Schwierigkeiten der Medien mit der Philosophie

Wie die Fälle Peter Singer und Ted Hondrich zeigen, steht es schlecht um die öffentliche Diskussion heikler moralischer Probleme

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Ich arbeite als analytischer Philosoph, d.h. als jemand, dem von Berufs wegen in der Kommunikation nichts mehr zuwider ist als das, was in Talk-Shows zunehmend gepflegt wird: mangelndes begriffliches Unterscheidungsvermögen. Die Entwicklung und der Gebrauch dieses keineswegs angeborenen Vermögens verlangen, dass zwei Voraussetzungen gegeben sind: Erstens Bereitschaft zur Abstraktion, also auch zur Distanz; und zweitens hinreichend Gelassenheit, Ruhe und Zeit. Wer eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, sollte die Finger von der Philosophie lassen. Dies erklärt bereits, weshalb das Verhältnis zwischen guter Philosophie einerseits und den heutigen Massenmedien andererseits kaum anders als problematisch sein kann. Letztere, die Medien, negieren in der Regel die notwendigen Bedingungen der Ersteren. Also: Philosophie und Medien - ein Widerspruch?

Ich glaube inzwischen: Mehr oder weniger Ja. Das ist jedenfalls die Lehre, die ich aus meinen bisherigen Erfahrungen ziehe. Eine Zwischenbilanz vorab: Die schlechtesten Erfahrungen habe ich mit Wissenschaftsjournalisten bei unseren größten Tages- und Wochenzeitungen gemacht; meine beste mit der Bild-Zeitung. Da ich analytischer Philosoph bin, gleich eine Frage vorweg. Was ist an philosophischen Resultaten überhaupt eine Meldung wert? Insbesondere, was ist für die Öffentlichkeit selber, also nicht nur für die philosophischen Experten unter uns, wirklich berichtenswert?

Wir stoßen hier auf ein Problem, das über die oben genannten antagonistischen Voraussetzungen hinaus die Beziehung zwischen Philosophie und Medienwelt weiter erschwert. Haben Sie selber schon jemals von einer philosophischen Schlagzeile in den Medien gehört oder gelesen? Ich nicht. "Der Philosoph G. E. Moore beweist endlich die Existenz der Außenwelt." "Metzinger bezweifelt erneut die Willensfreiheit." "KOMPA erledigt den Kategorischen Imperativ." Würden Sie eine Zeitung kaufen, die solche Schlagzeilen bringt? Ich nicht. "Viagra führt zu Prostata-Krebs." Oder "Leben auf dem Mars." Das klingt schon ganz anders. Was macht den Unterschied aus?

Das ist selbst bereits eine philosophische Frage; lassen wir sie jetzt also beiseite. Festgehalten sei aber: Die Problematik des Verhältnisses zwischen Philosophie und den Medien geht keineswegs nur auf das Konto der Medien; es gibt vielmehr gute Gründe, warum unsere Frauen und Männer auf der Straße kein Interesse an philosophischen Schlagzeilen haben. Sie tun gut daran.

Wie in allen Expertenbereichen, so gibt es auch bei der Philosophie Scharlatane. Diese leben primär davon, dass sie begriffliche Wahrheiten so verkaufen als wären sie keine - keine begrifflichen. Und natürlich gibt es auch bei diesen Scharlatanen viele, die auf sie hereinfallen. Ein Scharlatanerie-Musterbeispiel wäre, wenn denn der Genannte tatsächlich ein Philosoph wäre: Paul Watzlawick. Dessen berühmteste kommunikations-theoretische Schlagzeile ist: "Man kann nicht nicht kommunizieren". Mit anderen Worten: Was auch immer wir tun, wir kommunizieren damit.

Trifft diese These zu? Ja und zugleich Nein. Richtig ist die These, und zwar schon begrifflich richtig, falls man sie so versteht, dass jedes Tun unter Umständen als eine Botschaft gemeint bzw. als eine solche verstanden werden könnte. Aber das heißt nicht, dass deshalb alles, was wir tun, tatsächlich eine Botschaft ist.

Wo bleiben die Medien? Die waren und sind schon dabei. Ich gebe den Schwarzen Peter einfach an Sie weiter. Wie gehen Sie denn mit diesem Thema um? Was würden Sie im Auftrag Ihrer Zeitung über unser Gespräch morgen berichten? Etwa: "Watzlawicks Kernthese falsch."? "Wir müssen nicht kommunizieren"? Oder: "Philosoph entlarvt Watzlawick als Scharlatan."?

