Exportorientierung statt Binnenmarkt - Entwicklung

Das zweite Scheitern des Liberalismus - Teil 2

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Der Neoliberalismus kann die gegenwärtige Krise weder verstehen, dazu fehlt ihm das theoretisch-begriffliche Rüstzeug, noch kann er sie wirksam bekämpfen oder auch nur eindämmen. Er begreift noch nicht einmal seine eigenen Niederlagen. Im ersten Teil unserer Betrachtungen haben wir die dogmatische Enge des Neoliberalismus auf dem Gebiet der deutschen Konjunkturpolitik verfolgt (Der Neoliberalismus ist die letzte Großideologie des 20. Jahrhunderts: Hysterie, Regression und Wiederholungszwang). Fataler noch als die binnenwirtschaftlichen sind jedoch die weltwirtschaftlichen Folgen neoliberaler Wirtschaftspolitik.

25 Jahre lang diente der Neoliberalismus im Weltmaßstab den US-amerikanischen Interessen und in deren Windschatten auch den europäischen und japanischen Konzernen. In der Außenwirtschaftspolitik ist es der zollfreie Freihandel, der als das unhinterfragbare Ideal dieser Politik gilt. Exportorientierung um jeden Preis führt jedoch zu verschärfter weltweiter Konkurrenz, zu Arbeitslosigkeit, zu Immobilien- und Handelskrisen und lässt die Binnenmärkte, auch in den Industriestaaten einbrechen. Es tobt der Krieg um die wenigen noch verbliebenden lukrativen und stabilen Absatzmärkte.

Der neoliberale "Ausweg" aus der Krise war der Export der Krise aus den hochindustrialisierten Staaten in den Rest der Welt. Viele Volkswirtschaften wurden durch IWF-Auflagen regelrecht verwüstet, nur wenige konnten diesem Schicksal entkommen, einzig China nutze die Asienkrise erfolgreich als seine Chance.

Seitdem spielt China im Welthandel souverän auf der Klaviatur des Freihandels. Im eigenen Land blockiert es erfolgreich die WTO-Prinzipien. Es lockt die westlichen Konzerne mit seinem gewaltigen Absatzmärkten, führt sie am Nasenring durch die Manege und plündert ihr Know-how. China kehrt die Freihandelsideologie gegen ihre Verkünder und beschleunigt damit den wirtschaftlichen Niedergang des Westens. Während die USA in einem zweiffelhaften Strategiewechsel ihr Glück suchen, verharrt die EU und insbesondere Deutschland in einer geistigen Selbstblockade.

Der Profit für den, der den Handel führt

Seit 250 Jahren ist bekannt, dass beim Freihandel nur wenige profitieren, die meisten dagegen verlieren, was regelmäßig zum Scheitern der Freihandelsexperimente führte.

1764 führte Frankreich den zollfreien Getreidehandel ein, gut 40 Jahre bevor David Ricardo sein Loblied auf den freien Außenhandel sang. Dieses Edikt von 1764 führte zu einer ausgiebigen öffentlichen Debatte über die Vor- und Nachteile des Freihandels. Die in den europäischen Salons einflussreichste Schrift dieser Debatte waren die "Dialoge über den Getreidehandel von 1770", von Abbé Galiani, gemeinsam herausgegeben von Grimm und Diderot.

Der scharfsichtigen Abbé, Schumpeter nannte ihn "einen der fähigsten Geister die sich jemals auf unserem Gebiete betätigt haben", fällte über das Edikt ein vernichtendes Urteil:

Aber - Ja ich muß es sagen, so wie das Edikt abgefaßt ist, wird es immer drei Übel erzeugen: es wird die innere Zirkulation hindern, es wird in allen Jahren, wo die Ernte im Mittelmaß bleibt, Hungersnöte hervorrufen, es wird den Ackerbau in Frankreich voll und ganz zu Grunde richten.

Abbé Galiani

Der Grund für diese desaströse Folge des freien Getreidehandels ist simpel. Beim Freihandel gewinnen nicht alle Seiten, sondern einseitig die Seite, die den Handel kontrolliert, während die anderen leer ausgehen.

Schreiben Sie nur mit großen Buchstaben über das Tor des Getreidehandels:

DER PROFIT FÜR DEN, DER IHN FÜHRT.

