"Analphabeten haben in der Wissensgesellschaft keine Chance"

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Joachim Tiedemann von der Universität Hannover über die Gründe für die schlechte Lesekompetenz bei deutschen Grundschülern

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Internationale Studien bescheinigen deutschen Jugendlichen unterdurchschnittliche Lesekompetenzleistungen. Die IGLU-Studie offenbart, dass auch ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Grundschüler bereits Defizite etwa im Bereich der Lesekompetenz aufweist. Das Institut für Psychologie und Soziologie der Universität Hannover, vertreten durch die Professoren Elfriede Billmann-Mahecha und Joachim Tiedemann,hat in einer Studie (2004) die Entwicklung der Lesekompetenz bei Grundschülern Hannovers unter die Lupe genommen.

Bedeutsam ist dabei die Erkenntnis, dass die hannoverschen Grundschüler im Vergleich zu Schülern aus anderen Bundesländern schlechter abschnitten. Der Bundesdurchschnitt wurde nicht annähernd erreicht. Das folgende Interview mit Prof. Dr. Joachim Tiedemann soll einen ersten Einblick darüber geben, warum diese schlechten Ergebnisse erzielt wurden und wo möglicherweise Ursachen zu finden sind. Der abschließende Forschungsbericht wird für April erwartet.

Welche Faktoren sprechen für das schlechte Abschneiden in Bezug auf die Lesekompetenz bei den hannoverschen Grundschulkindern?

Joachim Tiedemann: Die Befunde zeigen, dass etwa 18% der hannoverschen Grundschulkinder bestenfalls gesuchte Wörter in einem Text erkennen können. Das sind Kinder, die man als extreme Risikoschüler verstehen muss, weil deren Defizite in der späteren Schulzeit kaum noch korrigiert werden. Fast die Hälfte der Schüler erreicht nicht die Kompetenzstufe 3. Erst auf dieser Stufe kann man von einer brauchbaren Lesekompetenz sprechen. Mit anderen Worten, viele Schüler weisen eine eher unzureichende Lesekompetenz auf. In den meisten Bundesländern werden bessere Werte erzielt. Von den in Deutschland vorliegenden Vergleichsdaten schneidet nur Bremen schlechter ab.

Ähnlich wie bei der IGLU-Studie fragen Sie nach dem Migrationshintergrund der Kinder und stellen u.a. fest, dass hier eindeutig Einflussfaktoren zu finden sind. Sie zeigen auch, dass diese Kinder häufig zweisprachig aufwachsen und dennoch Verständnisschwierigkeiten haben. Wie können wir diesen Kindern helfen?

Joachim Tiedemann: Unsere Ergebnisse zeigen den großen Einfluss der von den Kindern in der Freizeit gesprochenen Sprache. Kinder, die auch in der Freizeit nicht Deutsch sprechen, weisen die geringste Lesekompetenz auf. Es reicht eben nicht aus, wenn Kinder nur in den wenigen Vormittagsstunden Deutsch sprechen. Für solche Kinder ist die Ganztagsschule dringend geboten. Darüber hinaus haben diese Kinder einen erhöhten Förderbedarf, damit z.B. auch eine ausreichende Leseflüssigkeit erzielt wird. Dies können die Lehrkräfte im "normalen" Unterricht nicht leisten. Dafür ist zusätzliche Unterstützung dringend geboten.

Versagt hier nicht auch das Bildungssystem mit seinen "deutschen" Ansprüchen? So könnte doch durchaus die zweite Fremdsprache gefördert und letztlich anerkannt werden. Steht diesem Modell hier der Integrationsanspruch unserer Gesellschaft entgegen? Oder sind es zu viele unterschiedliche Sprachen, die sich an den Grundschulen wiederfinden?

Joachim Tiedemann: Wenn Schüler in unserem Land erfolgreich sein wollen, z.B. auch im Beruf, dann müssen sie diese Sprache beherrschen. Daran führt kein Weg vorbei. Wer das nicht klar zu erkennen gibt, streut den Betroffenen Sand in die Augen. Man schadet den Betroffenen, wenn man dies nicht klar zum Ausdruck bringt.

