Die Soldaten beherrschen den öffentlichen Raum, die Männer das Privatleben

Amnesty-Bericht dokumentiert die scheinbar ausweglose Lage palästinensischer Frauen

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Auch wenn Palästina ein eigenständiger und souveräner Staat wäre, müssten die Frauen vermutlich noch Jahrzehnte für Freiheit und Gleichberechtigung kämpfen, um in einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft irgendwann einmal ihre Rechte verwirklichen zu können. Solange das Land von israelischen Truppen besetzt ist, scheint dieses Vorhaben allerdings schon von vorneherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Wer in steigender Armut lebt, ständig um sein Leben fürchten muss, sich nicht uneingeschränkt bewegen darf und keine Zukunftsperspektiven besitzt, ist kaum in der Lage, sich für gesellschaftliche Reformen einzusetzen. Für die palästinensischen Frauen entsteht so eine verzweifelte Zwangslage. Zwischen Besatzung und Patriarchat müssen sie einen Zustand doppelter Entrechtung ertragen, der schlimme physische und psychische Folgen zeitigt und immer wieder mit dem Tod von Frauen und Kindern endet.

Amnesty international hat die dramatische Situation der Palästinenserinnen in einem aktuellen Bericht mit dem Titel Conflict, Occupation and Partriarchy: Women Carry the Burden dokumentiert. Das Beispiel der 29jährigen hochschwangeren Palästinenserin Rula Ashtiya, die am 26. August 2003 zusammen mit ihrem Mann Daoud den Checkpoint Beit Furik überqueren wollte, um ein Krankenhaus aufzusuchen, steht stellvertretend für viele andere:

Am Checkpoint waren mehrere Soldaten, sie tranken Kaffee oder Tee und ignorierten uns. Daoud kam näher, um mit den Soldaten zu sprechen, und einer bedrohte ihn mit seiner Waffe. Daoud sprach hebräisch mit ihnen, ich hatte starke Schmerzen und fühlte, dass die Geburt unmittelbar bevorstand, ich sagte das Daoud, der es den Soldaten übersetzte, aber sie ließen uns nicht passieren. Ich lag auf dem Boden im Staub, bin hinter einen Betonblock gekrochen und habe dort entbunden, im Staub, wie ein Tier. Ich hielt meine Tochter in den Armen, sie hat sich noch ein bisschen bewegt, aber nach ein paar Minuten war sie tot.

Rula Ashtiya

Telepolis sprach mit Claudia Bergmann, der amnesty-Expertin für Israel und die besetzten Gebiete, über die wichtigsten Ergebnisse und Schlussfolgerungen des Palästina-Berichts.

Auf welche Quellen stützt sich der aktuelle amnesty-Bericht?

Claudia Bergmann: Delegationen von amnesty international, die von Spezialisten beispielsweise aus dem medizinischen oder militärischen Bereich begleitet werden, reisen mehrmals im Jahr nach Palästina, um sich vor Ort zu informieren. Wir sprechen dort mit Opfern von Gewalt und deren Familienangehörigen, aber auch mit Soldaten und Behörden und arbeiten darüber hinaus natürlich mit anderen Nichtregierungsorganisationen zusammen. Es handelt sich also um das Ergebnis vieler einzelner Recherchen, die alle dem Zweck dienen, ein möglichst objektives Bild zu erhalten.

Wie erleben palästinensische Frauen die israelische Besatzung?

Claudia Bergmann: Am meisten belastet sie das Gefühl, ständig und überall eingesperrt zu sein. Unter diesen Umständen kann man kein normales Leben führen. Dazu kommt die Sorge um die Kinder, die bei einer Ausgangssperre nicht nach draußen dürfen, und die Angst, dass sie auf der Straße einfach erschossen werden könnten. Oft geht es auch um die Frage "Wie sollen wir uns ernähren?", wenn Ausgangssperren mehrere Wochen dauern und es praktisch keine Möglichkeit gibt, Lebensmittel und ähnliches einzukaufen.

Immer wieder werden ganze Ortschaften abgeriegelt, so dass Kranke und Schwangere keine Chance haben, ins nächstgelegene Krankenhaus zu kommen. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konventionen. Die Checkpoints sind gesperrt, Angehörige und Freunde versuchen dann, die Kranken auf Tragen über die Barrieren zu heben oder durch unwegsames Gelände zum Ziel zu kommen. Wir fordern die israelische Regierung deshalb auf, die vollständige Bewegungsfreiheit und eine angemessene medizinische Versorgung in den besetzen Gebieten sicherzustellen.

Frauen haben in der gesellschaftlichen Praxis keine Rechte

Hat sich die Lage in den letzten Jahren noch verschlechtert?

Claudia Bergmann: Absolut. Mit der militärischen Gewalt haben auch Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend zugenommen, und die gesundheitliche Versorgung ist in einem sehr schlechten Zustand. Von dieser Situation sind Frauen besonders betroffen.

Gleichzeitig leben palästinensische Frauen in einer streng patriarchalischen Gesellschaft. Hat sich in Palästina unter den Bedingungen der Besatzung eine besondere Form des Patriarchats entwickelt?

