Linkdschungel und MIDI-Sammlungen

Das volkstümliche Web Teil III

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In den Entwicklungsphasen des Web änderte sich selbstverständlich nicht nur dessen Look. Von wagemutigen und kompetenten "early adopters" über passionierte Amateure und ehrgeizige Profis zum dot.com-Hype und der zweiten Welle (z.B. ebay und Blogs): sie alle beeinflussten die technischen und inhaltlichen Arten, in denen das Web konstruiert und verknüpft wurde. Wie das alles letztendlich aussah hing stark von der dahinter liegenden Architektur ab.

Also vergessen wir für einen Augenblick das Erscheinungsbild des Amateurweb und betrachten stattdessen sein Wachstum, das auf dem naheliegendsten Prinzip beruht: Links, und zwar in großer Anzahl, möglichst auf jeder einzelnen Seite.

Vor zehn Jahren fand sich auf jeder Site zumindest eine Unterseite mit externen Links, da es als persönliche Verantwortung eines jeden angesehen wurde, die Infrastruktur des Webs aufzubauen. Ohne Links zu anderen Sites war eine Site einfach nicht komplett.

Mal führten die Links zu verwandten Themen, mal zu Informationen ohne jeden Bezug. Nach bestimmten Inhalten zu suchen, verschlang viel Zeit, war aber auch ein lohnender Prozess. Über die Links konnte man mehr finden, als man eigentlich gesucht hatte.

Die Faszination an den Links trieb einige extreme Blüten, zum Beispiel ausschließlich aus Links bestehende Seiten, unkategorisierte Linkdschungel, Webringe und die Veröffentlichung privater bookmarks.html-Dateien des eigenen Netscape-Browsers.

Seit Mitte der 90er ist der Link nicht mehr so hip. Erstmals halbwegs brauchbare Suchmaschinen, Portale und Kataloge übernahmen die Verantwortung des Verlinkens, das Suchen nach Informationen verlief immer schneller, bequemer und weniger überraschend. Im Streben nach Hierarchien und Ordnung wurde das Web unbemerkt umgekrempelt. Sites ohne einen einzigen externen Link wurden zur Norm und stellen mittlerweile den größten Anteil des Web-Mainstream. Die meisten User springen immer wieder zur Suchmaschine zurück und nur von dort aus weiter, Links verloren ihre infrastrukturelle Bedeutung.

Im heutigen Web kompensieren Weblogs die überpräzisen Suchmaschinen, indem sie einen endlosen Strom überraschender Links zur Verfügung stellen. Eine fast komische Entwicklung, waren die klassischen Linksammlungen doch entstanden, um mittels menschlichen Eingreifens die tolpatschigen, unpräzisen Suchmaschinen zu kompensieren. Letztendlich liefern beide Methoden die gleiche Medizin: ein Link zu einer neuen, unbekannten Adresse, einem unbekannten Themengebiet, Überraschung, Action, "Deep Web".

MIDI-Sammlungen

Im Amateurweb ist es nicht still. Besonders ausdrucksvolle Seiten werden üblicherweise mit Musik im MIDI-Format untermalt. Vor MP3 und Flatrate, als Bandbreite einen wertvollen Schatz darstellte, war MIDI die einzige realistische Möglichkeit, einen kompletten, mehrere Minuten dauernden Song in eine Webseite einzubinden. Selbst wer die eigene Site nur von der lokalen Festplatte aus testete, musste bemerken, dass 75MB lange WAV-Dateien etwas schwierig handzuhaben waren.

Dieser Umstand war die treibende Kraft hinter der Verbreitung von Web-MIDI, die bis heute nachhallt. Natürlich offerieren inzwischen beispielsweise Macromedia Flash oder Quicktime den Komfort hochqualitativer Audioübertragung, ohne wesentlich mehr Bandbreite als eine MIDI-Datei zu verbrauchen. Aber das ist immer noch schwieriger hinzubekommen als einfach auf das reichhaltige Erbe bereits fertigproduzierter MIDI-Dateien zurückzugreifen. Beispielsweise

  1. Falling
  2. The Final Countdown
  3. Jingle Bells http://art.teleportacia.org/observation/vernacular/midi/jinglebells.mid

Genau wie es Sammlungen freier Webgrafiken gibt, gibt es auch Sammlungen freier MIDI-Musik. Wegen ihrer besonderen Qualität und weil die meisten Dateien von Fans zusammengebaut wurden, herrscht die Meinung vor, MIDI-Dateien wären generell kostenlos und ohne rechtliche Probleme zu sammeln und zu verteilen. Audiodateien erreichten niemals diesen Status, denn sie kommen eindeutig aus einer Welt außerhalb des Webs, von CDs oder aus dem Radio. Für MIDI scheint das Web jedoch die natürlichste Umgebung sein, als wäre es dort erfunden worden.

