Jäher Kälteeinbruch immer möglich

Entgegen allen offiziellen Bekundungen ist das gegenseitige Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern nach wie vor von tiefem Misstrauen geprägt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Redeschlacht um den Abzug aus Tulkarem ist symbolisch für das derzeitige Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern: Beide Seiten sind aus ähnlichen Gründen dazu entschlossen, ihren einmal eingeschlagenen Kurs weiterzuverfolgen - und können doch nicht aus ihrer Haut: Jedes Wort, jede Handlung kann zu einem sofortigen Kälteeinbruch im Tauwetter führen.

Anfang der Woche verzögerte sich die eigentlich für Montag angekündigte zweite Stufe der Anfang Februar beim Gipfeltreffen im ägyptischen Badeort Scharm al-Scheich vereinbarten Übergabe der Sicherheitsverantwortung über fünf palästinensische Städte im letzten Moment erneut. Die beiden Seiten hatten sich zunächst nicht über Umfang und Bedingungen des Abzuges aus Tulkarem im Nordwesten des Westjordanlandes einigen können. Erst nachdem sich Ramallah zu einer teilweisen Entwaffnung palästinensischer Militanter bereit erklärt hatte, rang sich Jerusalem dazu durch, die Kontrolle über die Stadt an die Autonomiebehörde abzugeben. Zwei Dörfer in der Umgebung bleiben allerdings auch weiterhin unter israelischer Kontrolle.

Hoffen auf bessere Zeiten im Kasino

Doch einer ist glücklich. "Darauf habe ich lange gewartet," sagt Hans Holek. Seitdem Israels Armee am vergangenen Mittwoch nach mehr als vier Jahren aus Jericho in den palästinensischen Gebieten abgezogen ist, läuten im Oasis-Kasino, dessen Chef der Östereicher ist, ununterbrochen die Telefone. Am Apparat sind so gut wie immer ehemalige Stammkunden, "die meisten davon aus Israel", die wissen wollen, wann das einzige legale Kasino westlich des Jordans wieder seine Pforten öffnen wird. Kurz nach dem Beginn der Tempelberg-Intifada hatte das österreichisch-palästinensische Joint Venture, das der Autonomiebehörde bis dahin Jahr für Jahr zweistellige Millionenbeträge eingebracht hatte, aus Kundenmangel schließen müssen - was sich nun schnell ändern könnte: "Wir werden noch zwei Wochen lang beobachten, wie sich die Dinge entwickeln. Aber die Chancen stehen gut."

Anderswo hingegen ist die Stimmung weniger gelöst: Zwar loben Israels Regierung und die palästinensische Führung das Ende des Belagerungsringes um Jericho, der sich wie auch in anderen Städten vor allem in vielen Kontrollpunkten an den Ausfallstraßen und häufigen Armeeoperationen in der sonst den Palästinensern überlassenen Stadt äußerte, nach außen hin als "Schritt in die richtige Richtung" (Ramallah) und "vertrauensbildende Maßnahme" (Jerusalem). Doch hinter den Kulissen beäugen sich beide Seiten hinter den Kulissen misstrauisch: Jedes Wort, jede politische Entscheidung kann zu einem plötzlichen Kälteeinbruch im Tauwetter führen - wie sich erst am Montag wieder zeigte: Nachdem es schon vor der Übergabe von Jericho zu Verstimmungen und Verzögerungen gekommen war, wurde auch der für Montag nachmittag geplante Abzug aus Tulkarem, die zweite Stufe des Anfang Februar vereinbarten Abzuges aus fünf palästinensischen Städten, verschoben, weil sich beide Seiten nicht über die Kontrolle über zwei Dörfer in der Umgebung einigen konnten. ‹Beide Seiten schauen fast stündlich mit Sorge in die andere Richtung und hoffen darauf, dass das Tauwetter hält," beschrieb ein Mitarbeiter von Israels Regierungschef Ariel Scharon am Sonntag morgen die Stimmungslage.

Argwohn und innenpolitischer Druck

Entgegen allen offiziellen Bekundungen sei das gegenseitige Verhältnis nach wie vor von tiefem Misstrauen geprägt, sagt Joel Aharonitzky, Chefreporter der Zeitung Maariv:

Die Regierung will nicht zu viel aufgeben, bevor die palästinensische Seite nicht bewiesen hat, dass für Recht und Ordnung sorgen kann; während Ramallah nach wie vor davon überzeugt ist, dass es Jerusalem mit dem neuen Kurs nicht wirklich ernst ist.

Im Prinzip gehe es dabei wirklich um Innenpolitik, erläutert Nahostexperte Neil Lochery vom University College in London:

Mahmud Abbas kann noch nicht auf eine gefestigte Machtbasis zurück greifen und muß deshalb Erfolge vorweisen, die Lebenssituation der palästinensischen Bevölkerung verbessern, ohne dabei die militanten Kräfte, die seinen Stuhl zum Wackeln bringen können, zu verprellen.

