Das Leitbild der Gleichwertigkeit aller Menschen gerät ins Wanken

Seit Jahren ist ein Anstieg menschenfeindlicher Einstellungen zu verzeichnen, nicht allein in Deutschland, sondern europaweit

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Die skandalöse Zunahme von Rassismus, Sexismus und Xenophobie hat eine Diskursverschiebung zur Folge: Hatten vorher noch das Gebot der politischen Korrektheit und die Tabuisierung von ausländerfeindlichen Haltungen ein Korrektiv dargestellt, fallen jetzt offenbar alle Schranken. Das Leitbild der Gleichwertigkeit aller Menschen gerät ins Wanken und ist feindseligen Haltungen im großen Maßstab gewichen. Fremdenfeindlichkeit ist in die "Mitte" der Gesellschaft eingezogen. Dies belegen zwei aktuelle Studien.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nennt Wilhelm Heitmeyer, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld, jene Art von Diskriminierung, die sich auf Angehörige sozialer, religiöser oder ethnischer Gruppen bezieht. Sie hat, so Heitmeyer, drastisch zugenommen. Von 2002 bis 2004 ist der Anteil derjenigen, die der Auffassung sind, dass in Deutschland zu viele Ausländer leben, von 55 Prozent auf 60 Prozent angestiegen. 73 Prozent waren 2004 der Ansicht, dass Moslems nicht in die westliche Kultur passen. 85 Prozent befürworten die stärkere Verteidigung von Recht und Ordnung. Augenscheinlich sind diese ultrakonservativen Positionen und – hier liegt das Problem – keine Randphänomene der Gesellschaft mehr, sondern bestimmen ihre "Mitte". Sie gefährden ein liberales Miteinander, mithin die Grundfeste von Demokratie.

Die Einstellung der Mehrheit zu Minderheiten hat sich insgesamt gewandelt. Das Team um Wilhelm Heitmeyer untersucht in der 2002 gestarteten und auf zehn Jahre angelegten Langzeitbeobachtung "Deutsche Zustände" die Verschiebungen in den Mentalitäten der Bevölkerung. Jeweils 3.000 repräsentativ ausgewählte Teilnehmer nehmen zu Fragen der Mentalitätsforschung Stellung. Das Ergebnis: Zunehmend treffen hier zu Lande andere Lebensstile auf feindselige Ablehnung, werden als "entbehrlich" oder gar bedrohlich wahrgenommen. Das beschränkt sich nicht allein auf Menschen anderer Herkunft. Neben Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben auch die Diskriminierung Behinderter, Sexismus, Antisemitismus und Islamphobie sowie die Heterophobie, d.h. die Angst vor dem Anderssein, zugenommen.

Während etwa beim Rassismus, dem Glauben an eine Überlegenheit der eigene Rasse, die Zahlen von 17,6 Prozent im Jahr 2003 auf 13 Prozent 2004 zurückgegangen sind, sind sie bei der Fremdenfeindlichkeit im Steigen begriffen. 36 Prozent finden, dass hier lebende Ausländer bei knappen Arbeitsplätzen in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden sollten, 2002 war es noch 27,7 Prozent. Antisemitische Haltungen sind seit Jahren bei etwa 22 Prozent stabil. Auch die Ansicht, dass Juden für ihre Verfolgung durch ihr Verhalten selbst verantwortlich sind, die so genannte "Schuldumkehr", liegt mit 18 Prozent ähnlich hoch wie in den vorigen Jahren. Insgesamt gesehen sind diese Zahlen eher als niedrig einzuschätzen. Gleichzeitig ist jedoch die Anzahl derer, die sich die historische Schuld der Deutschen an den Juden nicht mehr vorhalten lassen wollen, auf denkwürdige 65 Prozent gestiegen.

Fremdenfeindliche Mentalität ist hoffähig geworden

Während die Islamophobie unverändert ausgeprägt ist und etwa 24 Prozent der Befragten meinen, Moslems sollten nicht nach Deutschland ziehen dürfen, hat sich auch ein Einstellungswandel bezüglich Homosexueller, Obdachloser und Behinderter vollzogen. Sie werden immer weniger in der Öffentlichkeit toleriert. Auch die Demonstration von sozialen Rangfolgen, was Heitmeyer "Etabliertenvorrechte" nennt, findet großen Zuspruch: 35 Prozent glauben, dass Zugezogene sich mit weniger Rechten zufrieden geben müssten als Alteingesessene. Fazit: Eine Feindseligkeit der Mehrheit gegenüber Minderheiten ist im Aufwind; die humane Qualität der Gesellschaft, die sich gerade im Umgang mit Schwachen ausdrückt, schwindet.

