Die Muse küsst binär

Welcome to "Die Dschungel". Eine Reise in die Anderswelt

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"Narzißtische Personen empfangen ihre Besucher, ohne die Tür zu öffnen", schrieb der Berliner Schriftsteller Alban Nikolai Herbst unlängst in seinem Weblog und zitierte damit die streitbare Philosophin Camille Paglia. Eine Türe, die schon weit offen steht, muss man nicht mehr öffnen.

Genauso verhält es sich mit dem Weblog. Alban Nikolai Herbst hat den Raumbegriff auch auf das Digitale übertragen. Anhand des Chatrooms zeigt er auf, wie schwer es ist, diesem Ort die richtigen Koordinaten zuzuweisen:

Selbstverständlich spricht man in einen sehr vollen Raum, aber ebenso selbstverständlich sind die Empfänger so weit wie Sternensysteme voneinander entfernt, und die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu "treffen", kommt Begegnungen mit Kometen gleich. Und dennoch. Ich schrieb einmal im "Flirren im Sprachraum": Wer einen Chat betrete, betrete einen Raum. Den wiederum nannte ich anderswo "unausgedehnt", also "raumlos", das heißt: ohne Ausdehnung, was der Definition von Raum an sich widerspricht.

Herbsts Weblog ist kein raumloser Raum. Im Gegenteil, der Romancier hat sich auf der Bildschirmoberfläche wohnlich eingerichtet. Er gewährt viele Einblicke in seine Denkwelt, vermengt Privates, Poetisches und Philosophisches. Es vermischen sich die Arbeiten am neuen Roman, Briefe an den Verleger, Chats, Gedankenfragmente, Dialogskizzen oder Selbstgespräche. Auch visuelle Versatzstücke werden eingepflegt, Reiseimpressionen oder Schnappschüsse aus dem Familienalbum, gelegentlich sogar ein ironisches Webcam-Selbstportrait, wie etwa die Inszenierung des pornografischen Blicks.

Quelle: albannikolaiherbst.twoday.net

Mag sein, dass es Reality-Show-Formaten schneller gelingt, eine Intimität zwischen Akteuren und Rezipienten aufzubauen. Die detailgenaue videomatische Darstellung der Physis und des Phlegmas der Selbstdarsteller erzeugt in Sekundenschnelle eine Emotion. In diesem Medium entscheidet sich die Frage nach Sympathie oder Antipathie buchstäblich auf ersten Blick. Die Wortkultur hat es da schwerer. Das Weblog bleibt ein gutenbergianisches Medium, auch wenn textunterstützende Webcambilder oder Multimedia-Implemente einen anderen Eindruck erwecken wollen.

Wenn man aber die Direktheit in der Rezeption einmal ausklammert, wird die andere Qualität des Weblogs schnell erkennbar. Herbsts Weblog etwa ermöglicht dem Leser, einem zeitgenössischen Autoren beim Denken zu beobachten: Wie ein Bewusstseinsseinsfahrtenschreiber zeichnet der Schriftsteller seine Gedankengänge auf, und das immer aktuell und voller Liebe zum Detail. Was gelegentlich auch als Exhibitionismus ausgewiesen wird. Bernd Graff etwa führt in seinem Artikel "Die Welt als Schnittstelle und Vorstellung" die Aufschreibesucht auf den Begriff des "Life Caching" zurück:

Dazu dann internetbasierte Poesie-Alben und Tagebücher, so genannte Blogs, die eine globale Fortschreibung ermöglichen - wir müssen uns das Leben als eine Großoffensive ausgestoßener Daten vorstellen, die sogleich gesammelt und digital abgespeichert sein wollen. (...) Dieser Notationswahn hat auch schon einen Namen: "Life Caching" nennen die Trend-Scouts das Verhalten vollvernetzter Mitbürger, die den avanciertesten Stand der Technik nutzen, um noch ihre verborgensten Lebensmoleküle in bibbernde Bits und Bytes zu gießen. Und das ist inzwischen verzögerungsfrei möglich.

