Fernweh

Kulturschock USA - sechster und letzter Teil

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Ich bin nach Deutschland zurückgeflogen. Die Deutschen fragen mich, seit ich hier lebe (1992), warum ich hier bleibe und ob es mir in Deutschland überhaupt gefällt. Meistens schwingt ein seltsamer Unterton mit, als könnte einem Ausländer dieses Deutschland nie so wirklich gefallen. Manchmal glaube ich, dass die Deutschen so viele Komplexe aufgrund einer 12-jährigen Periode haben, dass sie ihren berechtigten Stolz verbergen. In den USA hingegen geht man eher davon aus, dass es allen gefällt. Komme ich mir deshalb so komisch vor, wenn man mich in Deutschland fragt, ob ich nicht lieber zurückgehe?

Ich unterhielt mich eines Abends mit einem US-Soldaten, den wir im Teil V (Love it or leave it) Manta genannt haben, um seine Identität zu schützen. Seine Frau taufe ich hiermit Sandy im Andenken an den Mann hinter Kentucky Fried Chicken, der sein Vermögen erst mit 65 von seiner mickrigen Pension machte: Colonel Sanders.

Sandy und Manta wollten von mir wissen, wie sie auswandern können, denn sie wollten nicht wie alle Amerikaner ihr ganzes Leben arbeiten und nichts davon haben außer ein bisschen Konsum. Ich mahnte zur Vorsicht.

"Wieso?" fragte mich Sandy. "Gefällt dir Deutschland nicht?"

"Doch, doch", beschwichtigte ich sie. "Mit Deutschland selbst hat es wenig zu tun, sondern mit dem Status eines Ausländers. Deutschland ist bestimmt genauso gut wie 30 oder 40 andere Länder - nur, ich kann halt nicht alle Sprachen von allen 30 oder 40 Ländern, die auch so gut sind. Könnt ihr eine Fremdsprache?"

"Ein bisschen Spanisch," sagten die beiden.

"Gut, das hilft. Wollt ihr nach Spanien?"

"Egal. Italien wäre auch schön", sagte Manta. "Oder Frankreich", fügte Sandy hinzu.

"Na, egal ist das nicht", sagte ich. "Wenn du die Sprache gar nicht kannst, bist du nicht du selbst. Du kannst auf Jahre keinen Humor, keine Persönlichkeit zeigen. Du müsstest raus unter die Einheimischen, damit du die Sprache besser lernst, aber dir schwirrt der Kopf nach 10 Minuten Gespräch auf einer Fete. Ein ganzer Abend ist wie ein Staatsexamen. Bald hängst du lieber mit anderen Ausländern rum, denen es genauso geht wie dir."

"Als Amerikaner werdet ihr es auf eine Art schwerer haben, denn alle werden Englisch mit euch reden wollen. Wann sollst du dann die Fremdsprache lernen? Dabei haben wir's eigentlich gut", erzählte ich. "Ich kenne einen Asylanten aus dem Iran in Freiburg. Der Mann war eines Abends auf dem Heimweg Zeuge einer Massenhinrichtung. Er fuhr gar nicht mehr heim, sondern flüchtete gleich über die Grenze. Er verbrachte Jahre in einem Container in Süddeutschland mit anderen Asylanten. Keiner von ihnen konnte Deutsch, und die Deutschen wollten ihnen kein Deutsch beibringen, denn das kostet viel Geld, und schließlich wird man die Leute in die Heimat zurückschicken. Stelle dir mal vor, du musst Menschen, deren Sprache du nicht kannst, beweisen, dass du auf der Flucht bist, weil du etwas Schlimmes gesehen hast, was aber offiziell gar nicht passiert ist..."

"Man kritisiert oft die Einheimischen, wenn Ausländer nicht gut integriert sind, aber die Gettoisierung kommt auch von den Ausländern selbst", fuhr ich fort.

"Irgendwann bist du nur noch von Ausländern umgeben, die auch keine einheimischen Freunde haben, und alle fangen an zu behaupten, die Einheimischen wären kalt und abweisend. Ich habe das jahrelang in Deutschland erlebt und dachte, das muss so stimmen, denn alle Ausländer fanden die Deutschen uninteressiert und unfreundlich."

