Verabredung zum Selbstmord im Internet

Um die wachsende Zahl von kollektiven Selbstmorden zu bekämpfen, will die japanische Polizei, dass die Provider die persönlichen Daten "Verdächtiger" mitteilen: ein Schritt weiter zur Kontrollgesellschaft?

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In manchen Ländern begehen junge Menschen aus vorgeblich religiösen oder politischen Gründen Selbstmordanschläge oder sie inszenieren ihren Suizid so, dass sie möglichst viele Menschen in einem Amoklauf mit sich reißen und damit ebenfalls Aufmerksamkeit erregen. Japan, obzwar das Land der Kamikaze-Kämpfer, hat nicht nur eine hohe Selbstmordrate, sondern hier entwickelte sich auch eine andere, eigentümliche Selbstmordkultur: der kollektive Selbstmord von Jugendlichen, die sich über das Internet verabreden.

Schon seit Jahren gibt es immer wieder Meldungen aus Japan über Jugendliche, die gemeinsam Selbstmord begehen. Sie nehmen über das Internet Kontakt auf, um kollektiv in den Tod zu gehen, was die Tat zu erleichtern scheint, weil man sie nicht alleine und einsam begehen muss, aber auch, weil die einmal getroffene Entscheidung durch den Druck der Anderen verstärkt wird. Für Manche sind solche freiwilligen kollektiven Selbstmorde und Selbstmordphantasien ebenso memetisch ansteckend wie für Andere womöglich Formen des Aufmerksamkeitsterrorismus, beispielsweise Amokläufer, die ebenfalls Selbstmord begehen, aber möglichst viele Menschen mit in den Tod nehmen wollen.

Was vielleicht anfangs nur eine Fantasie war, die nicht wirklich verfolgt wurde, aber mit der man spielte, kann sich in der fortgesetzten Kommunikation mit anderen zu einer Obsession und schließlich auch einer Verpflichtung werden. Vielleicht kommen auch erst Manche auf diese Idee, das Leben nicht mehr mitzuspielen, wenn sie zufällig oder gezielt mit solchen Menschen in Kontakt kommen, die Selbstmord begehen wollen und nach Informationen, Bestätigung und Partizipation suchen. Dabei müssen die Gruppen nicht einmal an einem Ort sich versammeln, um das Todesritual zu vollziehen. Letztes Jahr sind in Japan zwei Gruppen gleichzeitig, aber räumlich getrennt, in den Tod gegangen. Vernetzung und Dezentralisierung also selbst im Todesakt.

Waren es nach Angaben der japanischen Polizei 2003 noch 12 Gruppen, die sich über Websites verabredet hatten, so waren es 2004 bereits 19 "erfolgreiche" Selbstmordgruppen. Die Zahl der Toten stieg von 34 auf 55 an. Und der Trend nimmt nicht ab, sondern es finden sich immer wieder Nachahmer. In den ersten drei Monaten soll es bereits 20 solcher Fälle gegeben haben, die zu 54 Toten führten.

Um diese Selbstmordverabredungen zu bekämpfen, will die Polizei die Internetprovider verpflichten, dass diese alle Personen melden, die auf Selbstmordseiten nach anderen Selbstmordwilligen suchen, diesbezügliche Ratschläge geben oder mitteilen, dass sie Selbstmord begehen wollen. Die Internetprovider sollen also nicht nur diese Foren überwachen und "Verdächtige" der Polizei melden, sie sollen auch gleich Namen, Adressen und alle weiteren persönlichen Daten mitteilen, die sie über diese Nutzer haben.

Das klingt erst einmal ganz vernünftig, wenn die Polizei Menschen davon abhalten will, Selbstmord zu begehen. Nur ist Selbstmord kein Verbrechen und nicht jeder, der mit anderen über Selbstmord spricht, wird auch einen solchen begehen oder andere dazu verführen. Die Polizei würde, sollten die Provider dem zustimmen, mit dieser Maßnahme, die ab Sommer in Kraft treten soll, nicht nur die Meinungsfreiheit beeinträchtigen, sondern auch das Gesetz umgehen. Normalerweise muss die japanische Polizei, wie es sich in einem Rechtsstaat gehört, eine richterliche Genehmigung haben, um die persönlichen Daten von Internetnutzern von einem Provider zu erhalten. Dazu muss der begründete Verdacht vorliegen, dass eine Straftat begangen wurde oder beabsichtigt wird. Daher erhalten die Polizisten keine richterliche Anordnung bei geplanten Selbstmorden.

Offenbar haben Provider bereits freiwillig manchmal die Daten von Benutzern in solchen Fällen der Polizei übergeben. Mit der angestrebten Vereinbarung sollen sie dazu aufgefordert werden können, um es der Polizei zu ermöglichen, präventiv einzugreifen. Um diese Vereinbarung dringender zu machen, fügt die Polizei hinzu, dass neben den Selbstmordabsprachen auch die Zahl der Morddrohungen und –absprachen im Internet zugenommen habe. Auch diesen könne sie nicht nachgehen, wenn sie nicht gegen eine bestimmte Person gerichtet sind.

Nach den Vorstellungen der Polizei sollen die Provider dann (selbst)verpflichtet sein, die persönlichen Daten von Kunden preiszugeben, wenn es um "Selbstmordpläne", "Aufforderungen zu Gruppenselbstmorden" und "Mordplänen" geht, bei denen Zeiten, Orte oder Methoden genannt werden. Das soll dann als Notfall gewertet werden, wozu auch gehöre, wenn ein Internetbenutzer schreibt, dass er sterben will. In "Notfällen" oder zur "begründeten Verteidigung" dürfen Internetprovider schon jetzt die persönlichen Daten herausgeben.

Der Verdacht liegt nahe, dass genau so Wege geöffnet werden, die immer größere Bereiche der Internetkommunikation einbegreifen und mit der Maxime der Prävention die Meinungsfreiheit beschränken. Wenn schon junge Menschen Selbstmord begehen und dies womöglich durch Verabredungen zum kollektiven Tod erleichtert, ist das traurig, aber in keiner Weise vergleichbar mit Mordplänen. Letztlich dürfte auch eine Kontrollgesellschaft, die alle unerwünschten Äußerungen unterdrückt und verfolgt, um präventiv bestimmte Taten zu verhindern, keinen Erfolg haben, wenn sie wie gegenwärtig im "Krieg gegen den Terrorismus" nur die Symptome bekämpft, aber nicht die Ursachen angeht. Zudem sollte es das Recht eines jeden volljährigen Bürgers in einem Rechtsstaat sein, über sein Leben und seinen Tod zu bestimmen. Das schließt den Selbstmord, aber auch die Sterbehilfe ein. Ein staatlich verordnetes Leben mündet in einem Panoptikon. Dahin gehen wir nicht nur in Japan Schritt für Schritt – und mit besten Absichten sowie unter Umgehung des Rechts.