Jetzt kennen Sie meine Probleme - die nicht nur meine sind: Sie wissen jetzt, warum analytische Philosophen für Schlagzeilen selten gut sind. Diese Denker versuchen genau jene Mehrdeutigkeit und damit Unklarheit zu vermeiden, welche die Watzlawick-These für viele erst interessant gemacht hat. Schlussfolgerung: Dass die Medien über philosophische Resultate nicht berichten, das kann für diese Resultate auch eine Empfehlung sein.

Für die analytischen Philosophen in Deutschland hatte bis tief in die 80er Jahre hinein gegolten: Entweder man spricht mit den Medien oder mit den Kollegen. Wer bei den Medien ankommt, disqualifizierte sich damit für die Unikarriere. Und wer zu den akademisch Arrivierten gehörte, war für die Medien als Partner untauglich. Die Analytische Philosophie in Deutschland war mangels Medien-Vermittlung vom öffentlichen Diskurs völlig abgekoppelt. Wert- und damit Orientierungsfragen, zu denen die Öffentlichkeit ja zu Recht von den Philosophen Denkhilfe erwartet, waren bei uns in den analytischen Zirkeln lange, viel zu lange, tabu.

Eine gute Erfahrung

Das hat sich geändert. Ein Beispiel: "Der Sinn des Lebens". Vor einigen Jahren hätte schon allein diese Wortfolge bei vielen von uns nur ein Grinsen ausgelöst; "Der Sinn des Lebens" - das ist heute eines der erfolgreichsten neueren Bücher auf dem deutschen Philosophie-Markt.1 An ihm haben zwei meiner Assistenten und ich etwa zehn Jahre gearbeitet. Am Erfolg dieses Bandes waren mit Sicherheit die zahlreichen lobesamen Besprechungen in allen größeren und vielen kleineren Zeitungen beteiligt.

Die beste Werbung brachte Bild, leider nur Bild/Leipzig. Ich hatte mich anfangs geziert, dem Blatt für ein Interview zwei Stunden opfern zu sollen, dann aber doch den PR-Argumenten meiner Mitarbeiter nachgegeben. Als ich dann die Zeitung aufschlug, dachte ich zuerst: "Fehlinvestition". Kein Interview. Stattdessen, eine ganze Seite füllend, 2 Bilder - und 20 Zitate aus dem Buch. Solche von Woody Allen und den katholischen Bischöfen Deutschlands über Albert Einstein und Moritz Schlick bis hin zu der inzwischen berühmtesten Antwort auf die große Frage nach dem Sinn des Ganzen: "Zweiundvierzig".2 Unser Herausgeber-Trio hätte keine bessere Auswahl treffen können. Ich bewundere noch heute die Idee und den Mut von Mathias Weidemann zu diesem total unkonventionellen Schritt. Er hatte getan, was ich bei den meisten seiner Kollegen, die für intellektuellere Blätter arbeiten dürfen, in der Regel vermisse: Er hatte sich das Buch genau angeschaut - und sich selbst zurückgenommen.

Schlechte Erfahrungen

Nach dieser erlesenen Bild & Text-Auswahl nun zu den zwei Tiefpunkten aus dem traurigen und leider viel größeren Rest meiner Medienerfahrungen: Zum Schlimmsten zuerst. Zur Peter Singer-Affäre von 1989 folgende.

2.1 Die Peter Singer-Affäre

Anfang Sommer 1989 wechselte ich von meiner Münsteraner Logik-Professur auf den Lehrstuhl für Systematische Philosophie in Saarbrücken - mit dem offen erklärten Ziel, dort das erste Institut für Praktische Ethik in Deutschland auf die Beine zu stellen. Als ich zu meinem Dienstantritt vom Bahnhof zur Uni fuhr, freute ich mich über die herzliche Begrüßung: Auf den großen Plakatwerbeflächen der Stadt hieß es: Meggle - alles in Butter. Nur ein paar Wochen später schrieen mich, über die Uni und die City verteilt, ganz andere Plakate an: Meggle - Faschist - Raus! Und diesmal war wirklich ich gemeint. Was war geschehen?

