Wächter der heiligen Stätten

Kontinuität und Reaktion: Papst Benedikt XVI. ist der Mann für die bevorstehenden Schlachten

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Weißer Rauch im Vatikan: Schneller als erwartet hat das Römische Papstkonklave entschieden, und - "Annuntio vobis gaudium magnum. Habemus Papam!" - den deutschen Kardinal Ratzinger zum neuen Papst, dem 264. Nachfolger Petri gewählt. Mit der überraschenden Wahl entschied sich das Kardinalskollegium statt für einen neuerlichen "spirituellen" Papst für einen überaus weltlichen Diplomaten und Politiker, einen Intellektuellen, Chefideologen, Großinquisitor, Glaubenswächter, Verstärker der Institution und Gotteskrieger im Geiste des Frühmittelalters. Jetzt ist er unfehlbar. Ratzinger ist zuzutrauen, dass er die vakante Rolle des Katechon, des Aufhalters des Endes, virtuos zu spielen vermag.

"Die Gefahr für Kirche und Religion sind die Lauen"

Man hätte es ahnen müssen: Als Maria Jepsen, protestantische Bischöfin von Hamburg, am Dienstagmorgen im Deutschlandradio mit weinerlich-drängender Stimme mahnte, es dürfe "auf keinen Fall Ratzinger" werden, hätte man es ahnen müssen. Niemand steht dem Zeitgeist näher, als die protestantische Kirche in Deutschland und so war Jepsen genau das richtige Fähnlein, um früh zu signalisieren, woher der Wind wehte. Denn was könnte für die Katholische Kirche verführerischer sein, als für Leute wie Jepsen ein rotes Tuch darzustellen? Ratzinger, für seine Kritiker der "Rasputin des Vatikans", unbestritten als brillanter Theologe, ist ein erzkonservativer Fels in der Brandung des Zeitgeists. "Eure Rede sei Ja! Ja! Nein! Nein!" heißt es in der Bergpredigt - die Gefahr für Kirche und Religion sind aus ihrer eigenen Sicht die Lauen, die Austauschbaren, Kompromissbereiten. Wen interessiert die öffentliche Meinung, in einer Zeit in der die Aufmerksamkeit am größten dort ist, wo man mit ihr bricht, mit ihr streitet, und dadurch Aufregung erzeugt? Warum sollte man im Mittelmaß der säkularen Mehrheitskultur Europas unsichtbar werden. Wer unterscheidbar und erkennbar sein will, braucht dazu klare, unverrückbare Grundsätze.

Aber war es überhaupt eine Option, dass das vom Reaktionär Johannes Paul II. während 27 Jahren designte Konklave einen "liberalen" Papst wählt? Und was heißt "liberal" in diesem Kontext? Eine liberale Option wäre es vielleicht gewesen, einen Papst aus der Dritten Welt zu wählen. Aber welche Autorität hätte ein Afrikaner weltweit? Welche Autorität hat Kofi Annan? Die Entscheidung für einen Lateinamerikaner - Trujillo ist beispielsweise alles andere, als liberal - hätte immerhin die strategische Logik für sich gehabt, die wankende Front des Katholizismus in Lateinamerika zu stärken, den eifernd missionierenden US-amerikanischen Evangelikalen Einhalt zu gebieten.

Zugleich ist der neue Papst dem Zeitgeist näher, als viele, vielleicht er selber, wahrhaben wollen. Er fing "als Linker" an, änderte seine Haltung durch die Erfahrung von 1968. "Ich habe das grausame Antlitz dieser atheistischen Frömmigkeit unverhüllt gesehen, den Psycho-Terror, die Hemmungslosigkeit, mit der man jede moralische Überlegung als bürgerlichen Rest preisgeben konnte, wo es um das ideologische Ziel ging." schreibt er. Aber er ist reflektiert, keineswegs naiv in seiner Ablehnung des Reform-Optimismus der Sechziger Jahre. Damals beschrieb sein Kardinalskollege Walter Kasper Ratzingers Haltung in einer Rezension auf hochinteressante Art:

Dem theologisch nicht Informierten ist es ... wohl nicht immer deutlich, was sichere These und was bloße Hypothese, was gemeinsame kirchliche und theologische Lehre und was persönliche Theologie des Verfassers ist. Dadurch ist er der recht persönlich geprägten Sicht des Autors weitgehend ausgeliefert, zumal andere Meinungen oft von vornherein in recht gezielter Akzentuierung zu Wort kommen.

