Das Tafelsilber der Silberlocken

Die Chancen des demographischen Wandels - Teil I

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Den demographischen Wandel als Innovationsquelle für Gesellschaft und Wirtschaft entdecken: Das fordern Wissenschaftler und Politiker schon seit längerem. Hier liegt ein großes Potential an Chancen, von denen die meisten noch auf ihre Nutzung warten. Zwei von einander unabhängige Ereignisse haben die Brisanz des Themas wieder einmal in den Blickpunkt gerückt: Zum einen die EU-Konferenz Silver Economy in Europe 2005, zum anderen der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom März 2005, der auch die Frage der Generationengerechtigkeit tangiert.

Dabei kann es so kontrovers gehen: Gestern noch mitleidig mit Seniorentellern abgespeist, heute verbal zur Silver Generation geadelt und sofort schon zur Abgabe des Tafelsilbers gedrängt. Nicht nur das Aussehen, auch das Ansehen der Über-Fünfzig- und Über-Sechzigjährigen hat sich längst zu ändern begonnen. Doch ist das nicht einer kultischen Verehrung des Alters, wie einst im Reich der Mitte, geschuldet. Der Grund ist vielmehr - es reizt zu sagen: Wie könnte es anders sein? - bei den Silberlingen der Silberlocken zu finden.

Die Damen und Herren jenseits der Fünfzig verfügen über ziemlich viel Geld, jedenfalls ein sehr großer Teil von ihnen. Im Durchschnitt soll beispielsweise nordrhein-westfälischen Senioren ein monatlicher Betrag von 710 Euro zur freien Verfügung stehen. Und der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom März 2005 zeigt deutlich, dass sich der Wohlstand in Deutschland zugunsten der Älteren verschoben hat. Das lässt Ideen sprudeln. Und auch dumm formulierte, aber keineswegs unberechtigte Forderungen laut werden wie die des Vorsitzenden der Jungliberalen, Jan Dittrich, der am 2. März 2005 die Altvorderen ankrächzte: Alte, gebt den Löffel und deshalb am 3. März zurücktreten musste.

Schon länger hat sich zunächst bei Wissenschaftlern, dann nolens volens auch bei Politikern die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Altern unserer Gesellschaft auf absehbare Zeit ohnehin nicht aufzuhalten ist, ebenso wenig wie beispielsweise die Globalisierung, und dass ein Bejammern dieser Zustände absolut nicht weiterführt. Es kann nur noch um die bestmögliche Gestaltung des Wandels gehen. Dafür reicht es aber nicht, ältere und alte Menschen sorgenvoll als zunehmende Belastung der Sozialsysteme zu beargwöhnen. Soziologen, Ingenieure, Politiker und Unternehmer haben denn auch längst damit begonnen, die in der breiten Öffentlichkeit noch weitgehend unbeachteten und unterschätzten Potentiale der Entwicklung aufzuspüren und als Innovationsquelle für Wirtschaft und Gesellschaft zu kommunizieren.

So plädierte beispielsweise Prof. Paul Baltes vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung im Oktober 2004 auf einer Tagung der Hans-Martin-Schleyer-Stiftung in Köln für eine tief greifende Reform:

Als Ausgangslage (einer Reform) dient die kulturhistorische Einsicht: Defizite bei Individuen und in gesellschaftlichen Strukturen sind Quellen des Fortschritts. ... Die Lebensmotivation vieler älterer Menschen schließt das Wohlergehen künftiger Generationen ein. Alt für Jung ist deshalb ein politisch machbares Motto.

Und Prof. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, sekundierte mit seinen Ausführungen:

Entscheidend wird es aber sein, den einzigen Rohstoff in Deutschland zu pflegen. Wir brauchen eine bessere Ausbildung in Schulen und Hochschulen. Lebenslanges Lernen, d.h. bis ins Alter, darf nicht zur Floskel verkommen, sondern muss zur Selbstverständlichkeit werden. Nur so können wir dem drohenden Fachkräftemangel entgehen. ... Wenn es in Zukunft Probleme gibt, ist das nicht eine Folge der veränderten Altersstruktur in der Gesellschaft, sondern der mangelnden Fähigkeit der Politik, sich hierauf einzustellen.

So richtig diese Botschaften auch sind, wirklich neu sind sie keineswegs, wie beispielsweise die Forschungen und Veröffentlichungen des Deutschen Zentrums für Altersforschung an der Uni Heidelberg vielfach belegen. Allein, so recht angenommen worden sind sie in weiten Teilen der Bevölkerung bislang dennoch nicht. Anders im nordrhein-westfälischen Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie, dort hatte man ähnliches schon vor mehreren Jahren beherzigt und gemäß dem Motto, dass Probleme dazu da sind, gelöst zu werden, sich Ende der 1990er Jahre an die Arbeit gemacht. 2000 konstituierte sich die Arbeitsgruppe Seniorenwirtschaft, die dann 2002 als Initiative Seniorenwirtschaft weitergeführt wurde und sich vorrangig als Vermittler von "Hintergrundinformationen über die Wirtschaftskraft Alter und Bevölkerungsprognosen" versteht. In ihr wirken neben der Landesregierung auch Wirtschaft, Gewerkschaften, Handwerk und Wissenschaft mit. Mit dieser Einrichtung und den dadurch angestoßenen Projekten sowie bereits vorzeigbaren Ergebnissen glaubt die Landesregierung von NRW, einen Entwicklungsvorsprung von zwei bis drei Jahre sowohl im bundesweiten als auch im europäischen Vergleich zu haben.

