Erste Siedler und Barbaren

Das volkstümliche Web. Teil I

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In der Serie "Das volkstümliche Web" untersucht Olia Lialina die Amateur-Designkultur des frühen World Wide Web und wie sich deren Zeichen im professionell gestylten Web heutiger Zeit weiterentwickeln. Einige Dinge waren eben doch für die Ewigkeit gemacht.

Schon meine ersten Arbeiten für das World Wide Web sahen besonders schön, frisch und außergewöhnlich aus. Sie unterschieden sich stark von dem, was man dort Mitte der 90er zu Gesicht bekam.

Ich beginne meinen Text nicht mit dieser Aussage, um meine Werke über Gebühren selbst zu loben, sondern um hervorzuheben, dass ich -- obwohl ich mich selbst als einen "early adopter" ansehe -- vielmehr spät genug meinen Einstieg fand, um bereits von den "Errungenschaften der Zivilisation" zu profitieren: Die gesamte Umgebung existierte einfach schon, ich konnte auf eine strukturelle, visuelle und akustische Kultur zurückgreifen, mit der es sich experimentieren ließ und von der man auch abweichen konnte. Eine Welt voller Möglichkeiten, und eine dieser Möglichkeiten war, etwas anderes auszuprobieren.

Aber wie sah diese Kultur aus? Was ist unter "Web in der Mitte der 90er" zu verstehen und wann war es damit vorbei?

In wenigen Stichworten: Das Web war damals reichhaltig, persönlich, langsam und "under construction"; voller überraschender Inhalte und persönlicher Links; Seiten gebaut am Rande der Zukunft, voller Hoffnung auf eine schnellere Netzanbindung und leistungsfähigere Computer. Man könnte es als Web der ersten Siedler bezeichnen -- oder als das der Barbaren. In jedem Fall sollte es bald vom dot.com-Ehrgeiz, von professioneller Webdesign-Software und Usability-Richtlinien überrollt werden.

Anstatt mich auf ein konkretes Enddatum wie beispielsweise 1998 festzulegen verwendete ich hier lieber das ungenaue "bald", denn Krankheit, Tod und Begräbnis stehen noch aus. Das Amateur-Web ist nicht verschwunden, sondern es existiert versteckt. Suchmaschinen bewerten solche Seiten lediglich so niedrig, so dass sie beinahe unbemerkt bleiben. Institutionell werden sie im Gegensatz zu Netzkunst oder Webdesign nicht ernstgenommen und archiviert.

In den letzten zehn Jahren ging die Zahl der neuen Amateurseiten zurück, das Web ist ein hochentwickelter und stark reglementierter Raum geworden. Kaum jemand wird heute dort aufkreuzen, um der Welt zu sagen: "Welcome to my home page!" In diesem inzwischen ausgereiften und spezialisierten Medium haben sich die Bedingungen grundlegend geändert und für derart altmodische Sitten besteht kein Anlass mehr. Der eigene Lebenslauf findet sich auf der Website des Arbeitgebers (oder eines Jobportals). Das Tagebuch steht im Blog, Urlaubsbilder werden mittels flickr veröffentlicht. Für jede Lebenslage und jedes Hobby gibt es schon vorgefertigte Lösungen.

Verschwindende Ästhetik

Aus diesem Grund bezeichne ich das Amateur-Web als etwas Vergangenes, wenn auch etwas Vergangenes mit einer starken ästhetischen Ausprägung. Selbst wer im letzten Jahrhundert noch keinen Internetzugang hatte oder nie weiter als die ersten zehn Suchtreffer forscht, wird auf die Zeichen und Symbole des frühen Webs stoßen; und zwar Dank zahlreicher Parodien und von Usability-Experten angelegten Archiven schlechter Beispiele.

Ähnlich einem wiederkehrenden Modetrend tauchen auf der visuellen Ebene einige Elemente aus der Vergangenheit auf. Während des letzten Jahres fiel mir auf, dass sich viele Webdesigner eklektischen Techniken zuwandten und beispielsweise Hintergrundmuster und 3D-Buchstaben verwendeten. In naher Zukunft erscheinen sicher Frames und "under construction"-Schilder, als dekorative Elemente im Retro-Stil ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt.

In meinen eigenen Projekten setze ich seit einiger Zeit ebenfalls auf diese verschwindende Ästhetik, um mich für meine Arroganz früherer Jahre zu entschuldigen und die Schönheit des volkstümlichen Webs in Kunstobjekten zu erhalten. Aber das ist noch nicht genug.

Sammlungen und Archive aller denkbaren MIDI-Dateien und animierten GIFs anzulegen wird diese Schätze für künftige Generationen konservieren, aber genau so wichtig ist eine Analyse: Wofür standen diese visuellen und akustischen Elemente inhaltlich? Für welchen Kulturen und Medien stellten sie eine Brücke ins Web dar? Welche Ziele wurden mit ihnen verfolgt? Welche Probleme konnten sie lösen und welche neuen erzeugten sie?

