US-Militär macht heimlich einen "body count" von getöteten Zivilisten im Irak

Die Friedensaktivistin Marla Ruzicka deckte kurz vor ihrem Tod in einem Artikel die Existenz der geheim gehaltenen Statistiken auf

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Durch einen Selbstmordanschlag auf der gefährlichen Straße zum Bagdader Flughafen ist die 28-jährige amerikanische Friedensaktivistin Marla Ruzicka am letzten Samstag in Bagdad getötet worden. Sie ist eine der vielen Menschen, die zum zufälligen Opfer des Terrors wurden und denen sie helfen wollte. Ruzicka, die angesichts des Afghanistan-Krieges die Hilfsorganisation Campaign for Innocent Victims in Conflict (Civic) gründete, hatte kurz vor ihrem Tod noch einen Bericht über die zivilen Opfer des Kriegs im Irak verfasst und dabei auch eine Lüge des Pentagon aufgedeckt.

Marla Ruzicka im Irak

Wie viele Menschen im Verlauf der Kriegshandlungen und später während der Besetzung ums Leben kamen, ist noch immer der Spekulation anheim gegeben und wird vermutlich nie bekannt werden. Genaue Zahlen gibt es nicht, das Pentagon hat kategorisch geleugnet, Zahlen von zivilen Opfern zu erheben. Allerdings werden auch nicht die getöteten Gegner aufgelistet, selbst wenn nach manchen Operationen - gelegentlich übertriebene - Zahlen der getöteten Aufständischen als Erfolgsmeldung vom Militär veröffentlicht wurden.

Für einen humanitären Krieg oder eine militärische Intervention zur Befreiung eines Volkes von einem die Menschenrechte verachtenden Regime, wozu der Irak-Krieg (Operation Iraqi Freedom " OIF) schrittweise mit dem Verschwinden der Massenvernichtungsmittel umgetauft wurde, ist es essentiell, dass möglichst wenige unbewaffnete Menschen getötet, verletzt oder anderweitig beeinträchtigt werden. Schließlich sind die so genannten Präzisionswaffen der technische Ausdruck der gesuchten Legitimation für die Führung solcher Kriege. Die Vermeidung oder Minimierung des "Kollateralschadens" ist notwendig, um die Zustimmung der nationalen und internationalen Öffentlichkeit zu gewinnen und den Widerstand nicht zu stärken. Die Strategie des Pentagon war ganz einfach. Es werden nur die Toten und Verletzten der eigenen Truppen aufgelistet, aber die Opfer unter den Zivilisten, die von den Koalitionstruppen oder den Aufständischen verursacht werden, bleiben im Dunkeln und damit auch einer über Mutmaßungen hinausgehenden Kritik entzogen.

With new tactics and precision weapons, we can achieve military objectives without directing violence against civilians. No device of man can remove the tragedy from war, yet it is a great advance when the guilty have far more to fear from war than the innocent,

US-Präsident Bush in seiner Rede, in der er das Ende der größeren Kampfhandlungen verkündete.

General Tommy Franks, während der Invasion der Oberbefehlshaber der Truppen, antwortete auf die Frage, ob das US-Militär zivile Opfer zählen werde, noch vor dem Krieg gegen den Irak lakonisch: "We don't do body counts." Dieser Maxime folgte man nicht nur im Irak, sondern auch bereits in Afghanistan (Fiktionen humaner Kriegführung).

Das Projekt Iraq Body Count kommt auf bislang über 20.000 Tote unter den Zivilisten. Der Schätzung zugrunde liegen Zahlen, die mindestens in zwei Medienberichten genannt wurden. Allerdings geht man davon aus, dass viele Opfer gar nicht in den Medien genannt werden. Zudem ist manchmal auch schwierig zu unterscheiden, ob die Opfer durch militärische Interventionen der Truppen, Aktionen und Anschläge der Aufständischen oder kriminelle Akte verursacht wurden. Eine Studie des Medizin-Journals "The Lancet" schätzte der Zahl der zivilen Opfer dagegen auf 100.000 ("No Body Counts"). Das irakische Gesundheitsministerium bezifferte die Zahl der vom April bis September 2004 getöteten Zivilisten auf 3.500 (Irakmethik: Die Zahlenspiele mit den zivilen Opfern).