Peter Singer war von mir zu einem Vortrag eingeladen worden. Thema: Die moralische Bewertung der Früheuthanasie bei schwerstbehinderten Neugeborenen - fraglos eines der brisantesten Themen der Medizinethik, zu Recht umstritten vor allem in Deutschland (Schonung der Tiere, Euthanasie für schwer behinderte Kinder?). Peter Singer einzuladen hatte nahe gelegen:

  1. Das neue Reclam-Bändchen Praktische Ethik wurde von meinen Studenten heftig diskutiert und nicht weniger heftig kritisiert. Was hätte für uns also hilfreicher sein können als unsere Einwände direkt in der Diskussion mit dem Autor selber zu überprüfen?
  2. Eine Reihe von Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen, die Singer längst vor mir eingeladen hatten, hatten schon auf die bloße Ankündigung von Protesten hin ihre Einladungen reihum wieder zurückgezogen. Mir war klar, dass wir3 unsere Pläne für ein IPE (Institut für Praktische Ethik) in den Wind hätten schreiben müssen, wenn wir schon beim ersten Test dessen gekniffen hätten, wofür ein solches Institut einzustehen hätte: Die freie und immer wieder auch die Öffentlichkeit einbeziehende "rationale Auseinandersetzung mit praxisrelevanten moralischen Fragen".4

Zur Diskussion auch heftig umstrittener Thesen einzuladen war nicht nur mein Recht, es war - und daran halte ich weiterhin fest - auch meine Pflicht. Wozu sind Universitäten eigentlich da?

Die meisten Kollegen meiner damaligen Fakultät dachten anders.5 Kaum war die Einladung publik geworden, rief mich ein Kollege an und stellte mir die Frage: "Stimmt es, dass Sie Faschist sind?" Hut ab vor diesem Kollegen: Er war mir gegenüber wenigstens offen.

Die Veranstaltung mit Peter Singer begann mit einem langen, ohrenbetäubenden Trillerpfeifen-Konzert. Aber sie fand statt. Singer schaffte es irgendwie, durch das Pfeifkonzert und die "Faschist raus!"-Schreie hindurch dem Auditorium zur Kenntnis zu bringen, dass seine eigene Familie zu den Opfern des Faschismus gehört, dass seine Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits in KZs umgekommen sind. Und dann begann eine Diskussion, wie sie heftiger - und zugleich erhellender - nicht hätte sein können. Dieser Erfolg machte mich freilich zu einem roten Tuch für diejenigen Gruppen, welche Singer-Vorträge in Deutschland verhindern wollten.

Wie reagierten die Medien? In voller Breite. Mein Lehrstuhl hatte die Masse an Artikeln, Funk- und Fernseh-Beiträgen über die ersten Folgejahre hinweg gesammelt; die Leitzordner und Schachteln mit den Tonbändern und Video-Kassetten begleiteten mich bis vor kurzem. 1994 war ich an die Uni Leipzig gewechselt. Als das dortige Philosophie-Institut vorletztes Jahr zum zweiten Mal umziehen musste, warf ich das gesamte Material in den Müll. Daran war nicht allein die Enge unserer neuen Zimmerchen schuld; ich wollte mit der ganzen Geschichte nichts mehr zu tun haben.

Von zwei Erinnerungen werde ich aber nie mehr loskommen. Medienunerfahren, wie ich beim Ausbruch der Singer-Affäre noch war, hatte ich die Einladung des Hessischen Fernsehens angenommen, über die Singer-Thesen mit Ernst Klee, dem besten Experten in Sachen Nazi-Euthanasie zu diskutieren - und zwar live. Letzteres war mein größter Fehler.

Wir warten auf den Beginn der Sendung; der Vorspann, in den, wie ich später erfuhr, zuvor Ernst Klee, aber nicht ich, eingeweiht worden war, läuft bereits - ich sehe die Bilder (fröhlich auf einem Spielplatz spielende Kinder mit leichtem Down-Syndrom, mit ihren nicht weniger glücklichen Eltern an der Seite; mehrfach gegengeschnitten mit alten Dokumentaraufnahmen von den fensterlosen NS-Bussen, mit denen so genannte erbkranke Kinder dem Tod im Gas zugeführt werden). Ich höre den Text (anfangs die üblichen Willkommenssätze ans Publikum) - und erstarre vor Entsetzen: An den Vorspann anknüpfend macht der Sprecher und Moderator darauf aufmerksam, dass die berüchtigte Wannseekonferenz nunmehr 50 Jahre zurückliege - und dass alle, insbesondere die Eltern behinderter Kinder, gedacht hätten, dass die damals beschlossenen Vernichtungspläne Vergangenheit seien. "Aber nein - Professor Meggle, Ethiker von der Universität Saarbrücken" usw. und so fort.

