Die vier Körper des Papstes

Nach Johannes Paul II. wird das Papsttum neu erfunden werden müssen

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Wen interessiert eigentlich der Papst? Der Mensch Karol Wojtyla mochte einen rühren oder gleichgültig lassen, in seiner fortdauernden Fernsehpräsenz oder seinen reaktionären Ansichten nerven, in seiner historischen Rolle als Führer der Katholischen Kirche wahlweise unglückselig oder heilsstiftend erscheinen. Jetzt ist ein Mann im Alter von 84 Jahren gestorben. Eigentlich nichts Besonderes. Auch nicht für einen katholischen Christen, denn vor Gott sind schließlich alle Menschen gleich. Aber weil jener Mann fast 27 Jahre ein Amt innehatte, nach dem er, in seiner eigenen Überzeugung wie der einer Masse von Gläubigen, der Stellvertreter Gottes auf Erden war, ist auch sein Sterben, wie sein Leben, eine öffentliche Sache geworden.

Doch wen interessiert der Papst? Für was ist er zuständig? Für was ist er relevant? Warum wird seiner nun öffentlich in einem Maße gedacht, warum wurde sein Sterben auf eine Weise öffentlich begleitet, wie es keinem Staatsmann und erst recht keinem Künstler oder Denker - in anderer, vielleicht wichtigerer Weise spirituelle Führer der Menschheit - widerfahren dürfte?

Vielleicht sind das die falschen Fragen. Vielleicht muss man anders anfangen. Man sieht und hört Glocken läuten, Menschen weinen als ob sie einen nahen Verwandten verloren hätten. Hunderttausende von Menschen versammeln sich auf öffentlichen Plätzen, in Kirchen. Eine letzte Referenz an Johannes Paul II., den 264ten in der Reihe der Päpste, den ersten nicht-italienischen Papst seit 450 Jahren, den Papst mit dem zweitlängsten Pontifikat in der Geschichte und die Beerdigung am kommenden Mittwoch dürfte wahrscheinlich die größte Beerdigung aller Zeiten sein. Diese ultimativen Superlative nach vielen zuvor - 1,2 Millionen Reisekilometer legte "der eilige Vater" in seiner Amtszeit zurück. Er besuchte unzählige Länder der Welt, aber weder Russland, noch China, wurde von vielen Millionen persönlich und von Milliarden am Bildschirm gesehen - sind nur ein letzter Beweis für die Ausstrahlungskraft dieses Papstes, seine Fähigkeit in der Kommunikationsweltgesellschaft global zu kommunizieren.

Der Papst als Pop-Star

Jeder ist der Schöpfer seiner Biographie. Und nach seiner Berufung ins höchste Amt der katholischen Kirche erschuf Karol Wojtyla die Kunstfigur des Papstes Johannes Paul II. und damit sich selbst wie seine Institution ein zweites Mal: Der Papst als Pop-Star. Johannes Paul II. kam dabei die Tatsache entgegen, dass er - bei seinem Amtsantritt erst 58 Jahre alt - zunächst jung und dynamisch wirkte, persönlich sympathisch, dass er witzig war, charmant sein konnte. Vor allem war er spontan, kannte keine Berührungsängste, war ein Papst, der sich bewegt hat, auch, wenn es sein musste, herunter von seinem Stuhl.

Noch viel wichtiger war die Tatsache, dass dieser Papst die Öffentlichkeit nicht scheute, sondern sie in einer Weise suchte, wie wenige vor ihm. Vielleicht war alles die Flucht einer in zwei Jahrtausenden verknöcherten Institution nach vorn, aber Johannes Paul II., der die verändernde Macht des Symbols und damit den Grundsatz der Pop-Politik, die unser Verständnis von öffentlichem sozialem Handeln heute bestimmt, früher begriff als viele, benutzte die Medien um die religiöse Macht in politisches Kapital umzuwandeln. Dabei war er selbst seine beste Werbemaschine.