(...) Noch deutlicher können Sie sich von dieser Wahrheit bei Holland, Genua und anderen Handelsnationen überzeugen. Die haben kein eigen produziertes Getreide; aber weil sie das Fremde von Land zu Land verführen, so haben sie eine blühende Handelsflotte, eine reiche und zufriedene Bevölkerung, und selbst der auf ihrem Boden mögliche Anbau ist im höchsten Grade durch Kunst und Arbeit entwickelt. Da bringt der Getreidehandel von Sizilien und Morea in Genua die Oliven, Citronen, Orangen und Maulbeerbäume zum Blühen; so nährt der Handel mit polnischen Getreide die Tulpenbeete von Holland - aber das gleiche Getreide läßt die Ufer der Weichsel und die Thäler von Sparta und Girgenti leer und öde.

Abbé Galiani

Und nicht nur Tulpenbeete, mag man hinzusetzen, auch die Spekulation in Tulpen brachte das polnische Getreide zum Blühen. In der Sprache der modernen Ökonomie formuliert, gilt der Grundsatz: Wer die Wertschöpfungskette kontrolliert, kann sich den Profit aneignen.

Jedes Produkt, sei es der Natur oder der Hand, das, vermöge seiner Beschaffenheit oder durch den Zwang des Gesetzes durch mehrere Hände gehen muß - die es abwechselnd besitzen - ehe es in die des Konsumenten kommt, läßt den ersten Produzenten arm.

Abbé Galiani

Jedoch nicht nur die einseitige Aneignung des Profits durch die Kontrolle der Wertschöpfungskette lässt beim Freihandelsregime die Genuas und Hollands in Blüte stehen, diese können sich darüber hinaus einen Extragewinn durch Währungsspekulation sichern.

Fügen sie zu diesen Vorteilen, die eine handelstreibende Nation genießt, noch den Gewinn aus dem Wechselkurs des Geldes, der fast immer zu ihrem Vorteil ausfällt, und der oft so bedeutend ist, wie das, was der Unternehmer für Arbeitslohn ausgibt. So scheint oft der Kaufmann ohne Profit zu verkaufen, wo der Kurs allein ihm einen genügenden Gewinn sichert.

Abbé Galiani

Man darf unterstellen, dass Ricardo die Galianischen Überlegungen bekannt waren. Sein Versuch, die Freihandelsideologie im Interesse Englands zu retten, klingt jedenfalls wie eine Replik auf die Sätze Galianis.

Unter einem System des völligen Freihandels widmet jedes Land sein Kapital und seine Arbeit natürlich solchen Beschäftigungen die für das jeweilige Land am vorteilhaftesten sind. Dieses Streben nach dem Vorteil des Einzelnem verbindet sich auf bewundernswerte Weise mit dem universalen Wohl des Ganzen. Indem es die Industrie stimuliert, den Erfindungsreichtum achtet und die natürlichen Besonderheiten am wirkungsvollsten einsetzt, verteilt es die Arbeit am effektivsten und am wirtschaftlichsten: durch die Steigerung der allgemeinen Produktion verbreitet es das allgemeine Wohl und verbindet mit einem gemeinsamen Band aus Interessen und Verkehr die Nationen überall in der zivilisierten Welt zu einer universellen Gesellschaft. Es ist dieses Prinzip, das bestimmt, daß Frankreich und Portugal Wein produzieren, Amerika und Polen Getreide anpflanzen und England Metallwaren und andere Handelsgüter herstellen soll.

David Ricardo (Eigene Übersetzung nach On the Principles of Political Economy and Taxation

Diese Sätzen lauten in Galianis Worten schlicht:

DER PROFIT FÜR ENGLAND, DAS DEN HANDEL FÜHRT,

denn hinter den Metallwaren und anderen Handelsgütern verbirgt sich kaum kaschiert die mächtige englische Handelsmarine, die den Freihandel kontrolliert. Die anderen Länder, Portugal, Frankreich, Polen und Amerika sollen sich einseitig auf die Produktion von Wein und Getreide konzentrieren und auf Metallwaren und andere Handelsgüter verzichten, also auf die Voraussetzungen für eine eigene Handelsmarine. Die Ricardosche Arbeitsteilung bedeutet den freiwilligen Verzicht der anderen Länder auf eigene wirtschaftliche Potenz und die Anerkennung des englischen Handelsmonopols. Angeblich soll dies zu einer höheren Gesamtproduktivität führen, eine Hypothese, die jedoch selbst modelltheoretisch nicht haltbar ist. Tatsächlich verlieren auch im Modell am Ende beide Seiten, auf jedem Fall aber das Agrarland, was in der ökonomischen Literatur als das Grahamsche Paradox bekannt ist. Das Prinzip des Freihandels war also schon vor 200 Jahren eine ideologische Maske, hinter der sich massive Machtansprüche verbargen.