Ich falle wie durch eine plötzlich getätigte Falltür ins Nichts. Ich wusste, dass mir, was auch immer ich im Folgenden noch sagen würde, jede Chance fehlt, diese Verknüpfung von soeben ungeschehen zu machen. Bei allen, bei denen die Fernsehbilder und -töne einfach so vorbeirauschen - also bei nahezu allen von den Abertausenden Zuschauern -, bei allen sah ich mich nun als Befürworter des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms abgestempelt. Mein Herz raste; mein Gehirn außer Funktion. Erst nach der Sendung fasste ich den Gedanken, dass die einzig richtige Reaktion die gewesen wäre, einfach aufzustehen und wegzugehen - und zwar wortlos. Aber selbst dies hätte die hergestellte Verknüpfung bei den meisten sicherlich nicht beseitigt.

Der zweite Schlag traf mich noch tiefer. Er verbindet sich im wörtlichsten aller möglichen Sinne mit meinem Namen. Aus diesem Grund bringe ich es auch heute noch nicht über mich, Ihnen diesen Tiefschlag mündlich zu erklären. Ich habe Angst, dass sich damit sogar für mich selbst eine Verbindung herstellt, die sich beim ersten Eklat-Bericht der Saarbrücker Zeitung bei jedem Leser ganz direkt einstellen musste. Schauen Sie jetzt auf die Folien. Die Saarbrücker Zeitung hatte auf mich nicht so [1] Bezug genommen, sondern so [2]:

[1] Dr. Meggle
[2] Dr. Mengele

Die Reaktion der Zeitung auf meinen Protest: "Ein Druckfehler, tut uns leid." Ich wünsche Ihnen, dass Sie nie in eine Lage kommen mögen, in der Sie nachempfinden können, wie man sich bei einer solchen medialen Vernichtungs-Rezeption fühlt. Sie können das einfach nicht wissen.

Lassen Sie sich daher gesagt sein: Vergessen Sie nicht, dass sogar die Worte eines Wissenschaftsjournalisten töten können. Christoph Anstötz, ein engagierter Behindertenpädagoge - wir waren, zusammen an die Wand gestellt, rasch Freunde geworden - hat sich, kurz nachdem er sich ähnlichen Angriffen ausgesetzt sah, das Leben genommen. Gott sei dank waren damals meine beiden Kinder schon auf der Welt. 180 Philosophen hatten sich nach diesen Vorfällen in einer ‚öffentlichen Erklärung' für die Freiheit der Diskussion auch in der Praktischen Ethik ausgesprochen. Sagte ich "öffentlichen"? Die Öffentlichkeit bekam diese Erklärung erst 2 Jahre später in einem die breite Öffentlichkeit gewiss nicht erreichenden Suhrkamp-Bändchen zu sehen.6 Informationsfreiheit in Deutschlands Feuilletons? Kommen Sie mir bitte nicht damit!7

Die Honderich-Debatte

Meine zweite Negativ-Erfahrung mit den Medien ist jüngsten Datums und wohl noch nicht abgeschlossen. Sie trifft mich persönlich weniger; aber ich weiß, wie sich der direkt Angegriffene jetzt fühlen muss. Zumal er - anders als Peter Singer , des Deutschen nicht mächtig - sich noch weniger wehren kann.

Im Herbst des vorigen Jahres hatte das Rektorat der Universität Leipzig auf meinen Vorschlag hin den kanadisch-britischen Philosophen TED Honderich eingeladen. Er sollte die diskursethisch angezeigte Chance bekommen, seine Thesen aus dem im Sommer 2003 bei Suhrkamp erschienenen Buch Nach dem Terror öffentlich gegen seine Kritiker zu verteidigen. In einer seiner Thesen behauptet Honderich die moralische Rechtfertigbarkeit palästinensischer Terroranschläge gegen Israel (wiederum also ein Thema, das - zu Recht - besonders in Deutschland umstritten sein muss). Als Kontrahenten waren eingeladen: Micha Brumlick, der mit seinem öffentlichen Brief an die Frankfurter Rundschau (vom 06. August 2003), der Honderich "antisemitischen Antizionismus" vorwirft, bewirkt hatte, dass der Suhrkamp-Verlag das umstrittene Bändchen sofort stoppte. Und Jürgen Habermas, der das Buch immerhin zuerst zur Publikation vorgeschlagen hatte. Beide lehnten das Diskursangebot postwendend ab.