Im Folgenden möchte ich das schwierige Schicksal einiger dieser Elemente behandeln.

Under Construction

Das "under construction"-Schild ist eines der stärksten Symbole des frisch besiedelten Webs. Es stammt aus einer aufregende Zeit, kurz nachdem Wissenschaftler und Ingenieure ihre Arbeit an der Datenautobahn beendet hatten. Ihnen folgten normale Leute mit ihren eher gewöhnlichen Werkzeugen und nutzten die Gelegenheit zum Bau eigener Straßen und Kreuzungen. Überall wurde konstruiert und überall war irgend etwas noch nicht fertig. Links führten nirgendwohin oder zu noch nicht wirklich existieren Seiten, und deswegen gab es Schilder, die vor technischen Problemen oder kaum vorhandener Navigation warnten.

Mit der Zeit vervollständigten die Siedler ihre Seiten zu einem funktionieren Netz und die Warnungen waren nicht mehr notwendig, besonders in der Form von Straßenschildern. Dennoch verschwanden sie nicht, stattdessen wurde die Botschaft der "under construction"-Schilder aus einer Warnung zu einem Versprechen: Diese Seite wird ständig erweitert! Das Schild wurde zu einer Mischung aus Entschuldigung und Einladung, erschien auf vollständig leeren genauso wie auf funktionierenden Seiten. Sehr häufig findet sich das etwas neuere Schild "always under construction".

"Always under construction" bedeutet nicht etwa, dass diese Seite niemals funktionieren wird, sondern im Gegenteil, dass jemand Wirkliches und Echtes sich um diese Seite kümmert und es sich lohnen wird, immer wieder vorbeizuschauen.

Diese Botschaft war sehr wichtig um die neue Vorstellung eines Mediums zu etablieren, dessen Inhalte nie definitiv fertig sind und an denen ständig gearbeitet wird. Dennoch war das Schild als Symbol dafür nicht sonderlich passend. Die Assoziation mit beschädigten Straßen und im Weg herumliegenden Hindernissen ist stärker als mit konstanter Weiterentwicklung. Bereits um 1997 wurden die Schilder zu einem allgemeinen Witz, selbst die damals noch unbefangene Mainstream-Presse schrieb, dass das Web selbstverständlich "always under construction" sei, und die Leute hörten auf, ihre Webseiten damit zuzupflastern.

Weder "under construction" noch das permanente Weiterbauen schafften den Sprung ins professionelle Web. Schließlich widersprechen beide der traditionellen Geschäftsbeziehung zwischen Auftraggeber und Designer, in der zu einem festgelegten Datum ein bestimmtes Produkt fertig geliefert werden muss.

Immerhin, der Satz "This site is currently undergoing redesign" wurde zu einem eleganten Erben der blinkenden Warnlichter. Um die konstante Aktualität eines Projekts zum Ausdruck zu bringen haben sich andere Zeichen etabliert: die neusten Meldungen auf der Startseite, das "Last Updated"-Datum, oder das gleichermaßen beliebte wie höchst alberne Anzeigen der aktuellen Urzeit: Keine anderer Trick schafft so viel Atmosphäre von Telepräsenz und Geschwindigkeit.

Aber was wurde aus der Idee von der Konstruktion des Webs? Gibt es sie vielleicht doch noch und wie äußert sie sich inzwischen? Tatsächlich tauchten unerwartet Nachfolger der "under construction"-Schilder in Gestalt von "Verified XHTML"-Emblemen auf. Sie finden sich auf zahllosen Seiten moderner Webuser.

Diese Embleme gibt es "[...] um den LeserInnen zu zeigen dass Sie [als Autor] sich die Mühe gemacht haben, eine vielseitig benutzbare Webseite zu erstellen [...]" (Zitat W3 Consortium nach dem erfolgreichen HTML-Validierungsvorgang)

Mit anderen Worten: die Person hinter dieser Webseite hilft mit bei der Rekonstruktion des Web, um neuen Standards gerecht zu werden und diesen riesigen Misthaufen in ein fehlerlos arbeitendes, sauberes Wissensnetzwerk zu verwandeln.

Zwar begeistert mich diese Entwicklung nicht sonderlich, das Auftauchen der XHTML-Embleme ist allerdings uneingeschränkt positiv zu bewerten. Es manifestieren wie weiland das "under construction"-Schild die Möglichkeiten, den Ehrgeiz und die Verantwortung der Endverbraucher des Web. Allein durch die Veröffentlichung einer eigenen Webseite haben sie an der Konstruktion oder Neukonstruktion des gesamten Mediums teil.

In der nächsten Folge wird es um Sternentapete und kostenlose Bildersammlungen gehen.

Übersetzt von Dragan Espenschied