Ricardo verwirrt den Leser durch sein abstraktes Modell, Galiani fragt dagegen nach der Verteilung der Einkommen unter den Beteiligten in einer bestimmten ökonomischen Situation. Anders als der Modelltheoretiker Ricardo geht der Abbé Galiani davon aus, dass kein Modell und kein Rezept für alle Zeiten und für alle Situationen gilt. Welche Maßnahmen zum wirtschaftlichen Erfolg führen, hängt von den Umständen ab und die ändern sich ständig.

Niemand begeht aus freien Stücken, mit Absicht einen Irrtum. Jeder will der Erfahrung und der Vernunft folgen. Wenn man nun einer Idee, die an sich vernünftig, folgt, sich auf eine Erfahrung, auf ein erwiesenes Faktum stützt, das aber in dem besonderen Fall nicht paßt: so glaubt man ganz richtig zu handeln - aber man begeht einen Fehler.

Abbé Galiani

Das Ende von Bretton Woods und der Aufstieg des Neoliberalismus

Vor dreißig Jahren folgten die USA mit radikalem Mut dieser Galianischen Wahrheit. Die besondere Situation zwang sie dazu. Sie folgten nicht länger den vernünftigen Ideen und den historischen Erfahrungen der Nachkriegszeit. Sie legten unilateral das Nachkriegsregime von Bretton Wood in Trümmer und zerstörten damit die Prinzipien des "Keynesianismus" in den Industrieländern und der "Importsubstitutionswirtschaft" in den Entwicklungsländern, da sie zur Fessel für ihre weltpolitischen Zwecke geworden waren.

Das neoliberalen Freihandelsdogma wies den USA einen Ausweg aus der Wirtschaftkrise nach dem verlorenen Vietnamkrieg und sie erlebten mit den Mitteln neoliberaler Dogmatik in den 1990er Jahren einen Jahrhundertboom der Aktienkurse und der Profite. Die USA ließen sich auf das Abenteuer Freihandel ein, da sie davon ausgehen konnten, dass sie es seien, die die Wertschöpfungsketten kontrollieren würden. Ein ernsthafter Konkurrent war weit und breit nicht in Sicht, so dass für die USA der Satz galt:

DER PROFIT FÜR DIE USA, DIE DEN HANDEL FÜHREN.

Dreißig Jahre lang sollten sie mit dieser Einschätzung Recht behalten.

In den 1970er Jahre erlebten der Dollar und mit ihm das internationale Finanzsystem eine tiefgreifende Krise. Die USA hatten den Vietnamkrieg mit der Notenpresse finanziert, damit wurde die Golddeckung des Dollar illusorisch. Nixon stand 1971 vor der Alternative, die Dollarschwemme zu beenden oder die Golddeckung des Dollar aufzugeben. Er entschied sich für das Ende der Golddeckung und damit für das Ende des relativ stabilen Weltfinanzsystems von Bretton Woods. Die Folge war eine galoppierende Inflation und ein Kursverfall des Dollar. Der im August 1979 neu inthronisierte FED-Chef Paul A. Volcker stoppte die Inflation und den Wertverfall des Dollar, indem er die Wirtschaft der USA einer Rosskur unterzog.

Er verdoppelte von November 1979 bis Februar 1980 den Zinsfuß von 9.93% auf 19.39, senkte ihn wieder bis Juli 1980 auf den vorherigen Stand (8.68%) und schraubte ihn bis Anfang folgenden Jahres auf exorbitante 20.06%. Diese Achterbahnfahrt wiederholte er in den folgenden Jahren, wenn auch im kleinerem Maßstab und hielt danach den Zins auf hohen Niveau.

grafik: Economagic

Die Volckersche Rosskur erfüllte ihren währungspolitischen Zweck. Der Dollarkurs erholte sich. Er stieg z.B. gegenüber der DM von 1.83 DM/$ 1979 auf 2.94 DM/$ im 1985

Jahr 1968 1971 1975 1979 1985 DM / $ 4.000 3.5074 2.4603 1.8329 2.9440

Für die internationalen Schuldner der USA hatte die neue US-Geldpolitik katastrophale Auswirkungen. Die Zinsen stiegen für Länder, die Schulden in Dollar hatten, um bis zu 300%, der steigende Dollarkurs tat ein übriges. Kredite, die vor kurzem noch bezahlbar schienen, wurden zur drückenden Last.