Die Veranstaltung fand dann ohne die Kontrahenten am Sonntag, den 17. Oktober, im größten Hörsaal der Universität Leipzig statt. Sie stand, da eine Leipziger Extremistengruppe angekündigt hatte, dass sie die Veranstaltung mit allen Mitteln verhindern würde, unter starkem Polizeischutz. Mit dieser Veranstaltung wurde Das Sonntagsgespräch, eine neue Öffentlichkeits-adressierte Veranstaltungsform der Universität Leipzig, eröffnet (Ted, glaubst du wirklich ....). Den Verlauf dieses ersten "Gesprächs" können Sie auf dem über die Website der Universität gespeicherten Video verfolgen. Auf dieser Website finden Sie auch Honderichs Vortrag und meinen kritischen Kommentar. Eine Diskussion war wegen der fortgesetzten Störungen unmöglich. Einer meiner Studenten wurde beim Verlassen der Uni zusammengeschlagen. Die öffentlich angekündigte 'Zusatz'-Diskussion am nächsten Tag verlief dann, im kleineren Rahmen, störungsfrei.

Die Universität wie die Leipziger Öffentlichkeit waren auf diese Debatte um Honderichs Terrorismusthese gut vorbereitet. Vorangegangen war eine zweisemestrige öffentliche Universitätsringvorlesung zum Thema Terror und der Krieg gegen ihn. Die Universität führte - unterstützt von der Vereinigung ihrer Förderer und Freunde - diese heiße Debatte also keineswegs aus dem Stand. Im Gegenteil: Die Universität wusste genau, was sie tat. Das Sonntagsgespräch mit der Universität Leipzig - diese neue Veranstaltungsform zielt auf die Provokation eines Nachdenkens über Themen dieser Art geradezu ab, über Themen mit anderen Worten, die, selbst wenn sie über die Massenmedien in aller Munde sein sollten, ein tiefer gehendes Nachdenken (trotzdem oder sogar deshalb) bitter nötig haben. Auch dazu sind, außer der üblichen Lehre und Forschung, Universitäten ihrem gesetzlichen Auftrag zufolge da.

Ich kenne in Deutschland keine Universität, die sich diesem Auftrag derzeit furchtloser stellt als die Universität Leipzig. Das dürfte mit der Rolle und dem Selbstverständnis dieser Stadt zusammenhängen. Stichwort: 1989. So sah dies auch die Leipziger Volkszeitung (LVZ). Deren Kommentar (20. Oktober 03): "Der Mut der Alma Mater ihn [Ted Honderich] einzuladen, ist bemerkenswert" und "Demokratie heißt, auch kontroverse Meinungen auszuhalten" (so die Überschrift über das Interview mit mir am 21.10.03).

Und die großen Zeitungen? Die Frankfurter Rundschau, die mit Brumliks Protestbrief an Suhrkamp den ganzen Eklat ausgelöst hatte, machte diese Debatte zu einem ihrer Markenzeichen und stellte ein Dossier "Die Honderich-Debatte" zusammen, das all ihre eigenen einschlägigen Beiträge enthält. Leider ohne die Leserbriefe. Die FR-Beiträge folgten durch die Bank im Wesentlichen der Brumlik-Position, wonach die Honderich-Thesen antisemitisch und somit verwerflich sind. Auch alle anderen großen Zeitungen fällten ihre Urteile. Als PR-Kampagne für Das Sonntagsgespräch war die Sache also ein großer Erfolg.

Soweit zur PR. Aber wie steht die Sache in Punkto Argumente? Da sieht die Bilanz nicht so gut aus. Zwar kann man von Medienbeiträgen nicht stets das Niveau verlangen, das für eine brauchbare Proseminararbeit nötig ist; aber bestimmte Mindeststandards sollten doch wohl eingehalten werden - vor allem bei derart brisanten Themen.