Das Realste, was Menschen einander geben können, ist Phantasie. Und das Funktionsprinzip der Pop-Industrie wirkt auch in anderen Bereichen, auch in der Religion: Durch ständige Präsenz, immer wiederkehrende Bilder, Botschaften, notfalls Nullbotschaften und deren fortwährende Wiederholung in den Medien wird Vertrautheit installiert und Relevanz behauptet, wird die Bedeutung des Papstes in den Köpfen des Publikums verankert bis zu dem Punkt, an dem man seine Anwesenheit in den Medien und seine Bedeutung als spiritueller Führer nicht mehr in Frage stellt, und das Publikum wie ein Drogensüchtiger mit neuem Stoff mit immer neuen Infos gefüttert werden will, und vom Verlangen nach "mehr" so schwer abzubringen ist wie vom Konsum ihrer Lieblings-TV-Serie.

Gerade das Ende seines Lebens spiegelte dieses Verhältnis der Weltöffentlichkeit zu diesem Papst noch einmal - glich doch dort die Berichterstattung vom Vatikan einer Daily-Soap mit ihrer ständigen Wiederholung von Nullbotschaften, ihrer reinen Präsenz, ihrem Vorgriff auf Kommendes (den Tod des Papstes) und ihrer Rückschau auf Vergangenes (die Karriere Wojtylas und das Pontifikat Johannes Pauls II.), und ihrer Unfähigkeit, all das zu irgendetwas Konzisem zu verbinden.

Radikal und fundamentalistisch

Der Papst erwies sich hierin auch als geschickter Manager und Reorganisator eines maroden Unternehmens. Problemlos gelang es ihm, die Organisation der Kirche zu seinem Instrument zu machen, und dessen Effizienz Stück für Stück zu steigern. Der Weltkonzern Kirche wurde unter Johannes Paul II. globalisiert, die Corporate Identity wurde gestärkt durch Straffung der Hierarchien, Verstärkung des Controlling, Schärfung des Unternehmens-Profils. Johannes Paul II. hatte erkannt, dass die Idee der Ökumene in die Sackgasse führte. Wenn Glaube und Religion in der Moderne eine Zukunft haben, dann nicht durch Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen.

Keiner war den Protestanten daher verhasster als dieser Papst, denn keiner legte ihre Schwächen - wenn alles Ansichtssache ist, wozu dann noch in eine Kirche eintreten und nicht einfach Ansichten haben? - deutlicher und zugleich geschickter bloß, als dieser Papst, der ihnen - in der "Erklärung Dominus Jesus" im Jahr 2000 - schlicht und einfach absprach, Kirchen im eigentlichen Sinne zu sein. Keiner kämpfte schärfer gegen die protestantische Verwässerung der Tatsache, dass Glauben per se etwas Dogmatisches und Unbedingtes ist, oder eben kein Glauben. "Über geoffenbarte Wahrheiten kann keine Basis entscheiden", provozierte er, indem er das lutherische "Hier stehe ich und kann nicht anders" deutlicher auf seine Kirche übertrug, und zugleich zu seinen Ursprüngen zurückführte. In diesem Sinne war Johannes Paul II. radikal und fundamentalistisch. Seine Stärke war lutherische Sturheit, die Konsequenz, mit der er Gefolgschaft beanspruchte, Autorität einforderte und autoritär sein konnte, wenn es um die Einheit seiner Kirche ging.

Zugleich kämpfte er - kein Widerspruch, sondern Ergänzung der Unternehmenspolitik - für die Einheit der Kirchen. "Die Spaltung der Kirchen ist ein Skandal", argumentierte der Papst immer wieder. So ging er, nicht immer erfolgreich, auf andere Religionsgruppen zu, überwand scheinbar offenen und liberalen Sinnes Grenzen zwischen den Religionen, erkannte, dass sie zumindest ein gemeinsamer Feind - Liberalismus, Pluralität, Atheismus, kurzum: die Moderne - verband. Was ihm manche in der eigenen Kirche als nicht gerade linientreue "Religionsvermischung" vorwarfen, war tatsächlich das Erwerben von religiösen Minderheitsbeteiligungen, die allemal ein wenig spirituelle - und mitunter auch materielle - Rendite abwarfen.

Ein Reaktionär in modernem Gewand

Was in seiner Form modern war und Johannes Paul II. als geradezu neoliberalen Papst, in seiner ständigen Unruhe - "Ausruhen kann ich mich im Paradies" - seinem Aktionismus, überaus modern und zeitgemäß erscheinen lässt, ging einher mit konservativen, oft genug antimodernen Inhalten. Als er gewählt wurde, wuchs das antikommunistische Gären im Ostblock, wuchsen vor allem die antiuniversalistischen Bewegungen in der übrigen Welt. Im Westen gewann die "Postmoderne" kulturelle Hegemonie, in den USA wurde mit Jimmy Carter ein linker Konservativer, tief in naivem Protestantismus verwurzelter politischer Betbruder "gegen Washington" US-Präsident, in England trat Margaret Thatcher ihre Regierung an, im Mittleren Osten begann mit der Iranischen Revolution des Ayatolla Khomeini der Siegeszug des Islamismus.