Wilhelm Heitmeyer erklärt dies mit der Erfahrung von Desintegration. Wenn sich jemand durch Sozialabbau, Perspektivlosigkeit oder die Bedrohung des eigenen Arbeitsplatzes an den gesellschaftlichen Rand gedrängt fühlt, baut er kompensatorische Feind- und Fremdbilder von den Menschen auf, denen er sich überlegen fühlt; er tritt sozusagen nach unten. In der Gruppe der unmittelbar oder indirekt vom sozialen Abstieg Bedrohten lässt sich dieser Reflex am stärksten nachweisen. Offenbar ist diese Gruppe jetzt so groß geworden, dass sie eine Mehrheit bildet. Heitmeyer spricht hier von einer "Redespirale", in Analogie zu der berühmten Noelle-Neumannschen "Schweigespirale": Fühlen sich Menschen einer Mehrheit zugehörig, fallen ihre Parolen umso offensiver aus. Das bedeutet, nun ist es hoffähig geworden, seine menschenfeindliche Mentalität zu erkennen zu geben und sie artikulieren zu dürfen.

Dies allerdings ist kein deutsches Phänomen. Europaweit hat sich die Haltung der Bevölkerungsmehrheit zu Minderheiten gewandelt. Beate Winkler, Direktorin der Europäischen Beobachtungsstelle von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) in Wien, kommt in einer im März veröffentlichten Studie zu vergleichbaren Ergebnissen. Laut dem Euro-Barometer, das die Einstellung zu Minderheiten, Zuwanderern und Asylsuchenden als Indikatoren der Intoleranz einer Gesellschaft untersucht, haben sich dramatische Wandlungen ergeben, die als unmittelbare Gefahr für den europäischen Integrationsprozess zu werten sind. So spricht sich etwa in allen 25 EU-Ländern durchschnittlich die Hälfte der Bevölkerung gegen kulturelle Vielfalt aus und glaubt, dass eine Gesellschaft nur begrenzt Menschen anderer Rassen, Religionen oder Kulturen aufnehmen kann.

Gefahr für die Integration der Vielheit

Dass eine "multikulturelle Gesellschaft" ihre Grenzen hat, dem stimmen beispielsweise in Griechenland 80,6 Prozent zu, gefolgt von 74,6 Prozent in Deutschlands neuen Bundesländern. Am anderen Ende der Skala befinden sich Finnland mit 21,6 Prozent und die Slowakei mit 17,1 Prozent. Die bürgerlichen Rechte – Wahlrecht, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. - von legal im Land lebenden Migranten mit Pass lehnen in Lettland 68,5 Prozent ab, in Belgien 54,9 Prozent und in den alten deutschen Bundesländern 51,8 Prozent (Platz 5). In Italien sind dies bloß 24,8 Prozent und in Polen 14,3 Prozent (Platz 25). Noch krasser erscheint das deutsche Meinungsklima bei der Frage nach der "Befürwortung von Rückführungsmaßnahmen für legale Migranten", was die politische Rechte unter die Hetzparole "Ausländer raus" subsumiert: 32,6 Prozent (Platz 2) der in Ostdeutschland Lebenden befürwortet solche Aussagen, in den alten Bundesländern sind es 28,8 Prozent, in Frankreich 22,9 Prozent, in Dänemark bloß 6,7 Prozent.

Wie kommen solche Unterschiede zustande, wenn 80 Prozent der europaweit Befragten andererseits angeben, keine konkreten Schwierigkeiten in ihrem Alltag mit Migranten gemacht zu haben? Für Beate Winkler resultiert die ethnische Ablehnung aus dem Widerspruch zwischen "konkreter Erfahrung und Fernbild". Je weniger Erlebnisse Menschen im Umgang mit Fremden gemacht haben (und folglich auch keine Schwierigkeiten benennen können), desto anfälliger sind sie für "Fernbilder" und lassen sich von ihnen leiten: Mediendarstellungen, Vorurteile, Stammtischparolen, Wahlkampfslogans usw. Insofern lassen sich die oben genannten 80 Prozent gar nicht als Toleranzindikator werten.

Zudem fallen Persönlichkeitsparameter ins Gewicht wie Einkommen, Bildung, Lebensalter, Geografie (Stadt-/Landkluft) und politische Einstellung, aber auch nationale Merkmale, zum Beispiel das Bruttosozialprodukt eines Landes und die Arbeitslosigkeit. Die Faustregel besagt: Je stärker sich Menschen in ihrer persönlichen Sicherheit und im Wettbewerb um Ressourcen gefährdet sehen, desto größer die Tendenz, konkurrierende Gruppen ausschließen zu wollen. Für das subjektive Gefühl von Unsicherheit gibt es wohl genügend Anlässe. Die Zahlen des Euro-Barometers lassen Schlimmstes befürchten, was die Einheit des Kontinents anbelangt. "Es geht um die Grundfrage Europas", stellt Beate Winkler fest, "nämlich darum, ob es gelingt, Vielfalt positiv zu integrieren."

Ob das angesichts des herrschenden Meinungsklimas gelingt, ist angesichts der Umfrageergebnisse allerdings zweifelhaft. Es geht das Gerücht, dass der "European Social Survey" vor einigen Jahren noch zu weitaus extremeren Ergebnissen gekommen ist. Weil die EU es jedoch ablehnte, sie zu veröffentlichen, musste ein neues Studiendesign angelegt werden, um gemäßigtere Aussagen zu erhalten.