In der Literaturgeschichte sind viele Fälle von Schreibwut bekannt. Paul Valéry, André Gide oder Victor Klemperer haben mit monomanischer Akribie ihre Lebenserinnerungen aufgezeichnet und riesenhafte Textkonvolute geschaffen. Aber dieses klassische Tagebuch unterscheidet sich vom Weblog in einem Punkt deutlich. Die Grafomanen des nichtdigitalen Zeitalters wussten, dass die Aufzeichnungen erst in der Zukunft gelesen werden würden. Was den Texten immer auch einen Protokollcharakter verlieh, galt es doch, vor der Nachwelt Zeugnis abzulegen.

"Work" Quelle: albannikolaiherbst.twoday.net

Der Leser als Komplize oder Co-Autor

Ein Weblog besticht weniger durch seine Zeitzeugenschaft. Es gewährt dem Leser unmittelbare Einblicke in die Gedankenwelt des Schreibers, und das nahezu in Echtzeit. Wodurch eine emotionale Komponente ins Spiel kommt: Der Blogger versucht, den Leser zu seinem Komplizen zu machen. Und besser noch, beim Blog-Provider Twoday.net kann der Leser auf die einzelnen Einträge sogar mit eigenen Fragen, Kommentaren, Erklärungen reagieren und mit dem Autor in den Dialog eintreten.

Die meisten Schriftsteller nutzen heute eine eigene Webseite zur Vermarktung ihrer Bücher, aber auf ein Webtagebuch verzichten sie. Warum? Vermutlich weniger wegen des Copyrights oder wegen berufsbedingter Vorbehalte gegen die Digitalkultur, und auch nicht wegen mangelnder Mitteilungsfreude. Die geringe Halbwertszeit dieser Texte wird ein wichtiger Grund sein. In einem Webtagebuch, wie Herbst es bei Twoday.net führt, wird das Neueste automatisch nach oben sortiert, das vormals Neueste aber rutscht nicht nur ins Gestern zurück, es verliert seine Bedeutung. Denn hier muss der emotionale Einbezug des Lesers verloren gehen: Die Komplizenschaft zwischen Leser und Schreiber wird nicht mehr eingefordert.

Warum im Weblog nur das Aktuelle als relevant begriffen wird, hat Herbst in seinen "Kleinen Theorien des Literarischen Bloggens" immer wieder diskutiert. Was ihn auf die Idee brachte, eben diese Aktualität zu ertricksen. Was wiederum Ausgangspunkt ist für weiterreichende Überlegungen zum Thema Flexibilität oder "Flimmern", wie er es selbst nennt:

Frühere Einträge können ständig umgeschrieben und neu verlinkt werden, wodurch sie je andere semantische Höfe ("Bedeutungen") erhalten, ja manche fallen weg oder behaupten ihr Gegenteil, und zwar so g u t, daß es das Gewebe nicht aufribbelt. Also verändert sich wiederum auch dieses. Der Erzählrahmen (frame) flimmert und flirrt, das unbeliebte "framing" ist nur ein, wenn auch schlagendes Indiz. "Die mythische Welt befindet sich in einem gleichsam flüssigeren, wandlungsfähigeren Zustand als unsere theoretische Welt der Dinge und Eigenschaften", schreibt Ernst Cassirer.

Während der in einem Buch blätternde Leser sich immer im Besitz des ganzen Textes weiß, fehlt dem linkverfolgenden Leser das Bewusstsein von der Endlichkeit des Textangebots. Überdies ist er der Veränderbarkeit des Netzes ausgesetzt: Jeder gespeicherte Link kann über Nacht zum missing link werden:

Insofern ein Literarisches Weblog nicht durch dingliche Präsenz zum Blättern verführt, ist der Gedanke inniger bei sich wie zugleich hochgradig flüchtig. Sein überindividuell Abstraktes läßt (...) keine emotionale Vertrautheit zu: Vergangenes wird hier nicht als etwas erlebt, das in eine Kiste getan und verwahrt werden kann. Hingegen hat, ein Buch zu öffnen, immer etwas von Inbesitznahme. (...) Zudem blättert es sich in einem Buch leichter, denn der zwischen die vorhergelesenen Seiten gesteckte Finger, hält haptisch den Zusammenhang wach... und zwar genau wie ein Kind auf den ersten Spuren der Algebra ebenfalls die Finger zuhilfe nimmt. Gedanken haben keine Hände.