Auf der israelischen Seite drohe dem konservativen Likud-Block von Regierungschef Ariel Scharon die Spaltung: Anfang der Woche kam es zum offenen Machtkampf zwischen Scharon und seinen Widersachern unter Führung von Finanzminister Benjamin Netanjahu. Bei dem Krach geht es vordergründig um den Jahreshaushalt, der bis Ende März durchs Parlament gebracht werden muß, wenn Neuwahlen verhindert werden sollen.

In Wirklichkeit geht es bei dem Streit aber um das Referendum über den Trennungsplan. Die Botschaft des Anti-Scharonlagers ist klar: Wenn sich der Premierminister weiterhin gegen eine Volksabstimmung sperrt, werden sie gegen das Budget stimmen.

Neil Lochery

Scharon fische deshalb mit einem Entspannungskurs gegenüber den Palästinensern im linken Spektrum und bei den arabischen Parteien nach Stimmen und versuche dabei, der Rechten nicht zu sehr auf die Füße zu treten.

Plan zum Sturm des Tempelbergs

In dieser Situation komme es nahezu zwangsläufig zu politischen Fehltritten, die der jeweils anderen Anlass zum Argwohn geben: So brachte Präsident Mahmud Abbas die Israelis vor der Jericho-Übergabe mit der von einer Nachrichtenagentur zitierten Äußerung auf die Palme, nach dem Abzug aus Jericho würden der Waffenschmuggler Fuad Schubaki und Ahmed Saadat, einer der Hintermänner der Ermordung des israelischen Tourismusminister Rechawam Zeewi im Februar 2002, freigelassen werden. Beide Männer sind unter britischer Bewachung in Jericho inhaftiert.

Kurz darauf bekam dann Abbas gleich mehrmals Grund zur Verstimmung: Kanal Zwei, ein israelischer Privatsender, hatte heraus gefunden, dass jüdische Fundamentalisten planen, während der Räumung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen den Tempelberg in Jerusalem von tausenden Menschen stürmen lassen wollen. "Wenn dass passiert, kommt es zur Explosion," erklärte ein verstimmter Palästinenserpräsident am Freitag morgen knapp - nur Minuten vorher hatte die Nachricht die Runde gemacht, dass die Polizei derzeit keinen Handlungsbedarf sieht: "Hier entwickelt sich eine Katastrophe und die israelische Regierung schaut zu," fügte ein Sprecher des Informationsministeriums später hinzu.

Luftbilder von massiven Bautätigkeiten in den israelischen Siedlungen im Westjordanland

Am Samstag abend dann wurde Israels Regierung von einem Fernsehbericht, wieder bei Kanal Zwei, überrascht, in dem Luftbilder gezeigt wurden, aus denen eine massive Bautätigkeit in den israelischen Siedlungen im Westjordanland hervor geht - versehen mit der Meldung, dass die Regierung dies zwar immer dementiert habe, es aber bis zur vergangenen Woche nicht für nötig befand, die Behauptung der Palästinenser zu überprüfen: Erst am Montag war Verteidigungsminister Schaul Mofas nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Siedlervertretern aufgefallen, dass es keine Luftbilder gibt, die dann eilig in Auftrag gegeben wurden und es auf Umwegen zuerst in die Medien und dann in die Vorlagemappen der Regierung schafften.

Auf die Beteuerungen, davon habe man nichts gewußt und werde sofort dagegen vorgehen, folgte nur 48 Stunden später die Ankündigung, 3500 weitere Wohneinheiten im Westjordanland genehmigen zu wollen, "ein Vorgang," so der Scharon-Mitarbeiter, "zu dem ich absolut nichts zu sagen habe" - im Gegensatz zur palästinensischen Seite: "Daran kann man sehen, wie ernst es der israelischen Regierung wirklich ist," heißt es im dortigen Informationsministerium. "Wir hoffen jetzt darauf, dass man sich eines Besseren besinnt und den Worten endlich Taten folgen lässt."

Doch auch Kasino-Manager Hans Holek bleibt nicht von Hiobsbotschaften verschont: Am Sonntag morgen erklärte die Regierung, man werde israelischen Staatsbürgern den Aufenthalt in Jericho vorerst nicht erlauben. Zwar wird nun nicht mehr kontrolliert, wer in die Stadt einreist, doch bei ihrem Verlassen werden nach wie vor Ausweiskontrollen durchgeführt. Israelis, die gegen das Aufenthaltsverbot verstoßen, drohen hohe Geldstrafen. "Sollte sich die Lage weiter entspannen, wird diese Regelung aber überprüft werden," sagte ein Regierungssprecher am Dienstagmorgen.