Die Schuldenkrise der Dritten Welt und der weltweite Krisenexport

Mexiko traf es als erstes. 1982 erklärte es seine Zahlungsunfähigkeit. Um den Staatsbankrott abzuwenden, nahm Mexiko Verhandlungen mit den USA auf. Diese bestanden auf der Beteiligung des IWF. Der IWF gewährte Mexiko einen neuen Kredit, der gerade zur Bezahlung der ausstehenden Zinsen ausreichte, verlangte im Gegenzug die Abkehr Mexikos von der seit 50 Jahren praktizierten binnenwirtschaftlich orientierten Wirtschaftspolitik und die Hinwendung zum neoliberalen Außenwirtschaftsmodell.

In Mexiko kollabierten die Reallöhne mit Rückgängen von 42%, in einigen Bereichen bis zu 50%, die Arbeitslosigkeit stieg auf 20%, rechnet man die verdeckte Arbeitslosigkeit mit ein, auf 55%. Die IWF-Maßnahmen schufen ein riesiges Reservoir billigster Arbeitskräfte.

General Electric, Fords, General Motors, RCA, Westinghouse und Honeywells, etc. aber auch Mercedes-Benz und Volkswagen nutzten die Chance. Sie flohen vor den hohen US-Zinsen in das neue Billiglohnparadies. Die "Maquiladoras" erlebten einen Boom. "Maquiladoras" sind US-amerikanische Produktionsstätten entlang der mexikanischen Grenze, es gibt sie schon seit den 1960er Jahren. In den achtziger Jahren nahm ihre Zahl sprunghaft zu: Von 620 Maquiladoras 1980 mit ca. 120.000 Arbeiter stieg ihre Zahl auf 2.200 Fabriken 1992 mit mehr als 500.000 mexikanischen Arbeitern.

Mexiko wurde zum neuen Wirtschaftsmodell. An Kandidaten für weitere IWF-Maßnahmen mangelte es nicht. Die Explosion der US-Zinsen trieb nicht nur Mexiko in die Zahlungsunfähigkeit. Die Wall Street Banken, IWF und Weltbank perfektionierten seit den 1980er Jahren das an Mexiko erprobte System, so dass der US-Wirtschaftswissenschaftler John Williamson Anfang der 1990er Jahre von einem Washington Consensus in der Außenwirtschaftspolitik sprechen konnte.

Ein Land nach dem anderen wurde durch Strukturanpassungsmaßnahmen auf den mexikanischen Weg gezwungen. Zumeist traf es die ärmsten der Armen, die weiter nichts auf dem Weltmarkt anzubieten hatten, als Rohstoffe und Agrarprodukte. Die bisherige kleinbäuerliche Landwirtschaft wurde in den Ruin getrieben und an ihrer Stelle eine industrielle Plantagenwirtschaft für den Export nach dem Vorbild der englischen Kolonialwirtschaft etabliert, eine ökologische und soziale Katastrophe. Damit wurde aber das Wirtschaftsmodell Schuldendienst durch Außenhandelsorientierung immer fragwürdiger. Die wütenden Protest blieben auch nicht aus, etwa der Chiapas-Aufstand in Mexiko 1994.

Die USA exportierten ihre Arbeitsplätze zum Nutzen der Gewinne der US-Konzerne und die Wall Street verlegte sich auf eine neue Einnahmequelle: Schuldzinsen aus der Dritten Welt. Auf beiden Sektoren, den Gütermärkten und den Finanzmärkten, kontrollierten die USA und in ihrem Nachtrapp auch europäische Konzerne und Banken die Wertschöpfungsketten. Der Westen führte den globalen Handel - und es galt das Galianische Gesetz: DER PROFIT FÜR DEN, DER DEN HANDEL FÜHRT, also für den Westen. Kein Wunder, dass die Wall Street in den 1990ern boomte.

Jedoch hatte dieses Wirtschaftsmodell der amerikanischen Globalisierung von Anfang an zwei Achillesfersen: Der Export der Arbeitsplätze in die Billiglohnparadiese der Dritten Welt führte zur schleichenden Deindustrialisierung der USA und die Exportorientierung schwächte weltweit die Binnenmärkte. Einzig der amerikanische Konsum schien von dieser Schwächung der Binnenmärkte nicht betroffen.