Als eine der ersten Maßnahmen wurde eine Studie und Repräsentativumfrage in Auftrag gegeben, um überhaupt zuverlässige Daten über Lebenssituationen und finanziellen Hintergrund der entsprechenden Bevölkerungsgruppe, also der Über-Fünfzigjährigen, zu erhalten. Und da wurde schnell klar, dass sich die Sache finanziell auf jeden Fall lohnt.

Chance für Wirtschaft und Gesellschaft

Dass sich das Phänomen "Alternde Gesellschaft" keineswegs auf Deutschland beschränkt, verdeutlichen die Prognosen der Vereinten Nationen. Demnach wird die Zahl der über 65 Jahre alten Menschen bis zum Jahre 2050 von jetzt 600 Millionen auf 2 Milliarden ansteigen, und von diesem Trend werden sogar die Entwicklungsländer betroffen sein. Vor allem aber unterliegen mehr oder minder alle europäischen Länder dieser Entwicklung, auch und gerade südeuropäische Staaten wie Spanien, was vielfach auf Anhieb nicht vermutet wird.

Da lag bei der nordrhein-westfälischen Regierung die Überlegung nicht mehr weit, die eigene Initiative auf die europäische Ebene auszuweiten, um einen Erfahrungsaustausch zu forcieren und den eigenen Vorsprung möglichst Gewinn bringend auf dem EU-Markt zu positionieren. Denn Europa sieht sich auch auf diesem Gebiet in Konkurrenz mit anderen Industrieregionen der Welt, insbesondere mit Japan und den USA. Tenor:

Wer die Alterung der Gesellschaft als Chance für Wirtschaft und Gesellschaft nutzt, wird in der globalisierten Weltwirtschaft einen Standortvorteil haben.

Aufgrund der nordrhein-westfälischen Initiative wurde ein diesbezügliches Netzwerk europäischer Regionen ins Leben gerufen und eine erste EU-Konferenz zu diesem Thema in die Wege geleitet, die dann am 17. und 18. Februar 2005 in Bonn stattfand. An dem Netzwerk beteiligten sich zum Zeitpunkt der Konferenz außer Nordrhein-Westfalen (Deutschland) die Regionen Andalusien (Spanien), Burgenland (Österreich), Extremadura (Spanien), Gelderland (Niederlande), Limburg (Niederlande), Mid-East Region (Irland), Midland Region (Irland), Scotland (Vereinigtes Königreich) und West-Midlands (Vereinigtes Königreich). Doch waren auf der Konferenz viele Vertreter weiterer EU-Regionen anwesend, von denen etliche, beispielsweise Heraklion (Griechenland), Piemonte (Italien), Sachsen-Anhalt (Deutschland) oder Uusimaa (Finnland), großes Interesse an einer Netzwerk-Partnerschaft zeigten.

Wie die unverkennbar positive Resonanz folgern lässt, war die Zeit mehr als reif für eine derartige Vernetzung, die durch die viel beschworenen Synergieeffekte eine effizientere Handhabung des demographischen Wandels gewähren soll, was sich unter anderem in der zum Abschluss verabschiedeten Bonner Erklärung zur Seniorenwirtschaft niederschlägt.

Als vorrangige Ziele des Netzwerks definierte die Konferenz,

  1. die Lebensqualität der älteren Bevölkerung zu verbessern,
  2. . wirtschaftliche Aktivitäten mit dem Ziel eines Wachstums und der Schaffung von Beschäftigung und Arbeitsplätzen zu stimulieren und
  3. . die Einbeziehung und den Zusammenhalt der europäischen Regionen zu unterstützen.

Konkret geht es dabei vor allem um Folgendes:

  1. die Unterstützung für regionale Unternehmen und Dienstanbieter im Seniorenwirtschafts-Sektor;
  2. die Initiierung und Stimulierung eines Erfahrungsaustauschs über die Schaffung regionaler Seniorenwirtschaft-Netzwerke;
  3. die Schaffung eines europaweiten Wissenspools über die damit einhergehenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Themen;
  4. die Unterstützung der Netzwerk-Mitglieder in den regionalen Entwicklungsinitiativen und beim globalen Marketing bezogen auf Produkte, Dienste und Dienstleistungen der Seniorenwirtschaft;
  5. die Förderung von politischen Initiativen auf europäischer Ebene, Erarbeitung eines Programms zur Schaffung einer sehr wettbewerbsfähigen europäischen Seniorenwirtschaft und Sicherstellung einer Unterstützung auf allen politischen Ebenen: regional, national und europäisch;
  6. die Schaffung eines allgemeinen stärkeren Bewusstseins über die Chancen einer alternden Gesellschaft.

Letztendlich heißt das, dass im Wesentlichen genau die Punkte forciert gefördert werden sollen, um die es in der neuesten nordrhein-westfälische Studie geht, die die "Ökonomischen Ressourcen älterer Menschen - regionalwirtschaftliche und fiskalische Effekte einer Förderung der Seniorenwirtschaft" untersucht. Im Klartext also: Es geht um die Nutzung der ökonomischen Ressourcen der älteren Menschen, und zwar nicht irgendwann in der Zukunft, sondern möglichst sofort und schnell, um aktuelle gesellschaftliche und politische Prozesse auf den gewünschten Weg zu bringen.

Und damit ist die Überschrift der Pressemitteilung eines Jan Dittrich zwar nach wie vor mehr als tumb formuliert und zeugt darüber hinaus von miserablen Deutschkenntnissen, im Inhalt finden sich seine Äußerungen aber gar nicht so weit entfernt von den Bemühungen der deutschen und europäischen "Seniorenwirtschaft" wieder.

Das Tafelsilber der Silberlocken
Teil II - Seniorenwirtschaft und Generationengerechtigkeit