Unmodern möchte man dies nicht auf Anhieb nennen.

Das Beste, was der katholischen Kirche passieren konnte

Man muss nicht katholisch sein, vielleicht muss man sogar nichtkatholisch sein, um zu erkennen: Die Wahl von Joseph Kardinal Ratzinger zum neuen Papst ist das Beste, was der katholischen Kirche passieren konnte. Sie sichert ihr ein klares Profil. Darum wurde die Wahl so schnell und so einmütig entschieden, und das Interregnum beendet. Ratzingers Wahl weist nach vorn, mit der Einschränkung, dass wegen seines hohen Alters eher eine kürzere Amtszeit zu erwarten ist, aber er ist kein Kompromisskandidat, er hat eine Mehrheit von Wohlgesinnten hinter sich, die überzeugt ist, dass die Kirche sich nur mit einer klaren Botschaft und einer einheitlichen Corporate Identity angemessen im 21. Jahrhundert positionieren kann.

Petersplatz, Rom

Natürlich machen jetzt neben rüden Urteilen - "Das Schwein hat's geschafft." - zunächst wieder all die Üblichkeiten die Runde: Die "alten Männer im Vatikan" haben sich für "einen alten Mann" entschieden, die "kalten Reptilienaugen" werden erwähnt und die "Härte" des neuen Papstes. Und "ein Intellektueller" sei er, was auch nicht freundlich gemeint ist.

Sie haben entschieden. Für einen Streiter, gegen Kompromißbereitschaft. Ja genau! Eine Wahl, die einen Schock für alle Liberalen bedeutet. Aber was ist Religion für liberale, aufgeklärte, moderne Menschen anderes als ein sentimentaler Reflex? Oder eine kulturelle Überlieferung, die man pflegt, wie das ererbte Silberbesteck in der Schublade? Aber sind sie, sind die protestantischen Jepsens und Hubers, flankiert von den Drewermännern und Küngs, Renegaten, die jetzt Radiointerviews im Dutzend geben und ihre "Sorge" kundtun, wirklich diejenigen, nach denen sich die katholische Kirche im wohlverstandenen Eigeninteresse ausrichten sollte? Oder gar nach uns, den liberalen Ungläubigen der gesellschaftlichen Mehrheit?

Breakdance mit Moslems und Batik mit Atheisten hat nicht viel gebracht

Liberale Atheisten muss das alles sowieso nicht interessieren. Sie können das Spektakel genießen, und überlegen, ob wenigstens - wenn man schon nicht an Jesus und die heilige Dreifaltigkeit glauben kann - die Institution zu etwas taugt. Wichtiger als ein Gott, den es nicht gibt, sind diese Institutionen. Und vielleicht hilft es auch zur Schärfung ihres Profils nunmehr einem Gegner ins Auge zu sehen, dem man das intellektuelle Format, die Begriffschärfe nicht leicht absprechen kann, dessen Unwille zum Kompromiß auch die liberale Seite, die Seite der Aufklärung, dazu zwingt, die eigenen Positionen zu definieren.

Auch der gläubige Rest sollte genauer hinschauen, schon aus Eigeninteresse: Der neue Papst, das ist hinreichend bekannt, ist gegen alles Mögliche. Dass er gegen Kondome ist, wollen wir an dieser Stelle mal übersehen - welcher Mann ist nicht irgendwie gegen Kondome? Aber er ist gegen jede Art der Verhütung beim Geschlechtsverkehr, gegen Abtreibung sowieso, gegen Frauenordination, Priesterehen, gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, gegen Schwule und Biotechnik, gegen die Anerkennung anderer Glaubensgemeinschaften als "Schwesterkirchen", gegen die "Theologie der Befreiung", kurz gegen alles das, was er als Verwässerung empfindet, als "Diktatur des Relativismus". Letzteres mag eine Konstruktion sein, aber auch wer überzeugt ist, dass moderne Gesellschaften ohne Offenheit, Pluralismus und Relativierung letzter Einsichten nicht bestehen können, wird zugeben können, dass eine entsprechende Modernisierung der Religion, das gläubige Annehmen modischer Strömungen, Breakdance mit Moslems und Batik mit Atheisten den evangelischen Kirchen nicht viel gebracht hat.

