Sternentapeten und kostenlose Bildersammlungen

Das volkstümliche Web Teil II

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ein weiteres glorreiches Element des volkstümlichen Web ist der Weltraum-Hintergrund, auch bekannt unter "Starry Night" oder Sterntapete. Üblicherweise handelt es sich um ein schwarzes, dunkelblaues oder dunkelpurpurnes Bild mit einigen hellen, manchmal blinkenden Pixeln, das über das Browserfenster hinweg gekachelt wird. Unter den frühen Webautoren waren derartige Hintergründe sehr beliebt, sicherlich, weil viele von ihnen Science Fiction-Fans und Videospieler waren.

Deren Wunsch, das Web wie die futuristischen Szenarien ihrer Lieblingsserien, Kinoplakate und Spiele aussehen zu lassen, war mehr als gerechtfertigt; nicht nur als Ausdruck des eigenen Geschmacks, sondern aufgrund der Hoffnungen und Versprechungen, die das neue Medium anzubieten hatte. Das Internet war einfach die Zukunft, es schickte uns in neue Dimensionen, brachte uns näher an entfernte Galaxien! Dementsprechend musste der Look des Web an Filme wie Star Crash oder Spiele wie Galaga angepasst werden; entweder etwas wie aus dem Inneren des Computers oder von irgendwo da draußen. Die Sterntapeten verliehen dem Internet ein außergewöhnliches Aussehen, augenscheinlich handelte es sich um ein Medium mit einer Mission, die kein anderes Medium jemals erfüllen könnte.

Eine Weltraumszenerie im Stil von Star Crash von Andrew Glazebrook
Die Galaga Worship Page legt die Vermutung nahe, dass einer der bekanntesten Weltraumhintergründe direkt aus diesem Spiel entnommen ist.

Besonders praktisch an Sterntapeten war die geringe Anzahl benötigter Farben. Zur Not reichen auch Schwarz und Weiß, das Bild wird dann vielleicht ein halbes Kilobyte groß und gibt der Webseite trotzdem eine futuristische Atmosphäre.

Dennoch, die Weltraumhintergründe mögen zwar großartig aussehen, scheinen aber zu keiner konkreten Idee zu passen. Wissenschaftliche Texte, private Homepages, Kinoprogramme, Pathfinder-Fotogalerien, irgendwie stimmt es nie. Selbst GIFs von Raumschiffe sehen auf ihnen nicht authentisch aus, denn man kann ja keine Bilder in den Himmel hängen, und im All gibt es auch keine Buchstaben. Und selbst wenn es welche gäbe, könnte man sie nicht lesen, denn der i-Punkt ist vielleicht nur ein Stern und das %-Zeichen ein kleiner Meteorschwarm ... das ist einfach zu leicht zu verwechseln.

Wer schon einmal eine Webseite gestaltet hat, weiß, dass Weltraumhintergründe nur gut aussehen, wenn sie von nichts anderem überdeckt werden. Und wer schon einmal eine bestehende alte Webseite überarbeitet hat, wird sich erinnern, zuallererst das starback.gif entfernt zu haben.

Eine der letzten und daher auch dokumentierten Weltraumtapeten-Amputationen fand 2004 statt. Hier der 90er-Look eines Online Videothekenverzeichnisses:

Und so sieht es inzwischen aus (Unten)

Einer der hartnäckigsten Überlebenden ist kinoservice.de, eine wöchentlich aktualisierte Website mit den Kinoprogrammen für Stuttgart und Frankfurt. Jedesmal wenn ich die Adresse eingebe, fürchte ich, dass die Sterne doch schon entfernt wurden.

Mit der Zeit mussten die Hoffnungen von einer Internetzukunft im Kosmos gewöhnlichen Online-Ausgaben von Zeitungen und Magazinen, elektronischen Büros, E-Commerce und anderen ernsthaften Vorhaben weichen. Gleichzeitig verschwanden die Weltraumhintergründe. Sie stehen nicht mehr für die Zukunft, sondern für die Vergangenheit.

Und natürlich für eine ganze Armee von Amateuren, die wie Anni und Jens ein paar Seiten gebaut und bald vergessen haben.

Dieser Zusammenhang zwischen Weltraum und Amateuren ist außerordentlich stark. Neulich stieß ich auf die professionell angefertigte Promo-Site Renault Megan II Car of 2004. Das Design wurde um die raumschiffähnliche Form des Autos entwickelt und sieht daher aus wie eine inoffizielle Renault-Fanseite, denn Sterne - selbst mit Flash gemachte - bedeuten im Web "Amateur" und nicht "Weltraum".