Herbsts Überlegungen kommen nicht von ungefähr. Der Autor plant, wesentliche Teile seines Literarischen Weblogs als Buch zu publizieren. Ein Collagenwerk also nach der Art des benjaminischen Passagenwerkes, eine Art Teppich aus Literarischem Tagebuch, Arbeitsjournal, Aphorismen, Entwürfen, Diskussionen und Fotografien. Beiliegen soll diesem Buch zudem eine CD-Rom mit dem gesamten Weblog als Schnittstelle zwischen Netz und Buch.

In der Belletristik betritt Herbst damit Neuland. Aber nicht nur die Intermedialität ist neu, auch die Vermengung von autobiografischen Texten mit Anmerkungen von vielen Co-Autoren ist innovativ: Welcome to "Die Dschungel!"

Weil das Rhizom das Ich negiert

Übertitelt ist Herbsts Weblog mit "Die Dschungel. Anderswelt". Der Autor knüpft an sein Literaturmagazin "Dschungelblätter" an, welches er in den 80er Jahren herausgegeben hat. Das Dichte, Verschlungene des Dschungelbegriffs passt aber auch sehr gut auf ein Link-Konvolut. Herbsts Dschungelmetapher erinnert an den Rhizombegriff, den Deleuze und Guattari in "Mille Plateaus"begründet haben. "Mille Plateaus"enthält zahllose Denkebenen und gipfelt schließlich in einem komplex in sich selbst zurückverweisenden Schlussglossar, einem Metatext mit Beispielcharakter.

Deleuze und Guattari versuchen in ihrem Hauptwerk, den berühmten Baum des Wissens zu fällen und durch das Netzwerk eines Myzeliums (Rhizom) zu ersetzen, jenes schwammartige Wurzelsystem, bei dem die horizontale und vertikale Ausrichtung nahezu irrelevant geworden sind und Asymmetrien auf ein Minimum reduziert werden.

Herbst benutzt ein ähnliches Modell. Und dieses Modell beschränkt sich nicht nur auf sein Weblog, sondern beeinflusst auch seine Romane. Er orientiert sich hierbei an den Kubanern José Lezama Lima ("Paradiso") und Julio Cortázar ("Rayuela"), die durch ihre rhizomorphe Schreibweise im 20. Jahrhundert neue Akzente gesetzt haben. Ralf Schnell stellt Alban Nikolai Herbsts literarisches Werk in eine Reihe mit Christoph Ransmayr, Peter Handke und Elfriede Jelinek. Alle vier Autoren eint ein postmoderner Schreibstil, alle vier haben sich dem Amorphen verpflichtet. Insbesondere Jelineks Bücher sind denen von Herbst verwandt: Beide haben eine Vorliebe für Assoziationen und spielen mit ihrer Sprachmächtigkeit, beide inszenieren sie dramatisch-grausame Welten. Mit dem Unterschied aber, dass bei Jelinek diese Welten Spiegelbilder der Gegenwart sein sollen, bei Herbst hingegen eine utopische Welt, ja Science Fiction im genauen Wortsinn einer wissenschaftlichen Fiktion.

Kunstvoller und poetischer SF übrigens, der nicht zu vergleichen ist mit der genretypisch schlanken und thematisch zielführenden Prosa eines Stanislaw Lem, der wie die meisten SF-Autoren eine einfache Narration verwendet. Am ehesten ähneln Herbsts Themen denen von William Gibson (vgl. Die Zukunft als Flohmarkt), dessen Neuromancer-Romane den Matrixfilmen (vgl. Du gleichst dem Geist, den du begreifst) als Vorlage dienten. Auch Gibsons Bücher zeigen eine in Metamorphose begriffenen Welt, in der die Biosphäre in der Technosphäre aufgeht. Aber im Unterschied zu Gibsons Neuromancer-Bücher sind Herbsts Anderswelt-Romane artifizielle Wortkunstwerke, für die er mehrere wichtige Literaturpreise erhielt. Seine Sprachästhetik überfordert nicht nur die Leser, sondern auch die Kritiker, worüber sich Herbst amüsiert:

Iris Radisch sagte einmal zu einem meiner Texte: Sie finde ja den Hebel gar nicht, mit dem sie ihn aufstemmen könne.

