In die Welt von Kafka und Orwell

Bürgerrechtsorganisationen warnen vor einem im Aufbau befindlichen globalen Projekt einer umfassenden sozialen Kontrolle

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In einem umfassenden Bericht, der anhand von vielen Beispielen die Menschen wachrütteln soll, warnen Bürgerrechtsorganisationen vor der im Aufbau befindlichen "globalen Infrastruktur zur Erfassung und Überwachung von Menschenmassen". Sie wird von vielen Regierungen mit dem "Krieg gegen den Terror" und der Notwendigkeit des Schutzes vor dem Terrorismus begründet. Die Bürgerrechtsorganisationen fürchten, dass mit dieser globalen Überwachungsinfrastruktur ganze Bevölkerungen systematisch kontrolliert werden können.

Den Bericht The Emergence of a Global Infrastructure for Mass Registration and Surveillance wurde von der International Civil Liberties Monitoring Group herausgegeben, zu der sich die American Civil Liberties Union (USA), Statewatch (GB), Focus on the Global South, Friends Committee (USA) und International Civil Liberties Monitoring Group (Kanada) zusammen geschlossen haben. In dem Bericht werden die Pfeiler des Überwachungssystems vorgestellt, deren Zusammenwachsen tatsächlich eine Kontrolle ermöglicht, von der totalitäre Regime bislang nur träumen konnten. Mit angeblich notwendigen Sicherheitsanforderungen wird aber nicht nur legitimiert, dass die einzelnen Menschen immer weniger vor Überwachung geschützt sind, sondern auch, dass die Möglichkeiten der Geheimhaltung der Regierungen größer werden.

Hauptargument ist, dass unter dem Zeichen des Kampfs gegen den Terrorismus weltweite Standards eingeführt werden, die einen leichten Austausch von Daten und deren Speicherung ermöglichen. So wird beispielsweise unter dem Druck der USA und dem dort etablierten US-Visit-System die Integration von biometrischen Informationen in Ausweise und Reisedokumente vorgenommen. Dadurch entstehe eine globale Datenbank zur Identifikation von Menschen, wobei hier Informationen über Ein- und Ausreise auch mit persönlichen Daten von Flugpassagieren wie Kreditkartennummern etc. verbunden werden. Ergänzt wird das US-Visit-System durch die geplante zentrale Datenbank EU-Visa-Informationssystem (VIS). Neben den 450 Millionen EU-Bürgern, die biometrische Pässe erhalten, sollen dann auch in den Visa biometrische Merkmale mit RFID-Chips enthalten sein. Allerdings bereitet die technische Umsetzung noch Schwierigkeiten, ein global standardisierter biometrischer Ausweis steht jedoch bevor. Das Schengen-Informationssystem oder Europol sind weitere Beispiel für die Bildung übergreifender Datenbanken.

Datenbanken wie die von US-Visit werden bereits mit weiteren Datenbanken wie der "Terroristenliste", "Secure Flight", CAPPS II u.ä. verbunden, die wiederum mit anderen verknüpft werden, um verdächtige Personen über Data-Mining und Rasterfahndung (German Trawling) zu identifizieren. Daraus könnte im Endeffekt eine umfassende Datenbank – wie diese beim Terrorist Information Awarenesse System oder bei Matrix angelegt war - entstehen, warnt der Bericht, in dem nahezu alle persönlichen Informationen zusammen gefasst werden:

Die unter US-Visit und anderen Programmen von den USA erfassten Daten können potenziell Informationen über die Krankengeschichte, die Sozialhilfegelder, den Einwanderungsstatus, Ausweisanträge, Vorstrafen, von Geheimdiensten erstellte Sicherheitsüberprüfungen, Antworten von Volkszählungsumfragen, Steuerrückzahlungen, die Geschichte der Arbeits- und Wohnverhältnisse, Käufe mit Kreditkarten, Rezepte, Flugreisen, Emails, Email-Korrespondenten, die Internetnutzung, Mobil- und Internettelefon-Nutzung und Auswahl in Büchereien, Buchläden und Video-Ausleihen enthalten. Insider nennen die Datenbank, die von den USA aufgebaut wird, die "Black Box", weil niemand genau weiß, was sie im Einzelnen enthalten wird. Bekannt ist nur, dass sie so umfassend wie möglich sein wird.

Erschreckend sei auch, dass Organisationen wie Universitäten oder Unternehmen wie Reise- oder Transportgesellschaften nach dem 11.9. ohne Zwang persönliche Daten den Behörden übergeben haben, ohne dass die Betroffenen eine Einwilligung gegeben haben oder diese rechtlich notwendig gewesen sei. Überdies würden US-Behörden auch immer mehr persönlichen Daten von kommerziellen Datensammlern wie DoubleClick oder ChoicePoint kaufen.

Eine globale Überwachung wird möglich im Bereich der finanziellen Transaktionen und der elektronischen Kommunikation. Die Speicherung der Verbindungsdaten bricht hier eine Bahn, gleichzeitig werden die Beschränkungen für das Lauschen und das Überwachen mit einem wachsenden Bündel an Mitteln abgesenkt und der Einbau von Lauschmöglichkeiten zur Pflicht. Dazu kommen globale Lauschsysteme wie Echelon oder weitere Systeme in anderen Staaten, die sich einer gesetzlichen Einschränkung entziehen. In der EU und international werden zudem immer mehr wechselseitige Abkommen geschlossen, um den Datenaustausch für die Sicherheitsbehörden zu erleichtern. Dazu können mittlerweile selbst Informationen gehören, die beispielsweise durch Folterung in repressiven Regimen gewonnen wurden.