"Dann war ich ein Jahr in Frankreich. Meint ihr, die Ausländer haben anders über die Franzosen geredet? Die Deutschen in Frankreich gaben sich sehr, sehr gerne mit mir ab, weil sie auf deutsch mit mir frei von der Leber schwätzen konnten. Was haben die Deutschen die Franzosen schlecht geredet! Man werde mit ihnen nie warm, sie interessierten sich nicht für Ausländer, usw. Richtige Integration ist eine Mammutaufgabe, auch wenn die Bedingungen in der Wahlheimat gut sind. Beide Seiten müssen alles geben."

"Aber du hast es geschafft, oder?" wollte Sandy wissen. "Du bist doch in Deutschland integriert?"

"Ach, manchmal weiß ich selber nicht. Ein bisschen Restanderssein bleibt immer. Mich fragt halt keiner in den USA, wie es mir in den USA gefällt. Das Standard-Kennenlern-Gespräch in Deutschland läuft nach 14 Jahren immer noch so ab:

Nette neue Bekanntschaft: "Wie war gleich noch einmal dein Name?"

Ich: "Craig."

Nette neue Bekanntschaft: "Woher kommst du, Greg?"

Ich: "Aus den USA."

Nette neue Bekanntschaft: "Und was machst du hier?"

Ich: "Ich lebe hier."

Nette neue Bekanntschaft: "Wieso? Gefällt es dir hier? Ich meine, die meisten Amerikaner..."

Es folgt ein informativer Vortrag über das Wesen meiner Landsleute, umrahmt von verständnislosen Blicken und weiteren Fragen, ob ich es hier wirklich aushalten könne.

"Wieso das?" wollte Sandy wissen. "Deutschland gefällt den Deutschen nicht?"

"Doch, sie lieben es über alles", meinte ich, "sie dürfen es nur nicht zugeben - wegen Hitler und so. Sie belächeln uns, weil wir immer eine US-Fahne in der Hand haben, denn sie wissen, dass sie eben besser sind als wir, weil sie nicht so tun, als wären sie besser."

"Faszinierend", sagte Sandy.

"Pervers", sagte Manta. "Aber nicht halb so schlimm wie die ganzen bekloppten Amerikaner, die gar keine Evolutionstheorie in der Schule unterrichtet haben wollen. Wir sollen alle lernen, die Erde sei vor 6.000 Jahren von Gott erschaffen worden!"

Nicht jeder Fehler ist unbeabsichtigt. Hier ein Ausfahrtsschild für die Universität Yale. George W. Bush soll als Präsident diese Ausfahrt genommen haben, als er eine Rede an seiner Alma Mater hielt, in der er den mittelmäßigen Studenten an Yale mit den Worten Mut gemacht hat: "Wenn ihr auch nur eine 4 bekommt, könnt ihr trotzdem Präsident werden!" Das Schild soll allerdings schon länger dort stehen. Foto: Jens Schmitz

"Ich weiß, was du meinst", sagte ich. "Ich habe mich auch tierisch darüber aufgeregt, als Kalifornien 1994 beschlossen hat, illegalen Einwanderern und einer Reihe von legalen Einwanderern den Zugang zu unserem Sozialstaat, zu Schulen und zu anderen öffentlichen Einrichtungen zu verwehren. Jeder weiß, dass wir eine Unmenge an illegalen Einwanderern haben - und brauchen: Sie machen unsere Drecksarbeit. Aber am Sozialstaat sollten sie nicht teilnehmen."

"Das ist leider im Ausland auch nicht anders," fuhr ich fort, "nur umgekehrt, denn ihr seid dann die Ausländer. Ihr schimpft zu Recht über diese Heuchelei unter den fanatischen Christen in den USA, aber es ist unser Land und wir haben hier immerhin Rechte. Im Ausland habt ihr keine. Dort ist die Heuchelei dann gegen euch gerichtet."

"Auch in Deutschland?" fragte Manta.