Claudia Bergmann: Nein, das würde ich nicht sagen, wir können Ähnliches auch in anderen arabischen Ländern beobachten. Und es gibt sogar hin und wieder positive Tendenzen, denn immerhin dürfen Frauen jetzt wählen und gewählt werden. Das bedeutet allerdings noch nicht viel, denn in bestimmten Regionen, beispielsweise im Gaza-Streifen, hält es ein Mann nicht für angebracht, einer Frau auch nur die Hand zu geben. Frauen haben in der gesellschaftlichen Praxis keine Rechte, und es gibt auch kaum Gesetze zum Schutz von Frauen. Überdies unternimmt die Autonomiebehörde wenig, um diese tatsächlich umzusetzen.

Besonders beunruhigend sind die sogenannten Ehrenmorde, die mancherorts immer noch als völlig normal angesehen werden. Mir ist der Fall einer jungen Frau bekannt, die ein Verhältnis mit einem Palästinenser hatte, der anschließend nichts mehr von ihr wissen wollte. Als die Frau schwanger wurde, hat sie die Behörden aufgesucht und sich ins Gefängnis "geflüchtet". Die Haftanstalt wurde anschließend von männlichen Verwandten umlagert, die darauf warteten, die Frau töten zu können. Gott sei Dank haben die Behörden in diesem Fall vorausschauend reagiert und sie in ein Frauenhaus in Jerusalem gebracht. Aber damit ist das Problem natürlich nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben.

Welche Rolle spielen Frauen im Bereich der radikalen Gruppen und der Selbstmordattentäter?

Claudia Bergmann: Grundsätzlich müssen viele Faktoren zusammenspielen, um Menschen für so etwas zu gewinnen. Die meisten Attentäter haben viel menschliches Leid erfahren und oft Angehörige oder Freunde verloren. Dann fällt der dumpfe Fanatismus auf fruchtbaren Boden.

Es gibt allerdings auch eine sehr bewusste Rebellion der Jugend, die keine Zukunftsperspektiven mehr zu haben glaubt und sich auf diese Weise gegen die fortgesetzten Demütigungen wehren will. Einen Unterschied zwischen Männern und Frauen sehe ich da kaum, aber natürlich sitzen Frauen nicht in den terroristischen Führungskadern, und es kann gut möglich sein, dass sie von Männern zu Selbstmordattentaten überredet werden.

Veränderungen in der jungen Generation

Trotzdem scheinen sich palästinensische Frauen zunehmend eigenständig mit politischen und gesellschaftlichen Problemen zu beschäftigen.

Claudia Bergmann: Das ist richtig und gilt natürlich ganz besonders für die junge Generation. Diese Beobachtung lässt sich erfreulicherweise nicht nur im radikalen Spektrum, sondern auch in vielen zivilen Bereichen machen.

Zum Beispiel?

Claudia Bergmann: Es gibt eine ganze Reihe von Projekten, die darauf hinarbeiten, konkrete Zukunftsperspektiven zu entwickeln und Vorurteile abzubauen. Zwischen Israel und Palästina steht eine Mauer von Hass, dabei kennen sich die meisten Menschen überhaupt nicht. Initiativen wie die Begegnungsstätte "Abrahams Herberge" können daran etwas ändern, außerdem treffen sich Frauen in der Friedensbewegung, wo sie durch - mittlerweile auch international bekannte - Friedensaktivistinnen wie Sumaya Farhat-Naser viele Impulse empfangen. Es geht darum, ihnen klar zu machen, was sie jetzt schon, etwa durch die Erziehung ihrer Kinder, bewegen und erreichen können.1

Wie gestaltet sich eigentlich das Leben der israelischen Frauen?

Claudia Bergmann: Auf den ersten Blick unterscheidet es sich überhaupt nicht von dem in der westlichen Welt. Aber natürlich leben auch sie in der ständigen Angst, ihr Kind nicht lebend wieder zu sehen, ihren Mann nicht lebend wieder zu sehen, oder selbst Opfer eines Anschlags zu werden. Deshalb haben die allermeisten denselben Wunsch wie die palästinensischen Frauen - dass beide Völker endlich in Frieden miteinander leben können.

Glauben Sie, dass sich dieser Wunsch schneller erfüllen ließe, wenn auf beiden Seiten mehr Frauen an der Regierungsbildung beteiligt wären?

Claudia Bergmann: Auch wenn ich nichts dagegen hätte: Nein, im Moment könnten sie sicherlich keinen anderen Akzent setzen. Eine Verbesserung dieser Situation muss aus der Mitte beider Völker kommen und dauerhaft mehrheitsfähig sein. Zurzeit sind aber sowohl die israelische als auch die palästinensische Regierung viel zu sehr von den extremen Rändern ihrer Gesellschaften abhängig. Im einen Fall geht nichts ohne radikale Gruppierungen wie Hamas und Dschihad, im anderen hängen wesentliche Entscheidungen von den orthodoxen Siedlern ab. Beide Seiten müssen erst die eigenen Extreme in den Griff bekommen, bevor sie ihr gegenseitiges Verhältnis neu definieren können.