  1. Bierstall MIDI-Sammlung
  2. Carmen Ezgetas Sammlung
  3. Steliarts Sammlung
  4. Gruselige Halloween-Musik
  5. Chansons bei SaturnSoft

Der größte Unterschied zwischen MIDI- und Webgrafiksammlungen ist, dass bei MIDI die Produktion die Nachfrage klar übersteigt. Es existiert auch keine richtige Tradition, eine MIDI-Musik speziell für eine Site zu komponieren, wie das bei GIFs der Fall ist. Deswegen handelt es sich meistens um Adaptionen bekannter Lieder. Eine MIDI-Datei wird üblicherweise als gelungen angesehen, wenn diese Reproduktion im Rahmen der Beschränkungen des Formates möglichst nahe an das Original herankommt. Webmusik lässt sich also nicht an Genres oder Stilrichtungen erkennen, die sich im Web entwickelt haben, sondern daran, wie sie klingt.

Obwohl MIDI auf jedem Computer anders klingt, klingt es immer trashig

Wie konnte es dazu kommen?

Der MIDI-Standard wurde 1983 verabschiedet, um den Datenaustausch zwischen elektronischen Musikinstrumenten wie Synthesizern und Samplern zu ermöglichen. General Midi enthält 127 standardisierte Instrumente ("Grand Piano", "Steel Guitar" etc und ein Drum Kit), jedem ist einer festen Nummer zugeordnet.

Diese Auswahl an Instrumenten ist also Teil des Standards. Eine MIDI-Datei enthält keine Aufnahme von Klängen, sondern beschreibt nur, welches dieser Instrumente welche Note zu einem bestimmten Zeitpunkt spielen soll. Wie sich das letztendlich anhört, hängt vom verwendeten Synthesizer ab. Im Falle der Webmusik ist eine Soundkarte oder ein Softwaresynthesizer wie Apple Quicktime dafür zuständig, diese Daten abzuspielen. Das funktioniert tatsächlich ähnlich wie HTML, das erst vom Browser in eine grafische Repräsentation umgewandelt wird, die sich je nach Browser auch unterscheiden kann.

Da die MIDI-Instrumente 1983 standardisiert wurden, gehen sie effektiv nicht über das hinaus, was man von Italo Disco kennt. Es wird niemals neue, aufregende Sounds in diesem Standard geben, nur neue Versionen alter Sounds. Neue Sounds oder Instrumente wären nicht mehr kompatibel zu all den bereits existierenden MIDI-Dateien. Softwarehersteller können nicht einfach die "Trumpet" gegen ein Hupgeräusch aus dem neusten Crunk-Chartbreaker austauschen, denn im Web wird die "Trumpet" bereits auf die verschiedensten Arten eingesetzt. Diese eine Trompete muss genau so zu James Browns "Sex Machine" passen wie zu Wagners "Ritt der Walküren". Erreicht wird das, indem sie zu keinem von beiden passt. Das ist immerhin gerecht.

Als Resultat all dessen erinnert so ziemlich alle MIDI-Musik im Web an jemanden, der im trauten Zuhause die Klassiker der 70er, 80er und 90er auf einer Heimorgel nachspielt. Derartiges gibt es auch in der Realität, zum Beispiel auf Hochzeiten oder dem Jahrestreffen des Hasenzüchtervereins.

Man kann sich kaum ein leichteres Ziel für Usability-Experten ausmalen. So fand dieser Berufsstand also heraus, dass Webuser durch MIDI-Musik vom eigentlichen "Inhalt" einer Seite abgelenkt werden, oder sogar davon genervt sind, weil sie beim Surfen lieber eine eigene CD hören möchten.

Es kam nur selten vor, dass MIDI-Musik einer Website auf den Leib komponiert wurde. Michael Samyn, Autor des legendären Home für Netscape 1.1, schrieb zwischen 1997 und 1998 einige minimalistische Stücke für verschiedene Webprojekte.

Ende 2003 entstand das Zombie and Mummy Theme für die Comicserie gleichen Namens.

Diese Beispiele klingen ganz gut, nicht nur wegen den Melodien, sondern auch weil die Komponisten es fertigbrachten, sie den besonderen Gegebenheiten des MIDI-Formats anzupassen. Gut funktionieren melodische Kompositionen, die ohne besondere Effekte auskommen. Alle Instrumente sollten anhand ihres Namens und nicht ihres Klangs ausgewählt werden: Wenn ein "Xylophone" benötigt wird, ist es ratsam, auch das "Xylophone" zu verwenden, obwohl gerade "Marimba" vielleicht mehr nach einem Xylophon klingt. Die MIDI-Datei sollte zudem auf verschiedenen Plattformen getestet werden, so wie es mit HTML bereits Gang und Gebe ist. Diese Einsichten kommen allerdings ein bisschen spät.

Zur Zeit spielt der angesagte Browser Firefox in der Version 1.0 unter Windows überhaupt kein MIDI ab. Hintergrundmusik wird von der Entwicklergemeinde als nicht wichtig genug eingeschätzt, um diesen Bug an die verdiente Stelle in der Prioritätenliste zu setzen. Im Dritten Jahrtausend hätte MIDI also keinerlei Überlebenschancen mehr, wären da nicht einige Wenige, die besonderen Gefallen daran finden, der Soundkarte beim verzweifelten Versuch, eine rührende Passage in einem Bryan Adams-Song nachzuspielen, zuzuhören.

Übersetzt von Dragan Espenschied

In der nächsten Folge kommen Frames und die Tilde an die Reihe.