Im Stil ähneln Herbsts Romane denen von William S. Burroughs. Der in Tanger ansässige Amerikaner hatte mit einer an die surrealistische Schreibtechnik diffuse psychedelische Drogenwelten skizziert. So ist seine apokalyptische Textcollage "Naked lunch" (1959) das Paradebeispiel für Psychodelic Fiction. Inhaltlich hingegen verfolgen beide aber verschiedene Ansätze: Wo Burroughs mit der Interzone eine psychedelische Zwischenwelt entworfen hat, konzentriert sich Herbst in den Anderswelt-Romanen auf die neuen Kommunikationstechnologien.

Herbst thematisiert die Auswirkungen der technischen Neuerungen auf das menschliche Bewusstsein und die Identität, wobei er die Technik zumeist mit Droge und Macht, mit Zauber und Manipulation gleichsetzt. Dabei werden die utopischen Cyborg- und Robotertechnologien mit einer Selbstverständlichkeit als bekannt vorausgesetzt, dass der Leser vom ersten Satz an durch ein unheimliches Techniklabyrinth irrt. Die gute alte Offlinewelt ist kaum mehr zu erkennen, weil sie von einer Onlinewelt überwölbt wird.

Manche Teile der Anderswelt erinnern an fantastische Rollenspiele oder Computerspiele. Da bewegen sich Fantasyfiguren mit keltischen oder altgriechischen Heldennamen durch apokalyptische Landschaften, es geht um Gewaltherrschaft und Kriegshandwerk, um Rebellion und Freiheitskampf. Hier ließen sich auch Konnexe zu J. R. R. Tolkien ausmachen. Doch während bei dem Heldenepos vom "Herrn der Ringe" der Plot von Anfang A über B direkt zur Conclusio C führt, ist man bei Herbst am Ende kaum klüger als am Anfang.

Irgendwann kommt man um die heikle Frage nicht mehr umhin: Wofür soll dieses ständige Durcheinander an Ebenen und Bezugssystemen gut sein? Herbst erklärt das mit der Auflösung der Identitäten, und dass er den Leser mit eben dieser Auflösung konfrontieren will. Wenn Rimbaud behauptete, "Ich ist ein anderer", so meint Herbst heute: "Ich ist Die Dschungel".

Die Anderswelt-Trilogie

Die Anderswelt erläutert Herbst in dem Glossar des zweiten Bandes, "Buenos Aires. Anderswelt" wie folgt:

Anderswelt.

Die keltische Welt der Toten und Geister, zu der man an Samhain unversehens Zutritt erhalten kann. Oft führen aber auch fehlplazierte Türen hinein oder Seen oder Höhlen. Die Zeit verläuft in ihr anders: Jemand kann hineingelockt werden und dort bloß ein paar Stunden verbringen; kommt er wieder heraus, sind in der Wirklichkeit Jahre oder Jahrzehnte vergangen. Heutzutage betritt man sie besonders oft an Schnittstellen von Cyberräumen. Aber auch Kinos, Bahnhofstoiletten oder Striplokale können diesbezüglich äußerst gefährlich sein.

Die Anderswelt ist also ein hybrider Kunst-Raum. Aber als wäre das nicht schon komplex genug, durchkreuzen die Erzählperspektiven sich oft gegenseitig, und die Romanfiguren sind extrem manipulierbar und wandlungsfähig, was dem Leser jede Identifikation unmöglich macht.