Ein stetiger Kapitalimport erlaubte den USA ein üppiges Leben auf Pump. Parallel zu dem Börsenboom der Clinton-Ära stieg zwar das Handelsbilanzdefizit. Aber dieses Defizit schien unproblematisch, da der Dollar die unangefochtene Welthandelswährung war und der Börsenboom einen stetigen Strom von Geldkapital anlockte, der das Defizit (zusammen mit den Schuldzinseinnahmen aus der dritten Welt) finanzierte. Auch die innere Verschuldung der USA wuchs stetig. aber auch dies schien unproblematisch, solange der Kapitalimport die Banken liquide hielt.

Das Debakel Asienkrise

Die Wende kam mit der Asienkrise.

Der IWF behandelte die Asienkrise 1997 und in deren Gefolge die Russlandkrise 1998 wie Routinefälle: Versprochen wurden neue Kredite, gefordert wurde eine größere Öffnung der Staaten gegenüber den globalen Märkten, d.h. den westlichen Konzernen und der Wall Street und eine Abwertung der Währungen. Die westlichen Wirtschaftseliten konnten davon träumen, auch die mächtigen Konzerne Taiwans und Koreas und die russischen Bodenschätze unter ihre Kontrolle zu bringen und ihr Modell der wirtschaftlichen Weltherrschaft damit abzurunden.

Völlig übersehen wurde dabei, das ein mächtiges asiatischen Land von der Krise völlig unbetroffen blieb: China.

Die Washingtoner Institutionen verfielen dem Galiani-Fehler:

Wenn man nun einer Idee, die an sich vernünftig ist, folgt, sich auf eine Erfahrung, auf ein erwiesenes Faktum stützt, das aber in dem besonderen Fall nicht passt: so glaubt man ganz richtig zu handeln - aber man begeht einen Fehler.

Abbé Galiani

China nutzte die Gelegenheit. China wehrte während der Asienkrise eine Abwertung seiner Währung erfolgreich ab. Damit kam es zu keiner Entwertung des in China investierten Kapitals und auch zu keiner Krise der chinesischen Wirtschaft. Als Folge davon erlebte es in den Jahren nach der Asienkrise einen atemberaubenden ökonomischen Boom. Chinesische Unternehmen brachen in die bisher von Taiwan und Korea beherrschten Märkte ein und China lockte das westliche Kapital mit dem Köder seines gewaltigen Binnenmarktes in seine Fängen.

Auf dem ersten Blick schien die Karawane der Globalisierung bloß weiterzuziehen: Die Produktion der westlichen Konzerne wanderte z.B. aus den mexikanischen Maquiladoras in die chinesischen Sonderwirtschaftszonen. Anders als Mexiko lässt sich China jedoch die Kontrolle der Wertschöpfungsketten nicht aus den Händen nehmen. Es schützt effektiv seine Binnenmärkte und erobert die Märkte der Welt. Es spielt brillant auf der Klaviatur des Freihandels, ohne selbst der Freihandelsideologie anzuhängen, noch sich sonderlich um die WTO-Bestimmungen zu scheren.

Damit aber gilt: DER PROFIT FÜR CHINA.

China überschwemmt die westlichen Märkte mit seinen Waren, längst nicht mehr bloß auf dem Billigsektor. Es beschränkt sich nicht auf die Rolle des unmittelbaren Produzenten, sondern greift nach der ganzen Wertschöpfungskette. Es kauft die Rohstoffmärkte leer, was die Preise explodieren lässt und die Kassen der Dritte-Welt-Länder füllt, und es stapelt gewaltige Devisenreserven, insbesondere in Form von amerikanischen Staatspapieren, auf seinen Konten. Damit wird China zur ökonomischen Weltmacht, auch auf den Finanzmärkten. Das Schicksal des Dollar befindet sich damit zunehmend in den Händen Chinas.

Die USA verlieren damit ihre wirtschaftspolitische Souveränität: Die Handelsströme mit China lassen Chinas Reichtum stetig wachsen und bluten die USA aus, ohne dass die USA irgendetwas dagegen tun könnten.