"Verlust der moralischen Orientierung

Ein weiterer Baustein der globalen Überwachungsinfrastruktur ist die Profilierung der Menschen aus Sicherheitsgründen, wozu in erheblichem Maße Data-Mining verwendet wird. Im Prinzip wird dadurch jeder erst einmal verdächtig, während es immer schwieriger wird, sich dem zu entziehen, weil man damit erst recht zum Sicherheitsrisiko wird. Im Bericht wird dies als ein Schritt auf eine Welt hin bezeichnet, die wohl kafkaesk als auch orwellsch sei.

Zu den Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten kommen weitere Mittel, die in vielen der so genannten Antiterrorgesetze legalisiert wurden. Sie erlauben mit der Begründung der Vorsorge eine schnellere Festnahme von Verdächtigen und längere Haftzeiten, gipfelnd in der Klassifizierung mutmaßlicher Terroristen als "feindliche Kämpfer", die die US-Regierung zunächst aller Rechte beraubte und willkürlich auf unbestimmte Zeit in ihrem "globalen Gulag" an Lagern einsperrte. Kritisierte wird aber auch die von der UN aufgestellte Liste an Terrorverdächtigen. Alle Staaten sind verpflichtet, das Vermögen der auf der Liste befindlichen Personen einzufrieren. Unbekannt aber sei, nach welchen Kriterien eine Person auf die Liste gesetzt wird. Ganz allgemein wird die anwachsende Zahl von Listen, die meist von den Geheimdiensten der jeweiligen Länder erstellt werden, kritisiert. Zwar werden oft die Informationen zwischen Ländern ausgetauscht, aber es gibt keine einheitlichen und schon gar keine überprüfbaren Kriterien, wie jemand auf diese gelangt.

Der schwammige Begriff "Terrorist" diene als Mittel, nahezu beliebige Personen zu diskriminieren und zu kriminalisieren. Im Hintergrund lasse sich ein "Verlust der moralischen Orientierung" und ein "Schwarzes Loch des Rechts" erkennen, wodurch das Verschwinden-Lassen von Menschen, Auslieferung an Folterstaaten, Folterung oder gar Ermordung gebilligt würden.

Die Bürgerrechtsorganisationen sagen, dass die globale Überwachungs-Infrastruktur nicht unbedingt beabsichtigt aufgebaut wird, sondern sich vor allem schleichend durchsetzt. Dazu würde vor allem beitragen, dass die Exekutive mehr und mehr Macht erhält, während die rechtliche Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden und anderer Behörden abgebaut wird. Oft würden entsprechende Gesetze wie im Fall vieler Antiterrorgesetze überstürzt und ohne die notwendige parlamentarische Diskussion durchgesetzt. Nicht demokratisch legitimierte internationale Organisationen gewinnen an Einfluss, während Verfassungsrechte ignoriert und Datenschutzrechte abgeschafft werden.

Die Bürgerrechtsorganisationen bestreiten, dass all diese Maßnahmen tatsächlich zu größerer Sicherheit führen. Sie würden nur die "Illusion" der Sicherheit befördern, aber Demokratie und Rechtsstaat gefährden und die Gelder von den Maßnahmen abziehen, die tatsächlich vor Gefahren schützen und den Terrorismus an deiner Wurzel bekämpfen können. So würden beispielsweise Rasterfahndung und Data Mining den Anschein erwecken, als würde etwas getan werden. Menschen, die terroristische Anschläge durchführen wollten, könnten aber die Sicherheitsmaßnahmen relativ einfach umgehen, während für die statistisch große Zahl von Menschen, die fälschlicher- oder irrigerweise als verdächtig identifiziert würden, erhebliche Folgen entstehen können. Im Bericht wird darauf hingewiesen, dass es bislang wenig Widerstand gegen die überbordende gesellschaftliche Kontrolle und die Einschränkung der Bürgerrechte gebe. Sie weisen aber auch einige "Widerstandsnester" wie Nichtregierungsorganisationen, demokratische Institutionen wie Datenschutzbeauftragte oder auch Gerichte hin, die in einer Reihe von Ländern Urteile gegen ausufernde Antiterrormaßnahmen gefällt haben. Und pathetisch heißt es am Ende des Berichts:

If human rights and civil liberties are to survive into the 21st century, there must be a sea change in political and popular culture. The resistance that has occurred to date is not enough. Groups and individuals across the whole spectrum of civil society must play a part. The future is in all of our hands.

Die Bürgerrechtsorganisationen rufen dazu auf, sich einer Erklärung anzuschließen, die schon viele Organisationen unterzeichnet haben. Gefordert wird unter anderem, dass alle Maßnahmen der Datensammlung, des Data-Mining und des Informationsaustausches sofort eingestellt werden sollen, wenn sie gegen bestehende Datenschutz- und Menschenrechte verstoßen. Regierungen sollen dem Druck auf Abbau des Datenschutzes seitens der USA und anderer Länder Widerstand entgegen setzen. Die Menschen müssen das Recht auf die Korrektur ihrer persönlichen Daten und deren Missbrauch haben, was auch die vielen "watch lists" betrifft. Gefordert wird auch, dass die Einführung von universellen biometrischen Ausweisen und Standards zum Austausch von Flugpassagierdaten solange ausgesetzt wird, bis offen auf nationaler Ebene über den Schutz der Privatsphäre und der Menschenrechte diskutiert wurde.