“Die Luft zum Atmen wegklagen“

Update: Sauerstoff, Loops und Misstöne: Neue Abmahnwelle eines Mobilfunknetzes trifft Musiker und Medizinfirmen

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Wer eine eigene Website hat, lebt gefährlich: Von einem Impressum ohne ordnungsgemäß angegebene Schuhgröße über unflätige Dinge im Gästebuch, Links zu illegal gewordener Software oder urheberrechtlich geschützte Texte, Musik und Grafiken bis zum Markenrecht droht jede Menge Ärger. Das Markenrecht kommt am teuersten; gegen Übergriffe half es nur, ab 300 Euro und mit langer Wartezeit eine eigene Marke anzumelden. Nun ist auch das vorbei: Wozu noch eine unliebsame Marke löschen, wenn man auch auf 100.000 Euro abmahnen kann?

„Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“ war einer der bekanntesten Sätze, der einst zur Abmahnung von 0179.com fiel: Obwohl die von der RegTP dem Mobilfunkbetreiber Viag Interkom zugeteilte Vorwahl 0179 ebenso wenig eine Marke darstellt wie 089 für München oder 0190 für heiße Gespräche der etwas teureren Art, wurde der Student Stefan Scheller verklagt – ein großer Handyfan, der Tipps zum Funknetz der Viag Interkom, bei der er selbst Kunde war, auf seiner Website www.0179.com veröffentlichte.

Nun offline: Die Soundplattform Loop Session

Die horrenden Rechtskosten sollten zwar später dankenswerterweise von einer anderen Telefonfirma, 01051.com, übernommen werden, die sich im Gegensatz zu Viag Interkom tatsächlich nach der ihr zugeteilten Vorwahl benannt hatte und so auch eine kleine Mitschuld an der Härte des Vorfalls sah. Schließlich gab Viag Interkom auch nach und erließ Stefan Scheller die Kosten, wenn er die Domain rausrückte. Viag-Interkom-Pressesprecher Michael Rebstock versprach, zukünftig nicht mehr mit dem Holzhammer vorzugehen.

Doch der Student, der 0179.com und andere Websites liebevoll gepflegt hatte, löschte vor Angst, noch mehr Ärger zu bekommen, alle seine Seiten, die auch von Physik und anderen interessanten Themen handelten. Viele Webseiten über Mobilfunk haben diese Aktion deshalb bis heute nicht vergessen und vor etwa einem Jahr war in einer etwas launigeren CeBIT-Berichterstattung zu lesen:

Der Mobilfunkanbieter, der früher als Vieh AG Rinderkom verspottet wurde (VIAG Interkom), hat sich mittlerweile in O2 umbenannt – Sauerstoff. Das nervt nicht nur den Berichterstatter beim Tippen, wenn die tiefgestellte 2 zu schreiben ist, sondern verwirrt auch die Kunden doppelt, da einerseits viele hier an den Konkurrenten Mannesmann D2 privat denken, der aber inzwischen Vodaphone heißt, andererseits die Werbung eher Wasser – H20 – als Sauerstoff zeigt. Und dann ist Internetusern noch die Abmahnfreude des Konzerns in schlechter Erinnerung, die sich nun allerdings nicht mehr gegen Websites von Handyfans (www.0179.com), sondern gegen Händler für Sauerstoffflaschen und Schweißbedarf richten dürfte.

Doch kein Witz ist zu blöd, um nicht von der Realität des Markenrechts eingeholt zu werden: zuviel Sauerstoff steigt zu Kopf. Inzwischen geht O2 – deren Spezialschreibweise wir uns im Folgenden nicht weiter antun – tatsächlich juristisch gegen Hersteller von sauerstoffangereichertem Wasser oder Beatmungsgeräten vor.

Für medizinische Geräte ist das chemische Symbol für Sauerstoff zwar mittlerweile wieder erlaubt, doch hat der Mobilfunknetzbetreiber ja noch andere Marken. So heißen die Prepaid-Karten „Loop“. Das ist das englische Wort für „Schleife“ und infolgedessen unter anderem in Musikerkreisen ein Fachbegriff. Allgemeinbegriffe kann man nur außerhalb ihres eingeführten Verwendungszwecks als Marke anmelden, so lässt sich „Apple“ zwar für Platten oder Computer als Marke schützen, jedoch nicht für Obst.

Doch O2 hat es inzwischen durchaus auch auf Musik abgesehen:

Auch WLAN-Hotspots bietet O2 an und nun steigt man auch noch ins Musikgeschäft ein: Während sich die Plattenbranche noch nicht über ein MP3-Downloadportal und Abspiel- und Kopierverhinderungsmaßnahmen einig ist, setzt O2 hier bereits auf den moderneren AAC-Algorithmus, wie er auch bei der digitalen Mittel- und Kurzwelle DRM (Digital Radio Mondiale) zu finden ist. DRM bietet auch O2: Heruntergeladene Musikstücke sind zwar beliebig kopier- und auch brennbar, sofern man eine AAC-taugliche Software hat, tragen aber immer eine Kennung des ursprünglichen Käufers unsichtbar in sich.