"Aber hallo", sagte ich. "Die Christdemokraten haben in den 1990ern das Boot für voll erklärt, um Ausländer raus zu halten. Und unter der christdemokratischen Regierung mussten Ausländer 15 Jahre auf die Einbürgerung warten. Rot-Grün hat diese Wartezeit auf 8 Jahre reduziert. Dabei schneidet Deutschland in der Einwanderungspolitik im Vergleich mit Ländern außerhalb der EU gar nicht so schlecht ab. Mich wundert nur, dass ausgerechnet die christlichen Parteien so streng mit Ausländern umgehen. Das ist aber hüben wie drüben genauso."

"Dann kannst du aber nach deinen mehr als 11 Jahren den deutschen Pass beantragen. Wo liegt das Problem?" wollte Sandy wissen.

"Ich müsste meinen US-Pass abgeben. Deutschland sagt zwar, dass die doppelte Staatsbürgerschaft nicht erlaubt ist, aber in der Praxis gilt dies nur für Ausländer. Niemand kontrolliert, wenn ein Deutscher seinen Pass verlängert, ob er mittlerweile einen zweiten Pass hat. In den USA haben Ausländer übrigens nach nur fünf Jahren einen Anspruch auf einen US-Pass, und sie müssen den alten Pass nicht abgeben. Erwartet bitte keine solche Behandlung im Ausland. Dann werdet ihr auch nicht enttäuscht."

"Und wie ist es mit dem Sozialstaat dort? Hast du als Ausländer Zugang dazu?" fragte Sandy.

Rote Karte für die deutsche Green Card

1998 lief meine auf fünf Jahre befristete Stelle an der Uni Freiburg aus. Ich beschloss, mein Glück in Freiburg zu suchen und nicht zurück in die USA zu gehen. Seltsamerweise musste ich 1997 bei der letzten Verlängerung meines Arbeitsvertrags unterschreiben, dass ich vorhatte, in die USA zurückzukehren. Der Grund war ganz einfach: Die Uni wollte nicht verklagt werden. EU-Ausländer waren nämlich dabei, die Behandlung von Ausländern bei solchen befristeten Stellen gerichtlich klären zu lassen.

Obwohl ich fünf Jahre lang Arbeitslosengeld bezahlt hatte, konnte ich am Ende keines beziehen, denn meine Aufenthaltserlaubnis lief am selben Tag wie meine Arbeitserlaubnis und mein Arbeitsvertrag ab. Beim Arbeitsamt hieß es, man sei schon bereit, mir Arbeitslosengeld zu zahlen, aber nur wenn ich legal im Lande lebe. Als ich aber dann meine Aufenthaltserlaubnis verlängern wollte, fragte man mich bei der Ausländerbehörde, wie ich mich denn so über Wasser halten wollte. Arbeitslosengeld war nicht die richtige Antwort.

Es gab damals überhaupt keine Green Card/carte de séjour in Deutschland, sondern nur eine getrennte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Ich musste für jeden noch so kleinen Job extra eine Arbeitserlaubnis beantragen, und zwar immer vor Ort. Wollte ich in Emmendingen vier Stunden pro Woche arbeiten, musste ich die Arbeitserlaubnis für genau diese vier Stunden dort beantragen. Das dortige Arbeitsamt musste nämlich zunächst einmal feststellen, dass es keine deutschen Arbeitnehmer für diese vier Stunden gab. Das konnte auch Monate dauern. Hatte ich endlich eine Arbeitserlaubnis für vier Stunden in Emmendingen, so galt diese nicht für zwei Stunden in Freiburg.

Ich musste in den 1990ern immer wieder stundenlang neben allen anderen Ausländern bei der Ausländerbehörde auf eine Audienz warten, aber es war keine komplett verlorene Zeit. Ich lernte, dass nur die EU-Bürger und "Volksdeutschen" aus dem Osten noch besser als wir Amerikaner von den deutschen Behörden behandelt werden. Die Ausländer aus den Entwicklungsländern stehen nämlich generell unter Verdacht, Böses im Schilde zu führen - wahrscheinlich wollen sie hier bleiben! (Unvorstellbar, ich weiß - sie wollen bestimmt nur Sozialhilfe, das Schönste an Deutschland... was soll man hier sonst wollen?)