1978

Zwar kämpfte er für Gerechtigkeit und Befreiung, für Menschenrechte, sagte Nein zu vielen Kriegen. Doch etwa der Widerspruch zum Irak-Krieg 2003, der ihn in Konflikt mit US-Präsident George W. Bush brachte, verstellt den Blick dafür, dass Johannes Paul II. gerade mit diesem weltlichen Führer, mit seinem Sendungsbewusstsein, seiner Ignoranz für Andersdenkende, seinen durch keinen Zweifel und kein Argument zu erschütternden weltanschaulichen Positionen viel verband. In seinen Prinzipien war Johannes Paul nicht nur sehr konservativ und bestimmten Haltungen der Gegenwart abgewandt, er war reaktionär.

Unter dem Codewort einer "Kultur des Lebens" wurde der Papst zum Vorreiter einer fundamentalistischen Ablehnung von vorehelichem Sex und Verhütung, von Abtreibung und Biotechnologie, von passiver wie aktiver Sterbehilfe. Erst kurz vor seinem Tod setzte er Abtreibung und Holocaust gleich.

Ähnlich scharf wie seine Stellungnahmen in diesen Fragen fielen die Wortmeldungen gegen Krieg und Völkermord, gegen Folter und Willkür der Herrschenden, gegen Hunger und Waffenhandel, gegen Gewalt gegenüber Frauen und Kindern nicht aus. Über Verfehlungen der Kirche selbst - vom Missbrauch durch Priester bis zur Komplizenschaft mit Diktatur und Terror - blieb während seiner Amtszeit der Mantel des Schweigens gedeckt. Dem Leitbild einer Kirche des 19. Jahrhundert verpflichtet, erstickte Johannes Paul II. die geistige Freiheit, die eine kurze Weile in der Kirche wehte, profilierte sich innerkirchlich als Reaktionär. Keinen Millimeter breit kam er den Befürwortern der Frauenordination, der Lockerung des Zölibats entgegen. Dies ist nicht allein durch Effizienzwillen und die Tatsache zu erklären, dass hier ein Manager seine Organisation ohne Reibungsverluste intakt halten will.

Die Gesinnung dieses Papstes zeigt sich an der unterschiedlichen Behandlung von liberalen Theologen wie Hans Küng und Eugen Drewermann im Vergleich zur Nachsicht gegenüber den Kritikern von rechts und Anhängern der Restauration wie dem französischen Erzbischof Marcel Lefebvre, erst recht gegenüber dem Gründer des kryptofaschistischen Opus Dei, Josemaría Escrivá de Balaguer, den dieser Papst heilig sprach. Die öffentliche Rolle, die der Papst für seine Institution erfand, war durchaus dem Zeitgeist gemäß, indem sie ihn noch radikal überbot. In Zeiten der "Tendenzwende" der 70er musste die Kirche ihre Rolle als Gegenmacht der Modernisierung spielen. Er trat für antiuniversalistische Werte ein, kleidete sie aber in universalistische Form. Das war das Kunststück dieses Papstes.

Pose und Programm

Mediale Popularisierung und konservativ sakraler Revisionismus erscheinen dabei also als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Damit die Ware trotz ihrer offensichtlichen Veraltetheit überhaupt verkäuflich blieb, musste daher wieder die Form hinzukommen, das Produkt einen "Geist" erhalten, der es von anderen unterschied. Es ist kein großes Geheimnis, dass Produkte nicht wegen ihres materiellen Wertes verkauft werden, sondern wegen ihres Mehrwerts, wegen ästhetischer und spiritueller Beigaben, weil sie "Mythen des Alltags" (Roland Barthes) sind.