Da Sterne also außerhalb des Mainstreams leuchten, passen sie sehr gut zu alternativen und subversiven Projekten, sie sind fast schon genau so gut wie das Prefix "Anti". Bei Unamerican.com gibt beispielsweise einen Aufkleberversand und im weitesten Rahmen antiamerikanisches Gedankengut. Der Sternenhintergrund unterstützt das Konzept, indem die Autoren der Seite in den Weltraum verlegt werden, von wo sie das Gesamtbild objektiv erfassen können.

Meine Projektseite auf dem Server der Merz Akademie ist mit Weltraummotiven dekoriert, um so klar von der Corporate Identity meiner Arbeitgebers abweichen zu können.

Außerdem: Von Weltraumtapeten inspirierte Art.Teleportacia-Projekte: Gravity, Some Universe. Design für Raiders of the Lost ArtBase, Net Stars und eine aufwändige Sammlung glitzernder Sterne und Monde.

Webbausteine kostenlos gesammelt

Weltraummotive sind nicht die einzigen Bilder aus dem Amateurweb, bald tauchten Papier, Glas, Wasser und Holzfurnier auf. Schnell entstanden öffentliche Grafiksammlungen, auch "Sets" zu besonderen Anlässen wie Hochzeiten, Weihnachten oder Halloween. Die Themen reichen von Musik über X-Files bis hin zu Berry Babies, jedes einzelne verdient Lob und Anerkennung. In Sets finden sich üblicherweise aufeinander abgestimmte Navigationsbuttons, Aufzählungszeichen ("Bullets"), Trennlinien, GIF-Animationen als Blickfang und "Welcome to my home page"-Begrüßungsgrafiken. Aus diesen Quellen lassen sich ganze Webseiten zusammenstellen oder auch nur ein paar Elemente zur Dekoration verwenden.

Bei der Durchsicht einiger Sammlungen fällt auf, dass eine Handvoll Grafiken auf extrem vielen privaten Seiten kopiert und dadurch richtiggehend berühmt geworden sind, zum Beispiel die Regenbogen-Trennlinie, das "NEW!"-Symbol und der grübelnde Kater "Felix The Cat" als perfekt animiertes GIF.

Einige Elemente erzählen sogar Geschichten aus ihrer Zeit. Zum Beispiel enthalten diverse Sets Buttons für "Vorwärts" und "Zurück", obwohl diese Funktionen natürlich bereits im Browser integriert sind. Allerdings konnte man derart wichtige Funktionen selbstverständlich nicht der Verantwortung einer Software überlassen, von der alle paar Monate eine neue Version erschien! Es könnte ja sein, dass diese Funktionen bald durch andere ersetzt würden, also wurde vorgesorgt.

Ähnliches gilt für die sogenannten "Bullets", winzige Bilder, die die Aufzählungszeichen der Standard-HTML-Listen ersetzten. Den meisten Amateuren erschienen Ausdrucksmöglichkeiten wichtiger als Struktur, und so platzierten sie spektakuläre Grafiken an die Stelle langweiliger schwarzer Scheiben.

Die Auswahl des richtigen Browsers war eine wichtige und philosophische Entscheidung, das fand Ausdruck in zahlreichen "Best Viewed with ...."-Bannern. Seit der Veröffentlichung des Firefox-Browsers sind ähnliche Grafiken wieder in Mode gekommen, Variationen weren von fleißigen Fans produziert.

Ein besonders Problem der Russisch sprechenden oder vielmehr Kyrillisch schreibenden Webgemeinde waren die verschiedenen Codierungsstandards für kyrillische Buchstaben. Auf der ersten Seite jedes russischen Webservers musste man sich zuerst für einen dieser Standards entscheiden, je nach verwendetem Browser und Betriebssystem. Die dazu allerorts benötigten Buttons wurden eine gigantische Spielwiese für Designer.

1996 erstellte der bald darauf zur Nummer Eins aufsteigen sollende Webdesigner Artemy Lebedev zwanzig Sets Codierungsbuttons für verschiedenste Hintergründe und Geschmäcker. In wenigen Monaten verbreiteten sie sich auf zahllosen .ru-Domänen und wurden zum natürlichen Bestandteil der Russischen Weblandschaft.

Dennoch war ihre Blüte von kurzer Dauer, bereits Ende 1998 wurde das Codierungsproblem auf den meisten Servern automatisch gelöst und die Buttons verschwanden. Selbst die legendäre Sammlung ist nun nur noch Geschichte.