Ich beschloss, mein Glück zu provozieren. Die netten, verständnisvollen Behörden erklärten mir zum wiederholten Male geduldig die Gesetzeslage. Ich erklärte ihnen, dass ich niemals für jeden popeligen Job monatelang auf eine Erlaubnis zu warten gedächte. Ich verlangte eine kombinierte Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis - wie die amerikanische Green Card oder die französische carte de séjour - für eine bestimmte Zeit, meinetwegen ein Jahr, und versicherte den Beamten, dass ich nicht vorhatte, auf Sozialhilfe zu leben. Ich würde dem Staat nicht auf der Tasche liegen.

Die armen Beamten erklärten mir mitleidig, dass das, was ich verlangte, in Deutschland gar nicht existiert. Ihre Hände seien gebunden.

"Dann müssen Sie mich eben abschieben," sagte ich, "denn so einen Schwachsinn habe ich noch nie erlebt, und ich werde mich auch nicht dran halten."

So einen Schwachsinn hatten die armen Beamten auch noch nie erlebt. Sie baten mich kurz zu warten und verschwanden. Einige Minuten später wurde ich zu einem ihrer Vorgesetzten durchgelassen, der von mir wissen wollte, wieso ich so gerne in Deutschland leben wollte. Was gefiel mir hier so gut? Er würde selbst gerne in den USA leben, so wie die meisten Deutschen. (Das war 1997, vor der Bush-Regierung. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, dass so viele Deutsche in den USA leben möchten.)

Ich schwafelte wohl irgendwas von wegen Kultur statt Konsum, geistigen Werten statt Materialismus, sozialem Zusammenhalt statt Individualismus - letzteres vermutlich genau das, was ein Ausländer bei der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis nie sagen sollte.

Irgendwas beeindruckte ihn. Der Inhalt meiner Ausschweifungen war es bestimmt nicht, schon eher mein Durchhaltevermögen.

Er zog ein kleines Stück Papier und einen Stift hervor und stellte mir die untenstehende "Green Card" aus, die wohl im Härtetest nie was getaugt hätte, aber immerhin habe ich ihn die restlichen paar Monate in Ruhe gelassen, bis mir eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis per Gesetz zustand. (Meine unbefristete Arbeitserlaubnis hatte ich 2 1/2 Jahre später.)

Meine ganze persönliche, einmalige Green Card, die mir im November 1997 ausgestellt wurde, vier Monate, bevor mir eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zustand. Die Initialen des Ausstellers habe ich ausgelassen, um seine Identität zu schützen.

"Deshalb war ich so enttäuscht," erklärte ich Sandy und Manta, "als Deutschland wenig später eine solche Kombi-Erlaubnis für Aufenthalt und Arbeit 'Green Card' nannte. Die wollten Inder für die IT-Branche gewinnen, aber die Inder sind nicht darauf reingefallen. Sie wussten, was die Unterschiede zwischen der amerikanischen und der deutschen Green Card waren. Die Inder sollen maximal fünf Jahre bleiben und danach auf jeden Fall heimgehen. Wozu so schnell Deutsch lernen, wenn man es später nicht gebrauchen kann, weil man des Landes verwiesen wird?"

"Tja", sagte Sandy sarkastisch vor ihrem Regal voller Geschichtsbücher, "aber warum sollen die Inder von einem so tollen Sozialstaat profitieren? Schließlich waren sie damals gar nicht dabei, als die deutschen Arbeitnehmer ihre hart erkämpften Rechte mit den Arbeitgebern ausgehandelt haben, sondern sie lungerten wohl in irgendeiner europäischen Kolonie nutzlos herum..."

12. September 2001

Ich habe mich in den Jahren danach oft gefragt, ob es wirklich so eine gute Idee war, mir dieses Ausländerdasein anzutun, nur um... ja, um was zu entkommen? Was gefällt mir nicht an den USA? Und ist Deutschland wirklich besser?

Bei meiner Entscheidung 1997-98 für Deutschland und gegen die USA war ich sehr von meiner Heimat enttäuscht. Bill Clinton hatte den Sozialstaat ab 1994 quasi abgeschafft. Und obwohl eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner die gesetzliche Gesundheitsversorgung haben wollte, waren die Demokraten unfähig, diese gegen die Pharma-Lobbys durchzusetzen.