Als Student

In seiner Karriere nur aus der NS-Herrschaft und den Verbrechen der deutschen Besatzung zum Priester erklärbar, schien der 1946 zum Priester Geweihte ehrlich und authentisch, offenbar auch in allem, was man an ihm hassen oder verachten mochte, jedenfalls kein Heuchler und Scheinheiliger und insofern das Gegenbild zu Medienpriestern wie dem evangelischen Berliner Landesbischof Huber, der zu allem und jedem Wohlabgewogenes, Bedachtsames, Unanstößiges windelweich zu formulieren weiß.

Zugleich wurde der Popstar Johannes Paul II. zunehmend ein Gefangener seiner eigenen Legende. Zu sehr schien sich der Mensch Wojtyla mit der eigenen Rolle zu identifizieren, schien sich Eitelkeit in die Pose der Bescheidenheit und des Schmerzensmanns, des Märtyrers zu hüllen. Sein öffentlicher und inszenierter eigener Kreuzgang wurde zum letzten Schauspiel, das Millionen in Bann zog - wie eine Vatikan-Fassung von "The Passion of the Christ".

Die Zwischenbilanz dieser großen Rosskur der Herrschaft Johannes Pauls II., die aus späterer Sicht möglicherweise als nötig, vielleicht aber auch als der Anfang vom Ende der Institution gesehen werden dürfte, ist gemischt: Der jetzige Papst verdankt seine Bedeutung außenpolitischen Erfolgen, vor allem seinem Eintreten für die polnische Opposition. Unter ihm ist der Vatikan wieder zu einer - spirituellen - Weltmacht aufgestiegen. Ohne ihn gäbe es vielleicht noch den Eisernen Vorhang. "Alles was in Osteuropa passiert ist, wäre unmöglich gewesen ohne den Antrieb des Papstes und ohne die außerordentliche auch politische Rolle, die er auf der Weltszene gespielt hat", so Sowjetführer Michail Gorbatschow. Doch die Hoffnung des Papstes, im postkommunistischen Osteuropa einen Gegenentwurf auch zum westlichen "wilden" Kapitalismus zu finden, erfüllte sich nicht. Er kämpfte gegen "Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Gewalt und Anmaßung", doch seine Kirche machte selbst ungeheuren Umsatz und beschäftigte Controller, um effizienter zu wirtschaften.

Johannes Paul II. ernannte zwar Legionen von Kardinälen, aber nur in Afrika war die Zahl der Priester während seiner Amtszeit nicht rückläufig. Die Macht der Evangelikalen nahm zu, vor allem in Lateinamerika, wo der Papst durch seine frühe Ablehnung der Befreiungstheologie und zu spätes Einlenken wichtiges Terrain preisgab. Der katholischen Kirche laufen die Gläubigen davon. Die Kirchen sind leer.

Der Papst ist tot, die Kirche lebt weiter

Kein Anlass also, diesen Papst zu verklären, der die Kirche autokratisch und charismatisch, als letzter absoluter Monarch auf Erden, regierte. Kein Anlass, ihn auf das volkstümlich-lautere Papst-Bild zu beschränken, das sich schon zu Lebzeiten in der kollektiven Erinnerung abgelagert hat: sentimental, fast nostalgisch unterlegt, intim und zuweilen an Fetischismus grenzend. Ob Johannes Paul II. zu "den größten Köpfen und Geistern der Kirchengeschichte" gehört, wie am Abend seines Todes voreilig in der ARD formuliert wurde, das wird sich erst noch zeigen.

Ein Anlass aber, seine Lebensleistung zu würdigen. Zu erkennen, dass Karol Wojtyla den traditionellen drei Körpern des Papstes - dem privaten, dem religiösen und dem politischen - einen vierten hinzufügte: Einen ästhetischen, öffentlichen, der nicht mehr in den anderen aufging, sondern sich verselbständigte. Niemand kann sagen, wie es ohne ihn aussähe. An diesem Papst schieden sich die Geister und das war wahrscheinlich das Beste, was der Institution der katholischen Kirche passieren konnte. In seiner eigenen Person versöhnte Johannes Paul II. die heterogenen Momente des Glaubens in der Moderne, die Dialektik zwischen Entzauberung und Verzauberung der Welt. Damit war er eine unentbehrliche Integrationsfigur, eine "Institution in einem Fall", wie es der Soziologe Arnold Gehlen beschrieb.

Was macht die Kirche eigentlich ohne diesen Papst? Der Papst ist tot, die Kirche lebt weiter. Nach Johannes Paul II. wird das Papsttum neu erfunden werden müssen.