Es gibt in der bisherigen "Honderich-Debatte" nicht viele Beiträge, die diesem Kriterium standhalten (am ehesten noch Leserbriefe). Kaum ein Beitrag, der nicht schon von Anfang an "Das Minimum" an relevanten Distinktionen verwischt, wenn nicht gar ignoriert. Zur Erleichterung des erhofften Diskurses war dieses "Minimum" im Leipziger Hörsaal an die Wand projiziert - wobei die letzte Spalte bereits dort als meine eigene Einschätzung erklärt worden war, die sich mit der von Honderich selbst deckt:

Definition Honderich?
Anti-Semit ist, wer gegen Juden
als Juden ist.
NEIN (Gegenteilige Behauptung = Rufmord)
Anti-Zionist ist, wer gegen das
Existenzrecht Israels ist.
NEIN (Verleumdung)
Anti-Neozionist ist, wer gegen die
gewaltsame Expansion Israels (1967) ist.
JA

Ted Honderich

Antisemit ist, wer gegen Juden als Juden ist. Nein. (Behauptung des Gegenteils ist Rufmord)
Anti-Zionist ist, wer gegen das Existenzrecht Israels ist. Nein (Verleumdung)
Anti-Neozionist ist, wer gegen die gewaltsame Expansion Israels (> 1967) ist. Ja.

Meine eigene Kritik an Honderich warf ihm außer mangelndem Realismus ebenfalls ein Differenzierungs-Defizit vor. Seine Distinktionsschwäche betrifft aber nicht die eben erwähnten Begriffe, vielmehr das, was bei ihm alles unter "Terrorismus" fällt. Die Medienrezeption folgte der so resultierenden Unschärfe durchgehend.

Aber wer ist schon wirklich an einer Klärung dieses Kampfbegriffs interessiert? Ich bin es.8 Und mein Klärungsversuch unmittelbar nach Honderichs Vortrag hatte immerhin eine, wie ich meine, diskursethisch bedeutsame Folge: Auf meine Frage hin, ob seine These der Rechtfertigbarkeit des palästinensischen Terrorismus auch für dessen stärkste Form (die sich z.B. auch direkt gegen Kinder in Schulbussen richtet) gelten solle, antwortete Honderich klipp und klar und laut vernehmlich mit einem NEIN. Wäre es nach Dutzenden von Pamphleten nicht angezeigt gewesen, diese Klarstellung an irgendeiner Stelle zu dokumentieren?

Was ich an der Honderich-Debatte schlimm finde? Ziemlich viel:

  1. Honderich wird bis heute von den Medien, die ihn zum Antisemiten gestempelt haben, das verweigert, was jedem Angeklagten vor Gericht zusteht: Das Recht auf Verteidigung. Honderich hat, wie er mir mitteilt, alle größeren Tages- und Wochenzeitungen darum gebeten. Alle haben seine Bitte abgelehnt. Die meisten auf die in solchen Fällen wohl übliche Art: "No reply".
  2. Behauptungen sind in der Regel nicht ohne Kontext korrekt verstehbar. Das weiß jeder. Die Praxis der Honderich-Debatte sieht ganz anders aus. Kein einziger Journalist hat sich in dieser Debatte bisher an diese Kontext-Maxime gehalten. In der Debatte um Honderichs Palästina-Terrorismus-These kamen bislang etwa 5 Seiten seines Buches in den Blick; die restlichen mehr als 220 Seiten, also der ganze Hintergrund seiner "Humanitäts-ethischen" Argumentation werden schlicht ignoriert. Wäre dem anders, so wäre Honderichs Buch schon längst zur Bibel von Attac geworden.
  3. Die involvierten Kollegen bei der Frankfurter Rundschau können entweder kein Englisch oder nicht gut genug Deutsch, um zu wissen, wie ihre eigenen Sätze verstanden werden. Oder sie setzten in der Honderich-Debatte bewusst auf Lug und Trug. Beleg kommt gleich.
  4. Auch kein einziger Journalist der übrigen Medien hat sich der Mühe unterzogen, den falschen FR-Input am Original abzuklären.
  5. Und so hat auch niemand moniert, dass in der deutschen Übersetzung von Honderichs Antwort deren erster wichtigster Absatz weggelassen worden war. Beleg für (3).