Ignoranz des Diesseits - und seine Attraktivität

Wenn Religion noch etwas mit dem Jenseitigen, der Transzendenz zu tun hat, dann ist die Konzentration auf das Diesseits, die Verwechslung von Religion mit Sozialdemokratie nicht unbedingt das erfolgreichste Rezept zu ihrer Vermarktung im Supermarkt des Ideellen. Dann kann die Ignoranz des Diesseitigen eine gute Werbestrategie sein. Mindestens. Vielleicht ist sie auch eine "Lösung", also eine sachlich angemessene Reaktion. Vielleicht besetzt Religion, wo sie funktioniert, im globalisierten, transzendental obdachlosen Kapitalismus, gerade die Marktlücke der Weltverachtung - die ja eine legitime Antwort ist auf eine Welt, die man nicht mag. Damit das funktioniert, muss man mindestens konsequent sein. Daher die Attraktivität von Fundamentalismen jeder Art.

Benedikt XV

Außerdem ist Ratzingers Ignoranz des Diesseits längst nicht so universal, wie es scheinen mag. Der Mann ist kein spiritueller Spinner und mystischer Charismatiker, wie sein Vorgänger, kein universal Beseelter, von sich selbst berauschter grooviger Massenstar - der dann doch erzreaktionäre Politik treibt, was beim medialen Leichenschmaus der letzten Wochen freundlich übersehen wurde. Sondern er ist ein kühler Realist. Ein Mann der Institution und insofern auch ein Gegengewicht zum Charismatiker Woytila. Der Glaube, der bei Johannes Paul II. wieder mehr zum Opium fürs Volk wurde, dürfte unter Ratzinger wieder stärker zur Hermeneutik werden, zum Vertrauen in die Sprache und ihre Interpretation Als Intellektueller ist er zumindest in der Lage die Dinge und Ideen zu verstehen, auf die er antworten und reagieren muss. Ein effizienter Leiter seines Betriebs, der "Kongregation für die Glaubenslehre" also der Großinquisitor der Kirche. Jetzt ist er unfehlbar. (Die theologisch interessante Frage am Rande, ob denn nun auch bereits seine früheren Urteile und Schriften Unfehlbarkeit beanspruchen dürfen, muss wohl verneint werden.)

Der Papst des 21. Jahrhundert muss ein Pop-Star sein

Die Namenswahl ist intellektuell und einfallsreich, lässt Raum für Interpretation: Der erste Benedikt starb während der Belagerung Roms durch die Langobarden, ein tragischer Verteidiger gegen des Barbarentum also. Ansonsten viele kurze, unscheinbare, ein paar Gegenpäpste. Der wichtigste Benedikt war der XIV., der Mitte des 18.Jahrhunderts fast zwei Jahrzehnte regierte: ein Reformer, Modernisierer in Zeiten der Aufklärung, von Friedrich dem Großen ob seiner Toleranz gerühmt. Der letzte, ebenfalls wichtige war der XV.. Als Friedenspapst im ersten Weltkrieg gilt er auch als einer, der Traditionalisten und Reformer versöhnt hat. Und als "Vater Europas". So wird Ratzinger nun gern unterstellt, er stehe für Stärkung des politischen Eigengewichts Europas, allerdings eines christdemokratisch-katholischen, also antilaizistischen, antiislamischen.

Nicht vergessen in der Reihe der Benedikts sollte man schließlich den herausragendsten Benedikt der Kirchengeschichte, den von Nursia. Er entsagte in harter Askese der Welt, lebte als Eremit und gründete um 530 den Benediktinerorden - eine überaus strenge, mit militärischer Disziplin geführte Vereinigung.