In einem nach ihrem Tod veröffentlichten Bericht schrieb Marla Ruzicka allerdings, dass das US-Militär doch die Zahl der Opfer erfasst. Ein hoher Militär habe ihr gesagt, es sei eine Standardprozedur für US-Soldaten, einen Bericht einzureichen, wenn bei einem Einsatz Zivilisten getötet wurden. Er habe überdies gesagt, dass eine Veröffentlichung dieser Statistiken im Interesse des Militärs sei. Nach dem erklärten Ende des Kriegs im Mai 2003 hätten die meisten Einheiten die getöteten Zivilisten erfasst, die bei Patrouillen oder an Straßensperren erschossen wurden. Im Gegensatz zu den Opfern von Anschlägen fließen hier die Informationen spärlicher (Der Preis des Kriegs und die Macht der Bilder). Dass bei den Straßensperren öfter Zivilisten zu Opfern werden, wurde erst wieder über den Tod des Begleiters der italienischen Journalistin Giuliana Sgrena zum Thema (Das befreite Opfer wird zum Opfer der Befreier).

Ruzicka sagt, dass man einen guten Einblick in die Zahl der getöteten Zivilisten gewinnen könne, wenn man die Statistiken im Iraqi Assistance Center in Bagdad und in den General Information Centers des US-Militärs nachschaue. Iraker hätten das Recht auf Schadensersatz, wenn sie oder Familienangehörige bei Einsätzen von US-Soldaten zu Schaden gekommen sind. Manchmal sei eine Entschädigung gezahlt worden, manchmal sei dies aber auch verweigert worden, obgleich die US-Soldaten im Unrecht gewesen seien. Auch in Falludscha und Nadschaf hätten die Marines, die für die Einsätze in den Stadtkämpfen verantwortlich waren, Schadensersatz gezahlt, woraus man Rückschlüsse auf die Opfer machen könne.

Diese Statistiken zeigen, dass das US-Militär die zivilen Opfer erfassen kann und dies auch macht. Bodentruppen bewahren diese Aufzeichnungen auf, weil sie wissen, dass sie die Verantwortung haben, jede Aktion zu überprüfen, und dass es in ihrem eigenen Interesse ist, Fehler zu minimieren, besonders seit es zu einer zentralen Komponente ihrer Strategie geworden ist, die Herzen und Köpfe der Iraker für sich zu gewinnen.

Marla Ruzicka

Die Veröffentlichung genauer Zahlen läge nicht nur im Interesse des Pentagon und in dem der überlebenden Opfer, sondern es sei auch wichtig um die Kosten des Kriegs zu quantifizieren und um an diejenigen zu erinnern, "deren Träume von einem freien und demokratischen Irak niemals mehr verwirklicht werden".

Ruzicka hat, so berichtet der Independent, die Zahl der Zivilisten erhalten, die in Bagdad zwischen dem 28. 2. und 5.4. 2005 getötet wurden. 29 seien bei Gefechten zwischen US-Soldaten und Aufständischen ums Leben gekommen, vier Mal so viel als irakische Polizisten getötet wurden. Die Zahl der getöteten Zivilisten werden nicht nur unter Verschluss gehalten, um den Anschein eines sauberen Kriegs zu verbreiten, dem nur die Bösen zum Opfer fallen, sondern vermutlich auch, um einer Flut von Entschädigungsforderungen zu entgehen. Für Sam Zia-Zarifi von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, für die Ruzicka ihren Artikel geschrieben hat, ist dieser wichtig, weil darin belegt wird, dass das US-Militär doch die Opfer unter den Zivilisten erfasst. Damit hätten diese nun eher die Möglichkeiten, Entschädigungen einzuklagen.