Auf Brumliks am 6. August in der FR erschienenen Anklagebrief hatte Honderich noch am gleichen Tag geantwortet; die deutsche Übersetzung seines englischen Briefes erschien am 08.08 (wie gesagt: Honderich kann nicht Deutsch). Diese deutsche Fassung enthält einen Satz, der, wenn ihn Honderich echt so gesagt hätte, diesen als Diskurspartner sofort disqualifizierte. Zahlreiche Anti-Honderich-Leserbriefe stützten sich auf diesen Satz. Zurecht - wenn das ein Satz von Honderich wäre. Der Satz in der Frankfurter Rundschau lautet so:

[D-FR] Darüber hinaus halte ich es für widerwärtig, mich mit Personen in Beziehung zu setzen, deren politische Ansichten ich nicht teile.

Das haben nicht nur ich, sondern alle meine Testpersonen (19) durch die Bank so gelesen:

[D1] Ich halte es zudem für widerwärtig, dass ich mich mit Personen [wie z.B. Brumlik] in Beziehung setzen [bzw. gar auseinandersetzen] soll, deren politische Ansichten ich nicht teile.

Das englische Original sagt etwas ganz anderes:

[E] It is despicable, too, to engage in personal slurs of association having to do with people whose politics I do not share.

Das heißt sinngemäß soviel wie:

[D2] Ich halte es zudem für widerwärtig, wenn man es darauf anlegt, mich mithilfe von persönlichen Anspielungen mit Leuten (wie z.B. den Nazis oder anderen Antisemiten) zu vergleichen, deren politische Ansichten ich nicht teile.

Der Satz von Honderich impliziert eine klare Distanzierung gegenüber Antisemiten. Die Frankfurter Rundschau macht daraus einen Ausdruck Diskurs-aversiver Arroganz.

Für den Tag nach Honderichs Leipziger Vortrag hatte die Universität Leipzig zu einer Pressekonferenz eingeladen. Auf dieser wurde ich von einer Teilnehmerin gefragt, ob es eine Medienethik gibt. Meine Antwort: "Ja - als Lehrfach an der Universität."

Zwei Monate später, Anfang Dezember 2003, erscheint Honderichs Traktat in einer neuen Übersetzung in dem kleinen jüdischen Verlag Melzer (der Suhrkamp Verlag hatte sich geweigert, die Rechte an der bei ihm erschienenen Erst-Übersetzung freizugeben). Einige der besonders inkriminierten Stellen waren in der Suhrkamp-Übersetzung irreführend (statt einfach "Juden" für "jews" z.B. "Die Juden"). Aber die Anti-Honderich-Kampagne war nicht ohne Erfolg. Während das englische Original inzwischen zwei weitere Neuauflagen erhielt, wird die deutsche Neuausgabe von Teilen des Buchhandels weiterhin boykottiert.

Der Titel von Singers Erfahrungsbericht passt eben nicht nur für dessen Erfahrungen: On How to be Silenced in Germany. Wie man in Deutschland mundtot gemacht wird - das haben dank der Honderich-Debatte inzwischen auch einige andere erfahren.

Wissenschaftsjournalismus kann also auch kontraproduktiv sein. Er kann bewirken, dass über bestimmte Themen gerade nicht wohl-informiert diskutiert werden kann. Er fördert dann keine rationale Diskussion; er verhindert sie.

Ringvorlesung an der Universität Leipzig:

Noam Chomsky (Boston): Europa - Israel - Palästina.

Ostermontag, 28. März 2005, 11-13 Uhr, Gewandhaus Leipzig, Eintritt: 5 Euro. Vorverkauf in der Universitätsbuchhandlung Leipzig. Restkarten an der Tageskasse. Auswärtige Besucher können per email an dip@uni-leipzig.de Karten vorbestellen.

In der Reihe "Das Sonntagsgespräch":

Michael Wolffsohn (München): Deutschland/Israel/Palästina - Geschichte als Falle.

Sonntag, 8. Mai 2005 11:00 Uhr. Hörsaalgebäude, HS 19 (Eingang Augustusplatz)

Peter Singer (Princeton): Globalisierungsethik.

Sonntag, 29. Mai 2005 11:00 Uhr. Hörsaalgebäude, HS 19 (Eingang Augustusplatz)