Der Vorteil des AAC-Verfahrens von Coding Technologies: Statt der üblichen 3 bis 4 MB einer MP3-Datei kommt AAC mit nur einem MB bei gleicher Tonqualität aus, was den ausschließlich per Mobiltelefon vorgesehenen Download erleichtern soll. Die Lieblingsstücke soll der Käufer dann auch weiterempfehlen können, wobei er aber seine DRM-Lizenz nicht weitergibt und der mit einer solchen Empfehlung Beglückte das Stück folglich nochmals kaufen muss. Immerhin will das O2 Musikportal aber mit gut 20.000 Songs starten, die ab einem Euro kosten. Ein transportabler AAC-Player, der 60 Songs speichern kann und mit Speicherkarten erweitert werden kann, kostet 100 Euro.

Ein CeBIT-Bericht von 2004

Dies musste nun Jörn Daberkow erfahren, der unter dem Namen „Loopsession“ eine Soundplattform mit downloadbaren Loops und Samples sowie ein als PDF downloadbares Magazin für Musiker gegründet hatte. Eigentlich hatte er alles richtig gemacht – obwohl dies für Zeitschriften gar nicht notwendig ist, weil bereits der Werktitel eine Schutzfunktion erreicht, hatte er auch noch zusätzlich über die Anwaltskanzlei Becker Kurig Straus am 23. Juni 2004 die Marke „Loop Session“ beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) beantragt und am 12. Januar 2005 eingetragen bekommen. Erst dann traute er sich, sein PDF-Magazin zu starten.

Die fast an O2 übergegangene deutsche Wort/Bild-Marke 30436339.1

Die dreimonatige Widerspruchsfrist läuft noch, O2 hätte also einfach beim DPMA Einspruch erheben können. Doch der Mobilfunkhersteller findet den Begriff „Loop Session“ durchaus „hip“, so dessen Hausanwalt Alexander Witscher zu Jörn Daberkow und wollte deshalb die Marke keinesfalls durch Löschen töten, sondern lebend übereignet haben. Also ließ er Daberkow am 8. März mit einem Streitwert von 100.000 Euro abmahnen – bis zum 15. März war die Marke zu übertragen. Dafür würde O2 dann von den ca. 1900 Euro Abmahnkosten aus Kulanz großzügig 400 Euro übernehmen.

Daberkow gab angesichts der kurzen Frist nach. Er ist nun seine Marke los, hat neben den 1500 Euro für die O2-Anwälte weitere Kosten am Hals, weil er bereits erstellte CDs nicht mehr verwenden darf und hat die Idee, wegen Arbeitslosigkeit selbstständig zu werden, wie viele vor ihm teuer bezahlen müssen. Stattdessen sammelt er nun dafür, die fatale O2-Marke „Loop“ löschen zu lassen, denn immerhin werden von O2 pro Tag acht Abmahnungen verschickt, wie ihm der O2-Hausanwalt stolz berichtete – so viele, dass er dies gar nicht selbst machen könne, sondern einer externen Kanzlei geben müsse. Die so entstehenden Rechnungen bekommen die Abgemahnten.

Böse Markenpiraten gibt es auch im Supermarkt: Kelloggs dürfte mit O2 Ärger bekommen, denn deren deutsche Marke 30069384.2 „Loop“ gilt auch für die Lebensmittelklasse 31 und darin explizit für „Mehle und Getreidepräparate, Brot, feine Backwaren und Konditorwaren, Speiseeis, Honig, Melassesirup, Hefe, Backpulver“. (Bild: W.D.Roth)

Somit ist nun auch der bis zu drei Jahre dauernde und beim Hinzuziehen einer Anwaltskanzlei teure Weg der Markenanmeldung untauglich, um dem Risiko von Abmahnungen mit sechsstelligen Streitwerten und rabiat kurzen Fristen zu entgehen. Dabei sind immer wieder Musikfans die Opfer – auch das Musikportal loopnet.de und „Loopmatic“, eine seit 1997 existierende Sampler-CD von Überschall mit – erraten – Loops darauf, wurden verboten. In letzterem Fall mussten dann auch alle Einleger der anderen CDs von Überschall neu gedruckt und ausgetauscht werden und es wurden von Viag Interkom gut 8000 Euro Anwaltskosten in Rechnung gestellt, da der Mobilfunkanbieter sich noch einen zweiten Anwalt hinzugezogen hatte.

Als Stellungnahme von O2 zu den Loop-Abmahnungen erhielt Telepolis übrigens lediglich die bereits bekannte und hier wenig dienliche, da gar nicht erfragte Auskunft:

Die Weinmann GmbH+Co.KG und die O2 (Germany) GmbH & Co. OHG einigten sich über die Verwendung des chemischen Zeichens „O2“ für Sauerstoff. Demzufolge setzt der Münchener Mobilfunkanbieter das Markenzeichen ausschließlich in der Telekommunikation ein und der Hamburger Medizinhersteller wie bisher üblich im Gebiet der Medizin/Gesundheit. Beide Unternehmen begrüßen diese Abgrenzung und unterstreichen damit, dass Markenschutz in angemessenen Schutzbereichen ein notwendiges Instrument zur Verhinderung von Nachahmern darstellt und zur verbraucherfreundlichen Markttransparenz beiträgt. Dem vorausgegangen war eine Abmahnung des Mobilfunkanbieters an den Medizinhersteller, der nun sein neues Sauerstoffgerät für die Behandlung von Heimbeatmungspatienten mit dem Markennamen „Venti-O2“ bezeichnen kann.