Als Lektor an der Uni Freiburg 1993-98 war es unter anderem meine Aufgabe gewesen, das politische System meines Landes zu erklären. Der Republikaner Jesse Helms ist 1994 zum Vorsitzenden des Foreign Affairs Committee nominiert worden. Der Mann machte klar, dass er keine Gelder von Amerikanern in irgendwelchen "Rattenlöchern" (rat holes) in Afrika vergeuden wollte. So viel zur Entwicklungspolitik meiner Heimat.

Ich stellte meinen deutschen Studenten auch den Senator mit der längsten Amtszeit (48 Jahre) vor: den Republikaner Strom Thurmond. Dieser Mann wechselte sogar während der Bürgerrechtsbewegung die Partei, um gegen die Rassenintegration zu protestieren - vier Jahrzehnte, nachdem er eine Schwarze geschwängert hatte.

Ich fragte meine deutschen Studenten, wo solche Leute in der deutschen Politiklandschaft anzusiedeln wären. Sie waren sich einig: bei den deutschen "Republikanern". Und wenn ein deutscher Politiker sagen würde, die deutsche Entwicklungshilfe solle nicht in irgendwelchen afrikanischen Rattenlöchern versinken, sondern man solle runter mit den Steuern, dann würden viele Deutsche auf die Straße gehen, meinten die Studenten.

Die Amerikaner sind nicht gegen Jesse Helms auf die Straße gegangen, sondern sie haben ihn zum Vorsitzenden des Gremiums ernannt, das über die Entwicklungshilfe entscheidet.

Es waren unter anderem solche abgehobenen politischen Unzulänglichkeiten, die mich 1998 in Deutschland hielten, aber ab dem 12. September 2001 kamen die alltäglichen Belange wieder ins Rampenlicht. 1998 habe ich meine Bewerbung für eine Stelle als Direktor des Zentrums für Internationale Studiengänge an einer guten Uni in den USA zurückgezogen. Ich hatte bestimmt gute Chancen: Die Professorin, die seinerzeit meine "Bachelor's Thesis" betreut hatte, war zur Dekanin an dieser Uni avanciert. Zwischen 1998-2001 hatte ich mich oft gefragt, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Ab dem 12. September 2001 war ich mir sicher, dass die Entscheidung richtig war. Aus Europa betrachtet, schienen die Amerikaner vor Patriotismus erblindet zu sein. Organisationen wie der American Council of Trustees and Alumni (ACTA) veröffentlichten Studien wie "Defending Civilization: How Our Universities Are Failing America and What Can Be Done About It", in denen sie gegen alle Professoren und Studenten wetterten, die anders als Bush denken:

Rarely did professors publicly mention heroism, rarely did they discuss the difference between good and evil, the nature of Western political order or the virtue of a free society. Indeed, the message of much of academe was clear: BLAME AMERICA FIRST.

Der ACTA wurde 1995 von Lynn Cheney (der Frau des heutigen republikanischen Vize-Präsidenten) und dem demokratischen Senator Joe Liebermann gegründet, der 2000 Geschichte machte, als Al Gore ihn zu seinem "running mate" auserkor - der erste jüdische Kandidat fürs Weiße Haus (als Vize-Präsident).

Ende 2001 entstanden auch schwarze Listen wie Campus Watch, auf denen die Namen von angeblichen Israel-kritischen (sprich: pro-arabischen und deshalb pro-terroristischen) Professoren standen. Auf der Webseite der Students for <Academic Freedom kann man heute noch seinen Professor anzeigen, wenn er seine "Seminare für politische Traktate statt für die Suche nach der Wahrheit missbraucht". Dabei ist diese Webseite nicht etwa das Produkt aufgebrachter Studenten, sondern das Hirngespinst von David Horowitz, Verleger und Autor des Buches "Unholy Alliance: Radical Islam and the American Left".