Ein neuer Stil werde nicht einkehren, mutmaßen nun viele. Warum? Zugegeben: Der Papst des 21. Jahrhundert muss ein Pop-Star sein, muss zur Ikone der Spektakelgesellschaft werden können. Daran wird sich auch Ratzinger halten müssen. Man darf ihm durchaus zutrauen, dass er diese Rolle ausfüllt. Worum es im Glauben geht, ist das Ritual. Das gilt für den Katholizismus mehr als für jeden anderen Glauben. Mit Wonne gaben sich auch Nichtkatholiken dem Fun-Stahlbad der Symbolik rund um Papstbeerdigung und Konklave hin - und sie werden das weiter tun, bis zur Krönung Ratzingers allemal.

Spalten statt versöhnen

Wofür der neue Papst steht, ist zweifellos die Konzentration auf Essentials gegen Verwässerung. Zweifellos steht er dafür, dass Glaube nicht ins Gesichtslose abgleitet. Ein Zentralist, ein Stärker der Institutionen, kompromisslos. Aber wenn schon, denn schon - wenn schon Religion, dann bitte richtig. Religion ist nicht modern und die Moderne ist nicht religiös. Ist Ratzinger, ein Mann der Anti-Moderne, nun ein Fundamentalist? Im Zweifelsfall ja. Denn er dürfte kaum die conditio-sine-qua-non der Moderne akzeptieren, nach der Religion ins Private ausdifferenziert wird. Wenn Religion nur ein System unter anderen sein darf, wird mit ihrem Absolutheitsanspruch ihr innerstes Wesen untergraben. Fundamentalisten sind diejenigen, die genau das nicht akzeptieren. Daher besteht nun kein Anlaß, noch einmal, wie schon beim Hinscheiden des alten Papstes alle Streitpunkte freundlich zu verschweigen, und wieder herauszuholen, was herauszuholen ist an Positivem. Was an Ratzinger fundamentalistisch genannt werden muss, gerät in der Warmdusche der ersten Kommentare zur heilsamen oder geradezu rebellischen Prinzipientreue. Er selbst würde das umgekehrt nie tun, wird bei aller Verbindlichkeit klare Worte finden.

Benedikt von Nursia

Spalten, statt versöhnen also. Die Arbeit der Zuspitzung. Zutiefst moderne Methoden an der Spitze einer antimodernen Organisation. Besser noch als von Fundamentalismus könnte man die Formel des US-Wissenschaftlers Jeffrey Herf vom "Reaktionären Modernismus" anwenden. Das sind diejenigen, die die Moderne gleichzeitig bejahen und ihre Folgen verneinen, die Zurechnungsfähigen unter den Fundamentalisten, die die Gestaltungsansprüche erheben, ohne Erlösungsversprechen preis zu geben, und kühl erkennen, dass sich auf logischen Widersprüchen durchaus pragmatisch-rationale Politik aufbauen lässt. Ratzinger charakterisiert die Moderne als Verlustgeschichte, und kann sich dabei sogar auf Jürgen Habermas berufen, der schon 1981 fragte, ob "wir uns nicht der Verluste erinnern sollten, die der eigene Weg in die Moderne gefordert hat." In gewisser Weise repräsentiert Ratzinger damit eine Rückkehr zur Kirche als anspruchvollem Minderheitenprogramm. Radikal wie die Urkirche, einer Wirklichkeit entgegengestellt, die kulturpessimistisch, aber ohne ängstlichen Unterton als "Neu-Heidentum" wahrgenommen wird.

Warum sollte auch in einer Zeit, in der der Zeitgeist restaurativ ist, der Kirche ein Kandidat der Liberalisierung Erfolg versprechen? Was das allerdings auch sagt: Diese Katholische Kirche ist dem Zeitgeist weit mehr verpflichtet, als sie wahrhaben will. Somit entpuppt sich der neue Papst Benedikt XVI. als Mann des Diesseits. Mit Ratzinger wurde ein Kandidat gewählt, der für Kontinuität in der Reaktion steht, für antimodernes Ressentiment. Das muss, auch wenn es den Liberalen nicht gefällt, marketingstrategisch betrachtet, nicht falsch sein. Der Weltbürgerkrieg von heute wird mit Ideen ausgefochten. Wenn die Religion Macht hat, fließt Blut. Darum muss sie, aus Sicht ihrer Gegner, machtlos bleiben. Ratzinger ist der richtige Mann für die bevorstehenden Schlachten.