Freie Sammlungen sind die Seele des Amateurwebs. Sehr viele Autoren benutzten die Grafiken um ihre Seiten zu bauen und legten Sammlungen an. Many-To-Many war kein leeres Schlagwort, eine Webseite zu erstellen und gleichzeitig eine Sammlung anzulegen, war schon fast gar nicht anders denkbar. Es ging mehr um den Geist des Webs, weniger um besondere Designfähigkeiten. Verteilen war genau so wichtig wie erschaffen.

Mit nur ein wenig Übertreibung lässt sich sagen, dass aufgrund der modularen Bauweise alle Webseiten gleichzeitig eine Sammlung darstellten, selbst wenn sie sich nicht so bezeichneten. Jede Linie oder Comicfigur, jede Sounddatei war auf der Seite isoliert und einfach zu extrahieren, entweder direkt aus dem Browser oder indem man im Quelltext die Adressen suchte.

Sobald sich das Webvolk in Designer und deren Kundschaft aufteilte, verloren die freien Sammlungen ihre Anziehungskraft für beide Parteien. Professionelle Websites distanzierten sich bereits 1997 durch einen anti-modularen Aufbau vom Amateurweb. Grafikdesign begann seinen Siegeszug durchs Web, so schnell, dass einige Designer und Netzarchäologen tatsächlich meinen, Webdesign sei eine Unterdisziplin von Grafikdesign. Ganze Seiten wurden mit Photoshop als großer Grafikblock entworfen und dann, in Einzelteile zersäbelt, im Browser wieder nachgebaut. Jedes dieser Einzelteile war nur in seinem ursprünglichen Zusammenhang sinnvoll zu verwenden, es ergab also keinen Sinn, sie zu extrahieren und anderswo einzusetzen. Ohnehin wäre das den Designern nicht recht gewesen.

Ein passendes Beispiel dafür ist das Webangebot der Mobile Telecom, 1997 von Artemy Lebedev entworfen. Ein typisches Photosohop-Design und gleichzeitig eine der ersten Firmenseiten in Russland, die von einem professionell arbeitenden Designer produziert wurden.

Die Seite wurde berühmt und auch häufig kopiert. Lebedev sammelt in seinem Klonmuseum alle Nachbauten. Höchstwahrscheinlich waren sich die Epigonen nicht einmal bewusst, dass sie etwas stahlen, sondern sahen die Website als Vorlage dafür an, wie nun das professionelle Internet auszusehen habe.

Im Zuge dieser Professionalisierung wurden viele Links auf Sammlungen mit selbstgemachten und gefundenen Dateien gelöscht. Viele dieser Sammlungen gibt es also noch, nur die Links dorthin fehlen. Und ohne Links findet man nichts. Mein persönlicher Favorit stellt keine Ausnahme dar. Ich hoffe, mit diesem Link zum Erhalt der Sammlung beigetragen zu haben.

Andererseits wäre es auch falsch zu behaupten, die Zeit der Sammlungen wäre vorbei. Wer nach "my collection of web graphics" sucht, wird auf einige interessante stoßen, nicht mal unbedingt retro. Viele werden erweitert und gepflegt, und 2001 fand sogar ein Revival statt, als die Kategorie "God bless America" Einzug in viele Sammlungen von US-Usern aller Talentgrade fand, die ihre patriotischen Gefühle auf ihren Homepages ausdrücken wollten.

Einen neuen Markt für Buttonproduzenten stellen die "Verified XHTML"-Embleme dar. Die Bandbreite angebotener Variationen ist noch überschaubar, es entstehen jedoch laufend neue zu verschiedenen Designtrends passende Versionen.

Weitere großartige Sammlungen sind GIF-Sammlung, Juannas animierte Welt, GIF-CO, gif-Welt oder GIF.10000.RU, die es geschafft haben, ein "Hobby" auf eine höhere Ebene zu heben. Diese Bibliotheken sind umfangreich und aktiv, in Gästebüchern und Foren tobt das pralle Leben. Sie sind nicht nur für Archivare von Nutzen, sondern auch für Designer, die gerne modulare Seiten aus frei verfügbaren Elementen gestalten möchten.

Wie beispielsweise ein Pärchen in London lebender Produzenten, die ihre Hochzeitsseite aus angemessenen Grafiken zusammensetzten. Oder der Beitrag des Britischen Designers Bruce Lawson zum CSS Zen Garden, einem Gemeinschaftsprojekt, das die Gestaltungsmöglichkeiten mit Webstandards demonstrieren soll. Seine GeoCities 1996 aus dem Jahre 2004 zeigen, dass wahrer Geist und Inspiration immer einen Weg um Standards herum finden werden.

Die nächste Folge widmet sich privaten Linklisten und MIDI-Musik.

Übersetzt von Dragan Espenschied