Mercy, mercy me

"Die hätten dir das Leben als Direktor des Austauschdienstes zur Hölle gemacht", dachte ich, als ich im Auto von Austin zurück nach New Orleans fuhr. Im Radio liefen viele christliche Sender, die Hass predigten. Immer wieder fielen mir die Gespräche ein, die ich damals mit sogenannten "Konservativen" hatte, die gegen Abtreibung, Schwule, etc. waren. Ich habe diesen Leuten damals zugehört und sie ernst genommen. Ich fragte sie, ob man nicht lieber die Gewalt in heterosexuellen Ehen verhindern sollte, bevor man die Liebe zwischen Homosexuellen verbietet.

Ich fragte sie, warum der Mensch Gottes Strafe vollstrecken muss, wenn Gott allwissend und allmächtig ist. Und ich versuchte ihnen klarzumachen, dass es im Neuen Testament um die Ablehnung des Alten Testaments geht: "Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein."

Ich weiß nicht, ob ich jemanden dadurch milder gestimmt habe. Wenn ich das Land heute sehe, scheinen alle aufgebracht zu sein. Die Rechten verfolgen die Linken regelrecht, und die Linken beschimpfen die Rechten. Wer redet noch sachlich und respektvoll miteinander?

Die Konfusion ist groß. Die sogenannten Konservativen haben die Moral für sich gepachtet. Die Umweltschützer, die die Erde tatsächlich "konservieren" wollen, wissen gar nicht, wie sie ihre Botschaft rüberbringen sollen, denn die Gegner heißen schon "konservativ". Das sind aber die, die die Ressourcen der Erde schnellstens aufbrauchen wollen, denn das Ende der Welt naht. Diese Konservativen haben sogar einen Index für das nahende Ende geschaffen.

Plötzlich kam ein Stück von Mose Allison im Radio. Mose, mein Guru, wie ich ein Weißer aus Mississippi. Ein Mann, der nicht die gewaltige Stimme eines schwarzen Bluessängers wie Willie Dixon hat, aber seine Stimme trotzdem im Blues gegen den Unsinn der Welt einsetzt. Seine Worte aus der Zeit des Vietnam-Kriegs begleiteten mich auf dem Highway durch Süd-Louisiana:

I can't believe the things I'm seeing
I wonder 'bout some things I've heard
Everybody crying mercy
But they don't know the meaning of the word

A bad enough situation
Is sure enough getting worse
Everybody crying justice
Just as long as there's business first

Die Fahrt auf dem Highway war ruhig. Niemand drängte mich von hinten. Lichthupe? Wird in den USA nur verwendet, um entgegenkommenden Autos zu signalisieren, dass ein Polizist mit Radar lauert. Ich war sowieso niemandem im Wege. Alle fuhren 85 mph. Das Tempolimit war vielleicht 70 oder 75 mph, so genau wusste ich es nicht. Wir fuhren alle zusammen zu schnell, denn zusammen sind wir stark. Die Polizei kann uns doch gar nicht alle anhalten.

Mich überholte sogar langsam ein riesiger LKW mit 90 mph. Es war eine schöne, ruhige Fahrt. Warum kann man dieses Zusammensein, diesen Ungehorsam auf dem Highway nicht ausdehnen?

Das Land ist seit eh und je gespalten. Man erzählte früher den armen Weißen, die Neger seien Untermenschen. Die Saison der Negerjagd war eröffnet! Der Rassismus wurde geschürt, damit die armen Weißen und Schwarzen sich ja nicht zusammen tun und ihre vielen gemeinsamen Interessen gegen die Reichen im Land verteidigen. Lieber lynchen diese Idioten ein paar Neger, als dass sie uns abwählen...

Alle vier Jahre zaubern die Politiker dann wieder schnell die alte Kiste hervor: Schwulenehen, Abtreibungen, Verbrechensbekämpfung usw. Man lenkt die Menschen mit Themen ab, die überall kontrovers sind. Man teilt sie so in Grüppchen auf, damit die wichtigen, gemeinsamen Interessen untergehen. So kriegt man die Menschen dazu, gegen ihre ureigensten Interessen zu wählen.

Wer zeigt Gnade? Mose, was sagst du dazu?

Everybody crying peace on earth
Just as soon as we win this war

Abflug

Am Flughafen in New Orleans tags drauf war ich irgendwie wirr im Kopf, obwohl ich gar nichts getrunken hatte. Ich verabschiedete mich von meinem Bruder und lief zum Terminal.

