennen oder von "dem Rechtsstaat zuwiderlaufenden Ausgangspunkten" zu sprechen.

Angesichts der breiten Empörung von Medien und Politik über die Freisprüche in Terrorismusprozessen legte die Regierung dem Parlament auch einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Beweisrechts in Strafverfahren vor: Künftig sollen in Strafprozessen gegen Terrorverdächtige auch geheime Amtsberichte und anonyme Zeugenberichte des AIVD als Beweismittel zugelassen werden - ohne dass allerdings die Verteidigung diese Zeugen einvernehmen oder die belastenden Protokolle einsehen kann. Ein Umstand, der nicht nur entfernt an einen Roman von Kafka erinnert. So stieß denn auch dieses Vorhaben auf großen Widerstand angesehener Rechtswissenschaftler wie Ties Prakken oder Geert Corstens, früherer Hochschullehrer für Strafprozessrecht und heute Richter des Berfungsgerichts (Hoge Raad).

Auf ein weiteres der zahllosen neuen Gesetze reagierte der Niederländische Anwaltsverband (NOVA) kürzlich wie folgt:

(...) Weil diese Befugnisse auch eingesetzt werden könnten, ohne dass von auch nur dem geringsten Zusammenhang mit einem terroristischen Verbrechen die Rede ist, ist es durch die vorliegende Bestimmung möglich, dass auch gegen Bürger ermittelt werden kann, gegen die keinerlei Verdächtigung oder auch nur das geringste Anzeichen besteht. Die staatliche Anwendung von Befugnissen, die Eingriffe in den persönlichen Lebensbereich von Bürgern erlaubt, ohne dass dies durch ein objektiv nachweisbares Verhalten dieser Bürger selbst gerechtfertigt wäre, ist als unzulässig einzustufen.

Auch dies könnte durchaus Assoziationen zu düsteren Zukunftsvisionen der Literaturgeschichte wecken: Womöglich erübrigt sich künftig die Lektüre von Orwell oder Huxley zugunsten einer Auseinandersetzung mit der niederländischen Realität. Ähnliches dürfte wohl die prominente Anwältin Britta Böhler gemeint haben, als sie kürzlich in der Zeitung "Volkskrant" schrieb, der Regisseur des Filmes "Minority Report", Steven Spielberg, könne noch einiges von der niederländischen Regierung lernen.

Zieht man in Betracht, dass mit diesen neuen Gesetzen vorbehaltlos alle Personen in den Niederlanden im Verdacht stehen, potenzielle Terroristen zu sein, wird verständlich, warum Regierung und Parlament zu derart drastischen Maßnahmen wie ebendiesen Gesetzen greifen. In einem Land voller Radikaler und Terroristen wird vieles legitim - offenbar auch, dass der Gesetzgeber selbst radikal wird.

Aus dieser Perspektive wird auch verständlich, dass der Direktor des wissenschaftlichen Büros (Telderstichting) der starken und alteingesessenen liberalen Regierungspartei VVD, Patrick van Schie, Ende Februar 2005 ein Plädoyer für die Einführung der Todesstrafe bei "besonders grausamen Morden" und terroristischen Verbrechen gehalten hat.

Mit Blick auf diese Hintergründe erklärt es sich wohl auch, warum die niederländische Regierung ihre Maßnahmen nicht Antiterrorismus-, sondern Terrorismus-Maßnahmen nennt.