Der wahre Held der Anderswelt ist die Technik. Die Menschen sind an diesen riesigen Technikkörper angeschlossen. Anstelle jedoch nur matrixhafte Batterien zu sein, nutzen sie die Möglichkeiten der technischen Erweiterungen ihrer Sinnesorgane. Was Herbst einmal wie folgt auf den Punkt gebracht hat:

Unsere Sinnesorgane sind in Computerprogramme teilemigriert. Wir sehen Tomographien vermittels unserer Maschinenaugen, und was wir sehen, hat nicht weniger Wirklichkeit als der Mond. So verstanden, haben wir tatsächlich auf die Marsoberfläche geschaut und sind an den Grenzen unseres Sonnensystems gewesen. Nach 1969 ist bemannte Raumfahrt nicht etwa aus Kostengründen eingestellt worden, sondern weil wir unsere Körper getrennt und geteilt und in Funktionen zerlegt haben, die ihrerseits arbeitsteilig mit Maschinen kooperieren. Donna Haraway, in ihrer berechtigten Attacke auf Identität, nennt jeden von uns Cyborg: cybernetic organism.

Herbsts Protagonisten sind häufig Mutanten: Einmal treten sie als Menschen aus Fleisch und Blut in Erscheinung, dann wieder lassen sie sich mit Disketten gleichsetzen, die wahllos mit neuen Informationen bespielt werden können. Die Vergangenheit, die sie besitzen, hat nur so lange Bestand, bis sie gelöscht und durch eine andere ersetzt wird, mit anderen Worten, Orwells 1984 im Endstadium:

Es gibt tatsächlich eine Tendenz auch zur Entkörperlichung des Menschen. Zwar teile ich Wolf Singers Skepsis, doch wenn Moravec darüber spekuliert, ein individuelles Bewusstsein auf eine Festplatte downzuloaden, dann ist das nicht nur Fantasterei, sondern der Ausdruck einer Denkbewegung, die sich konsequent seit Aristoteles der Welt bemächtigt und eben die Maschinen erfunden hat, die die Welt nun digitalisieren und insgesamt in binäre Systeme übersetzen.

Die Anderswelt-Bücher haben einen unverwechselbar eigenen Stil. Kaum ein zeitgenössischer Autor verarbeitet in seinen Werken so viele Weblinks wie Herbst in "Buenos Aires. Anderswelt" - was auf gedrucktem Papier reichlich skurril wirkt. Zudem druckt er Bilder ab, die wie aus dem Netz ins Buch herübergepixelt scheinen und ihrer mangelhaften Auflösung im guten alten Gutenbergmedium Buch seltsam anachronistisch wirken. Herbst switcht zu gerne zwischen den beiden Sphären, beziehungsweise ist er selbst der Switcher, die Schaltstelle, das Relais.

Das Ich als wandelnder Selbstwiderspruch

Indem ich auf das Subjekt verzichte, verzichte ich auf Dauer. Meine Dichtung, wie die Welt, soll fließen.

Erklärt Herbst, und spielt damit nicht nur nur auf das Anything goes eines Paul Feyerabend an. Der Fluss bedeutet zugleich auch die Auflösung des Ichs: Erneut stößt man auf den Topos vom Tod des Autor, den die postmoderne Literaturtheorie so gerne verwendet. Herbst nutzt die Vorstellung vom Fluss, um dem Ich die "schöpferische Eigenleistung" abzuerkennen:

Der Autor schreibt sich in den Text nicht als autonomes Subjekt ein, sondern vor allem auch als ein Bündel aus Triebstrukturen und anderen unbewussten Motivationen. Wie er warum welche Fährte, bzw. Schreibstrategie verfolgt, ist nicht rundweg willensgesteuert; ich bin sogar davon überzeugt, dass der autonome Anteil an der Entstehung eines K u n s t -Werks ausgesprochen gering, nämlich ein illusorischer ist (insofern auch die Autonomie des Subjekts eine illusorische ist).