Dort wurden die Passagiere der Reihe nach aufgefordert einzusteigen: "Now boarding passengers in sections A and B." Ich stand auf und lief zum Ende der Schlange. Vor mir stand eine große Gruppe von etwa 20 Deutschen im gesunden Alter von 30-45. Alle hielten Karten mit dem großen Buchstaben "F" darauf. Ich bekam mit, wie sie sich auf deutsch darüber unterhielten, wessen Englisch am schlimmsten sei. Derjenige sollte gleich nach vorne gehen und versuchen einzusteigen. Die anderen würden alle mitkommen.

"Verdammte Scheißeeeee!" schrie etwas in mir. Ich taumelte vor Wut. Mir wurde immer wirrer im Kopf. "Ihr kommt in mein Land und wagt es, euch nicht anzupassen! Ihr wisst ganz genau, wie das hier abläuft, aber ihr könnt nicht wie alle anderen warten, nein, ihr müsst unbedingt länger im Flugzeug sitzen!"

"Steig nicht ein!" hörte ich plötzlich eine Stimme im linken Ohr. Ich schaute hin und sah eine kleine Figur, die in der Luft schwebte. "Luzifer!" erschrak meine Bibel-Gürtel-Seele. Aber dann kam mir die Figur irgendwie bekannt vor. Mose, bist du's? Sagst du mir endlich, was ich machen soll?

Aber nein, es war Ralph Nader.

"Bleib doch hier, Craig. Du hast dich drüben ganz tapfer geschlagen, aber es sind eben nicht deine Leute. Seit Jahren gehst du in keine Buchhandlung mehr, wenn du etwas online bestellen kannst, weil du diese Ellenbogenmentalität nicht aushältst. Die Deutschen werden nie Schlange stehen können, Craig, vergiss es. Und was für ein Stress auf der Autobahn! Du schaust ständig in den Rückspiegel, ob nicht ein umweltbewusster Deutscher lichthupend wie ein Weihnachtsbaum mit 180 heranrast. Und was sagt man in Deutschland, wenn man an dir vorbeikommen will? Nicht etwa "Verzeihung" (excuse me), sondern: "Vorsicht!" und "Achtung!". Du bist ihnen nur im Weg. Mach den Weg frei."

"Craig, dein Land braucht solche besessenen Spinner wie dich, die in ihrer Freizeit über die Lügen ihrer Regierung forschen und die Details an die große Glocke hängen. Ich bin 81, Chomsky ist 76. Wenn alle Amerikaner auswandern, die seit November davon reden, wer bleibt denn da, um die Neokonservativen aufzuhalten? Und vergiss das gute Essen hier nicht! Wir haben mehr als Brot!"

"Steig ins Flugzeug ein!", hörte ich plötzlich zwei Stimmen im rechten Ohr. Zwei kleine Figuren schwebten in der Luft. Es waren meine 4-jährige Tochter und mein 7-jähriger Sohn in Deutschland.

"Papa, du warst zu lange weg. Hör nicht auf den Blödmann! Bist du größenwahnsinnig? Mama macht so einen Schwachsinn eh nicht mit, das weißt du. Dein Platz ist hier mit uns. Bilde dir nicht ein, es wäre hier oder dort besser - alles nur Ausreden! Jeder ist seines Glückes Schmied! Niemand kann dich unglücklich machen, wenn du es nicht zulässt - diese Einsicht hast du doch gerade aus New Orleans (vgl. Do you know what it means to miss New Orleans?) mitgenommen, oder?

"Papa, die Deutschen jammern auf hohem Niveau! Kommt zurück und bringe den Pioniergeist (vgl. Die Definition von "Pioniergeist") aus Texas zurück! Vergiss hohe Ziele - komme mit deinem Los zurecht wie ein richtiger Pionier! Du warst gerade 30 Tage in den USA und hast versucht, deinen Landsleuten zu zeigen, was die Deutschen besser machen. Komm zurück und bring das Beste aus den USA mit. Verbinde das Beste aus beiden Welten!"