Ihre ersten Ergebnisse offenbaren jedoch weiterhin, dass auch Kinder ohne Migrationshintergrund deutliche Schwierigkeiten haben, überhaupt die 1. Kompetenzstufe zu erreichen. Wo liegen hier Ihrer Ansicht nach die Hauptursachen?

Joachim Tiedemann: Es gibt heute viel mehr vernachlässigte Kinder als es den Anschein hat. Kindern den Fernseher als Babysitter anzubieten, bedeutet Vernachlässigung. In diesem Sinne wachsen heute viele Kinder auch ohne Migrationshintergrund in desolaten Verhältnissen auf, die eine angemessene Heranführung an das Lesen und den Stellenwert des Buches behindert. Eltern, die selbst nicht lesen, können Kindern kein angemessenes Vorbild sein.

Lesekompetenz ist eine Schlüsselkompetenz

Ist der Begriff der Lesekompetenz im Zeitalter der Informationstechnologien und der Vielfalt von Medienangeboten überhaupt noch zeitgemäß? Informationen werden nur noch verkürzt dargestellt und vermittelt. Selbst in den Zeichentrickserien für die Zielgruppe der Grundschulkinder wird eher mit einer stringenten Sprache gearbeitet. Und die Schüler selbst verständigen sich in solchen Sprachfragmenten und verstehen sich offenbar. Lediglich in den Anforderungen der Schule werden andere Sprachformen erwartet.

Joachim Tiedemann: Was ist eine stringente Sprache? Kann eine Gesellschaft mit Piktogrammen leben und zukünftigen Anforderungen gerecht werden? Lesekompetenz ist eine Schlüsselkompetenz, wenn nicht sogar - für Kinder - die Schlüsselkompetenz für schulische Kompetenz-Entwicklung. Wer das zu relativieren versucht, handelt unverantwortlich. Analphabeten haben in der Wissensgesellschaft keine Chance. Insofern ist Lesekompetenz zumal in Zeiten des Internets wichtiger denn je.

Sind die "Neuen Medien" wirklich Lernverhinderer, weil sich die Kinder zu oft und meistens auch viel zu lange dem Fernseher oder dem Computerspiel hingeben? Prof. Spitzer (Autor des Buches "Vorsicht Bildschirm") zum Beispiel spricht von der Verhinderung der Verankerungsmöglichkeit, um das am Vormittag Gelernte ins Langzeitgedächtnis übernehmen zu können. Gestützt wird diese Korrelation ja auch dadurch, dass Sie den Fernsehbesitz im Kinderzimmer abfragen und auch hier eine deutlich schlechtere Lesekompetenz ableiten.

Joachim Tiedemann: Unsere Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass Kinder, die einen eigenen Fernseher im Zimmer haben, deutlich schlechtere Lesekompetenzen und auch Rechtschreibleistungen aufweisen. Diese Ergebnisse kann man nur so interpretieren, wie ich das oben angedeutet habe. Eltern müssen eine "gate keeper- Funktion" wahrnehmen und auch den Zugang zum Fernsehen kontrollieren. Unsere Studien mit Vorschulkindern zeigen vergleichbare Ergebnisse: Kinder, die schon als Fünfjährige unkontrolliert fernsehen, sind längerfristig die Verlierer in der Grundschule. Eltern, die ihre Erziehungsfunktion nicht angemessen wahrnehmen, leiten hier eine ungünstige Entwicklung ein.

Das A und O einer guten Lesekompetenz-Förderung ist die Motivation

Brisant ist auch das Ergebnis, dass die ungenügende Lesekompetenz offensichtlich mit einer mangelhaften Methodenvielfalt der Lehrkräfte einher kommt. Muss man da nicht eigentlich die These ableiten, dass die Erwartungen der Schule und der Lehrpläne nicht mehr mit der Entwicklung und Ausprägung von heutigen Kinder in Einklang stehen? Die Grundschule besuchen eben auch viele Kinder mit einem Migrationshintergrund und viele dieser Kinder haben einschlägige Medienerfahrungen. Warum kann die Schule diese Kinder nicht entsprechend auf die Leseanforderungen vorbereiten?