Währungspolitisch sind den USA die Hände gebunden. Ob der Dollar steigt oder fällt, hängt von der Gnade der Chinesischen Nationalbank ab, nicht mehr von den Entscheidungen der FED. Eine Zinserhöhung zur Stabilisierung des Dollarkurses etwa, wie zu Zeiten Volckers, ist ausgeschlossen. Die innere Verschuldung der USA, insbesondere die exorbitant angewachsenen Hypothekenschulden und die mehr oder weniger faulen Kreditkartenschulden würden kollabieren, und die USA müssten gewaltige Schuldzinsen auf ihre Staatspapiere an China zahlen, womit das amerikanische Defizit nur weiter explodieren würde. Eine Stabilisierung des Dollarkurses wäre auf diesem Wege nicht erreichbar.

Handelspolitisch sind die USA auf den Freihandel festgenagelt, da sie ihre Industrieproduktion, insbesondere ihre Konsumgüterproduktion, ausgelagert haben. Damit kommen sie aber aus der Verschuldungsfalle nicht mehr heraus.

Man mag einwenden, dass dies nicht Neues ist. Schon vorher hatte Japan im Handel mit den USA eine ähnliche Position inne wie heute China. Es gibt jedoch zwei wesentliche Unterschiede: Zum einen ist Japan ein enger Verbündeter der USA. Weder die japanische Regierung noch die japanische Notenbank würden finanzpolitisch ohne enge Absprache mit den USA irgendetwas von Bedeutung unternehmen,. Und zweitens hielt sich Japan mit seinen Exportoffensiven zurück. Japan ließ sich von den USA zu verschiedenen "freiwilligen" Handelsbeschränkungen drängen. Von China kann die USA ähnliches nicht erwarten.

Die USA sind zum gefesselten Riesen geworden. Diese ökonomische Lähmung der USA lässt die Mäuse der globalisierten Welt auf den Tischen tanzen:

Indien führt seit der Asienkrise offensiv und erfolgreich eine Oppositionsgruppe innerhalb der WTO an, mit vollster Rückendeckung durch China: "Das Schikanieren von schwächeren oder vom Glück weniger verwöhnten Ländern durch mächtigere oder reichere Länder sollte nicht ungestraft bleiben", so der chinesische Ministerpräsident Li Peng vor dem internationalen Währungsfond 1998.

Alle Ministerkonferenzen der WTO seit Seattle sind gescheitert. Die WTO steht vor einem "Scherbenhaufen", wie es die FAZ nannte und berichtete von der Konferenz in Cancún im Herbst 2003:

Delegierte aus Kenia, umringt von Dutzenden Journalisten, wurden nicht müde zu wiederholen: "Die Konferenz ist zu Ende". Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen, zahlreich wie nie in Cancún, fielen sich in die Arme. Ein paar sangen in Anlehnung an einen alten Beatles-Song: "Money can't buy the world".

Das Putinsche Russland unterstellt seine Unternehmen wieder der staatlichen Souveränität und wehrt damit erfolgreich US-amerikanische Versuche einer Landnahme seiner Ölvorkommen ab, wie man am Schicksal des Ölkonzerns Yukos beobachten konnte, was nach Kräften durch China gefördert wird. Es hat z.B. die Übernahme von Yukos finanziert.

Mit dem Aufstieg Chinas und der Blockade der WTO nach Seattle ist das "Washington Consensus" genannte Modell der Krisenbewältigung durch globalen Krisenexport gescheitert

Das Scheitern des US-amerikanischen Modells der Globalisierung lässt Europa nicht unbetroffen. Es droht in den Abwärtsstrudel der USA gerissen zu werden. Will nicht auch die EU ihre industrielle Basis und damit die Kontrolle der Wertschöpfungsketten an China verlieren, wird sie ihre Binnenmärkte vor dem globalen Freihandel schützen müssen. Das Festhalten an der neoliberalen Freihandelsideologie würde für Europa den wirtschaftlichen Selbstmord bedeuten. Es wird spannend sein zu beobachten, was in Europa siegt: die Ideologie oder der Selbsterhaltungswille.

Spätestens mit dem Börseneinbruch zu Beginn des neuen Jahrtausends, den Pleiten von Wordcom und Enron war das Scheitern des US-dominierten Freihandelsmodells offensichtlich. Die USA mussten sich also einer neuen Strategie umsehen. Wie diese aussieht, demonstriert G.W. Bush der Welt seit 4 Jahren. Die Erfolge seines Operettenimperialismus halten sich in Grenzen, denn bisher ist nicht ersichtlich, wie ein martialisches militärisches Auftreten auf der Weltbühne das Scheitern des amerikanischen Modells der wirtschaftlichen Globalisierung kompensieren soll. Auf jedem Fall aber hat der Neoliberalismus als Erfolgsmodell bereits ausgedient.