Herbst wählt in seinen Romanen eine Erzählhaltung, die zu der Selbstdarstellungsprosa der Popliteratur gänzlich konträr verläuft. Dennoch hat er mit den Popliteraten einiges gemein. Denn in seinem Weblog entwickelt er einen enormen Selbstdarstellungsdrang, der zu der Philosophie von der Identitätslosigkeit nur wenig passen mag. Der reale Autor, seine reale Arbeitssituation, sein familiäres Umfeld, alldem wird ein besonderer Wert beigemessen, und steht somit konträr zu der demütigen Haltung vom Autoren als Rädchen im Weltgetriebe.

Überdies hat es Herbsts Lebenslauf in sich. Die wichtigsten Eckdaten wären etwa die folgenden: Herbst wird geboren als Enkel des reichsdeutschen Außenministers Joachim von Ribbentrop. Bricht die Schule ab, arbeitet als Broker an der Frankfurter Börse. Bekommt von seinen Freunden den Kunstnamen Alban Nikolai Herbst verpasst, weil seine echte Identität dem Literaturbetrieb nur schwer zu vermitteln wäre. Schreibt mehrere Romane, von denen fast jeder in einem anderen Verlagshaus erscheint. Der letzte, der 2003 im Mare-Verlag gedruckt wurde, wird kurz nach Andruck mit einem Verkaufsverbot belegt, weil in diesem Roman "Meere" ihm ehemals Nahestehende ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sehen.

Der Vorwurf, in seinen Werken Allzupersönliches preisgegeben zu haben, kommt nicht von ungefähr. Herbst hat in seinen Andersweltromanen immer auch das Milieu vom Berliner Prenzlauer Berg seinen Utopien unterlegt. Überall tauchen reale Versatzstücke auf, Cafés, Clubs, Straßenzüge. Manchmal bekommt man den Eindruck der Autor spiele hier ein Such-mich-doch-Spiel mit Anspielungen und Chiffren, es fehlte eigentlich nur noch, dass er die eigene Telefonnummer oder Postanschrift in sein Buch einfügt.

Womit er sich gewissermaßen zum Anti-Pynchon stilisiert. Denn Thomas Pynchon ließe sich sehr gut als inexistenter Autor verstehen: Der Nordamerikaner hat eine geisterhafte Gestalt angenommen, er kommuniziert ausschließlich über seine Bücher mit der Öffentlichkeit. Durch sein permanentes Versteckspiel ist Pynchon das Symbol für den postmodernen Autoren geworden.

Herbst hingegen erlaubt sich ein Spiel mit vielen verschiedenen Identitäten: Seine wöchentlichen Newsletter beispielsweise erwecken den Eindruck, ein ganzes Team arbeite an "Die Dschungel. Anderswelt". Die meisten dieser Figuren tragen Namen, wie sie auch die Helden in seinen Romanen tragen. Wegen dieser Neigung zur Maskerade findet Herbst im Internet auch so viel Anregung: Mit seinen Chatrooms und Webforen ist das Netz ein Paradies für Scharaden, sowohl der Exhibitionismus als auch die Maskerade kann hier bis zum Exzess getrieben werden.

Der Grenzgänger bleibt auf Grenzgang

Herbst wird weiter mit den neuen Formen experimentieren. Und er zeigt sich entschlossen, die Kunst des Bloggens im Literaturbetrieb salonfähig zu machen - welcher sich bislang gegen Innovationen wie etwa die eBooks als abweisend erwiesen hat.

Die Experimente werden sich weiter verfolgen lassen. So auch die Entstehung des dritten und letzten Andersweltbuches, das mit zahllosen Arbeitsskizzen kommentiert wird. Vor den Augen einer Online-Lesergemeinschaft entsteht nach und nach ein Roman. Die wenigsten Autoren würden sich beim Schaffensprozess direkt über die Schulter schauen lassen, diese Vorgehensweise hat Seltenheitswert.

Ob Herbst damit aber eine neue literarische Mode auslösen wird? Der Literaturbetrieb jedenfalls beginnt, auf die Impulse zu reagieren. Die Bundesakademie Wolfenbüttel möchte das "Literarisches Webloggen" in ihr Programm aufnehmen, mit Herbst als Seminarleiter. Offline, versteht sich.