Stefan Zuber, Pressechef O2 Germany

Update: "Einigung"

Wie Montag den 21. März bekannt wurde, einigten sich Freitag nachmittag in einer Telefonkonferenz Pressesprecher Stefan Zuber und Hausanwalt Alexander Witscher von O2 mit Jörn Daberkow und seinem Netzwerkpartner, dem Journalisten Christian Wirsig:

Die Firma O2 Germany und ich haben sich einvernehmlich dahingehend geeinigt, dass ich in Zukunft auf die Verwendung des Begriffs LoopSession in meinem Geschäftsmodell verzichten werde. O2 Germany verzichtet im Gegenzug auf sämtliche, durch diese Abmahnung entstandenen Kosten und bedauert, dass es zu dieser Auseinandersetzung kommen musste.

Offizieller Wortlaut der gemeinsamen Verlautbarung von O2 und Jörn Daberkow

Die Abmahnrechnung von 1900 oder 1500 Euro ist damit also vom Tisch. Doch für Jörn Daberkow ist der durch die Arbeitslosigkeit erzwungene Traum von der Selbstständigkeit dennoch vorbei: Das PDF-Magazin wird es zwar unter dem eher braven Namen "Desktopmagazin" weiter geben, für die ehemalige Soundplattform Loopsession.de sieht es dagegen schlecht aus: Es wäre ein neuer Name und eine neue Logo-Grafik zu finden gewesen, da auch die bisherige Grafik mit der Soundwelle rechtskräftig in den Besitz von O2 übergegangen wäre und von Jörn Daberkow dann außer zum Abverkauf vorhandener CDs nicht mehr benutzt werden darf. Er hat deshalb seine Marke schnell gelöscht, um zumindest die Rechte an der Logo-Grafik zu behalten. O2 wird die Marke zwar neu anmelden, kann dann aber nicht mehr die Grafik von Daberkow verwenden. Das Provisorium "Lxxxsession" ist als Name auf Dauer wiederum ungeeignet – es klingt zu sehr nach einem Pornodreh.

Bei einem Relaunch kommen viele Hundert Euro zusammen, die ich nach 8 Monaten Arbeitslosigkeit, 6 Monaten Förderung, und dem Aufbrauchen aller meiner Ersparnisse nicht mehr habe. Allein meine Frau hat mir über 4000 Euro geliehen. Jetzt bekomme ich noch 4 Monate Arbeitslosengeld und das war's. Meine Agentur würde mir bei den Kosten schon entgegen kommen, aber das ist ja lange nicht alles. Ich muss die Webseiten komplett – für jeden einzelnen Artikel – wieder mit dem Shopsystem „dahinter“ verlinken – das ist mit knapp 1000 Artikeln wochenlange Arbeit, während der ich kein Geld verdiene. Zudem müsste ich

  1. neue CD-Rohlinge mit einem neuen Logo erstellen
  2. alle Verträge neu schreiben und hoffen, dass alle unterschreiben
  3. neue Werbung machen (und bezahlen!)
  4. neue Logos erstellen lassen (und bezahlen!)
  5. eine neue Domain anmelden und nochmal einen „coolen“ Namen finden
  6. dafür sorgen, dass die neue Domain bekannt wird und alle ihre Links ändern
  7. neue Rechtsberatung und Recherche in Anspruch nehmen, ob irgendjemandes Marke verletzt werden könnte
  8. jede Menge Metas und Keywords manuell aus den Webseiten herausprogrammieren

Das lohnt sich einfach nicht, ich kann nicht nochmal von vorne anfangen, weil meine finanziellen Möglichkeiten restlos verbraucht sind. Eine neue Markenanmeldung wird es auch nicht mehr geben. Was nützt mir die Marke, wenn einfach nur eine Firma mit genügend Anwälten kommen muss und mir die (auf meine Kosten) wegnehmen kann?

Stattdessen werde ich versuchen, wieder als Angestellter unterzukommen, was mit 44 Jahren nicht so einfach ist. Ich habe zuvor als Sachbearbeiter in der Handwerkskammer Hamburg gearbeitet und eine Umschulung zum Bürokaufmann hinter mir. Ich würde mit meinen jetzigen Erfahrungen auch Pressetexte oder andere geschäftliche Dinge schreiben, Shopsysteme bestücken oder Webseiten pflegen (nicht erstellen).

Mein Standort ist Hamburg und ich bin zeitlich ungebunden. Teilzeit wäre ideal und wechselnde Bürozeiten machen mir nichts aus.

Jörn Daberdow im Gespräch mit Telepolis

Wie sagt man dazu politisch korrekt im Marketingsprech?

"Es konnte eine Arbeitskraft wieder dem freien Arbeitsmarkt zugeführt werden"...