Joachim Tiedemann: Die einzig sinnvolle Konsequenz ist, dass eine vernünftige Förderung bereits für alle Kinder im Kindergarten erfolgt. Dahin gehört auch die Sprachförderung. Die Kinder müssen rechtzeitig an Lerngelegenheiten herangeführt werden. Nur so kann verhindert werden, dass Lehrkräfte sich im Grundschulbereich über weite Strecken mit Tätigkeiten aufhalten, die mit dem eigentlichen Unterricht wenig zu tun haben.

Sie wollen mit den Kindern in der nächsten Stufe Ihres Forschungsprojektes geeignete Förderungsmöglichkeiten erproben. Können Sie dazu einige wichtige Eckpfeiler darstellen?

Joachim Tiedemann: Das A und O einer guten Lesekompetenz-Förderung ist die Motivation. Schüler sollten ein konkretes Ziel z. B. aus dem Sachunterricht vor Augen haben und eigene Fragestellungen entwickeln. Zur Beantwortung dieser Fragen kann dann auf das Medium Buch zurückgegriffen werden. Wichtige Elemente der Förderung sind somit Motivation, die Orientierung an Sachthemen, welche die Schüler interessieren und die Förderung von Lesestrategien. Weiterhin muss eine angemessene Leseflüssigkeit sichergestellt werden.

Ist es bei den geplanten Fördermaßnahmen vorgesehen, die Eltern mit einzubinden?

Joachim Tiedemann: Wenn das gelänge, wäre es nur zu begrüßen. Erfahrungsgemäß erreicht die Schule aber bestenfalls Eltern, deren Kinder eine zusätzliche Förderung auf dieser Ebene nicht nötig haben. Die Eltern, deren Mitarbeit in diesem Zusammenhang wichtig wäre, verhalten sich leider eher abstinent.

Ist die Verschulung von Freizeit wirklich die einzige Antwort, um Kindern dauerhaft zu helfen? Suchen Kinder nach einem dermaßen vollen Arbeitstag in einer Schulgruppe nicht umso stärker nach individueller "medialer Entspannung" und gerät dabei das Gelernte nicht wieder zwangsläufig ins Vergessen?

Joachim Tiedemann: Ein zentrales Grundübel ist die Tatsache, dass viele Migranten die Landessprache nicht beherrschen und ihre Kinder nicht selten mit rudimentären Sprachkenntnissen die Schule besuchen. Wenn diese Kinder dann auch noch in der Freizeit nicht genötigt sind, die Landessprache zu sprechen und stattdessen das Fernsehprogramm in ihrer Familiensprache verfolgen, muss es nicht verwundern, dass ihre Sprachkenntnisse und ihre Lesekompetenz rudimentär bleiben. Wenn vor diesem Hintergrund der Ruf nach der Ganztagsschule ertönt, ist das nur der Versuch, dieses Versäumnis nachträglich so gut es geht zu korrigieren.

Im übrigen darf der Unterricht der Ganztagsschule nicht als Verlängerung des Vormittagsunterrichts missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich dabei zumeist um Zusatzangebote, die sehr stark auf die Interessen der Schüler zugeschnitten sind und damit einen hohen Aufforderungscharakter besitzen. Dies gibt Raum für wichtige pädagogische Erziehungsarbeit, von der auch viele Kinder ohne Migrationshintergrund profitieren. Insofern ist die Zuschreibung "Verschulung der Freizeit" völlig deplaziert.

Anmerkung

Lesekompetenzstufen zur Erläuterung: Zur Bewertung der Lesekompetenz wurden die Ergebnisse in vier Stufen eingeordnet, um auf diese Weise ein Bild der an der Studie beteiligten Kinder zu zeichnen und weitere korrelierende Schlussfolgerungen zu ziehen.

Lesekompetenzstufen

  1. gesuchte Wörter in einem Text erkennen
  2. angegebene Sachverhalte aus einer Textpassage erschließen
  3. implizit im Text enthaltene Sachverhalte aufgrund des Kontextes erschließen
  4. mehrere Textpassagen sinnvoll miteinander in Beziehung setzen