Durchlöchert wie ein Emmentaler

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Über die Zukunft des Hauses

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Häuser bestehen aus einem Dach, aus Mauern mit Fenstern und Türen, und aus nicht ganz ebenso wichtigen anderen Teilen. Das Dach ist das Entscheidende: "unbehaust" und "obdachlos" sind Synonyme. Dächer sind Werkzeuge für Untertanen: Man kann sich unter ihnen vor dem Herrn (sei er ein Gott oder die Natur) ducken und verstecken. Das deutsche "Dach" kommt aus dem gleichen Wortstamm wie das griechische "techne": Dachdecker sind demnach Künstler. Sie ziehen die Grenze zwischen dem Hoheitsbereich der Gesetze und dem Privatraum des untertänigen Subjektes. Unter Dach gelten die Gesetze nur mit Reserven. Schon Baumkronen dienten den Hominiden als Dach ihrer Nester. Wir glauben nicht, daß wir selbst die Gesetze projizieren. Wir brauchen keine Dächer.

Mauern sind Verteidigungsanlagen gegen außen, nicht gegen oben. Das Wort kommt von Ž"munire" = sich schützen. Es sind Munitionen. Sie haben zwei Wände: Die Außenwand wendet sich gegen gefährliche (draußen fahrende) Ausländer, potentielle Immigranten, die Innenwand wendet sich an die Häftlinge des Hauses, um für ihre Sicherheit zu haften. Bei obdachlosen Mauern (etwa in Berlin oder China) wird diese Funktion deutlich: Die Außenwand ist politisch, die Innenwand heimlich, und die Mauer hat das Geheimnis vor dem Unheimlichen zu schützen. Wem Heimlichtuerei zuwider ist, der mußte Mauern niederreißen.

Aber selbst Geheimniskrämer und Patrioten müssen Löcher in Mauern reißen. Fenster und Türen. Um schauen und ausgehen zu können. Bevor das Wort "Schau" zum Synonym von "Show" wurde, das ja eigentlich "zeigen" bedeutet, meinte es jenen inneren Blick nach außen, wofür das Fenster das Instrument ist. Man sah von innen, ohne dabei naß zu werden. Die Griechen nannten das "theoria". Gefahrloses und erfahrungsloses Erkennen. Jetzt allerdings wird es möglich, Instrumente aus dem Fenster nach außen zu stecken, um auf gefahrlose Art und Weise Erfahrungen zu gewinnen. Die erkenntnistheoretische Frage lautet: Sind Experimente impertinent, weil sie vom Fenster aus (von der Theorie her) durchgeführt werden? Oder muß man durch die Tür, um zu erfahren?

Türen sind Mauerlöcher zum Ein- und Ausgehen. Man geht aus, um die Welt zu erfahren, und verliert sich dort drinnen, und man kehrt heim, um sich wiederzufinden, und verliert dabei die Welt, die man erobern wollte. Dieses Türpendeln nennt Hegel das "unglückliche Bewußtsein". Außerdem kann geschehen, daß man bei der Heimkehr die Türe geschlossen findet. Zwar hat man einen Schlüsselbund in der Tasche (man kann den Geheimcode entschlüsseln), aber der Geheimcode kann sich in der Zwischenzeit umcodiert haben. Heimtücke ist für Heim und Heimat charakteristisch. Dann bleibt man obdachlos im Regen unter der Traufe. Türen sind weder glückliche noch verläßliche Instrumente.

Außerdem ist gegen Fenster und Türen noch das Folgende einzuwenden: Man kann von außen in die Fenster hineinschauen und klettern, und die Öffentlichkeit kann durch die Tür ins Privathaus brechen. Man kann allerdings die Fenster mit Gittern vor Spionen und Dieben, und die Tür mit Fallbrücken vor der Polizei schützen, aber dann lebt man unter vier Wänden in der Angst und Enge. Derartige Architekturen haben keine blühende Zukunft.

Dach, Mauer, Fenster und Tür sind in der Gegenwart nicht mehr operationell, und das erklärt, warum wir beginnen, uns unbehaust zu fühlen. Da wir nicht mehr gut zu Zelten und Höhlen zurückkehren können, auch wenn einige dies versuchen, müssen wir wohl oder übel neuartige Häuser entwerfen.

Tatsächlich haben wir damit bereits begonnen. Das heile Haus mit Dach, Mauer, Fenster und Tür gibt es nur noch in Märchenbüchern. Materielle und immaterielle Kabel haben es wie einen Emmentaler durchlöchert: auf dem Dach die Antenne, durch die Mauer der Telephondraht, statt Fenster das Fernsehen, und statt Tür die Garage mit dem Auto. Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst. Das ist ein schäbiges Flickwerk. Eine neue Architektur, ein neues Design ist vonnöten.

Designer und Architekten haben nicht mehr geographisch, sondern topologisch zu denken. Das Haus nicht mehr als künstliche Höhle, sondern als Krümmung des Feldes der zwischenmenschlichen Relationen. So ein Umdenken ist nicht einfach. Schon das geographische Umdenken aus ebener Fläche in Kugeloberfläche war eine Leistung. Aber das topologische Denken wird dank synthetischer Bilder von Gleichungen erleichtert. Dort sieht man etwa die Erde nicht mehr als geographischen Ort im Sonnensystem, sondern als Krümmung im Gravitationsfeld der Sonne. So hat das neue Haus auszusehen: wie eine Krümmung im zwischenmenschlichen Feld, von dem Beziehungen "angezogen" werden. So ein attraktives Haus hätte diese Beziehungen einzusammeln, sie zu Informationen zu prozessieren, diese zu lagern und weiterzugeben. Ein schöpferisches Haus als Knoten des zwischenmenschlichen Netzes.

Ein solcher Hausbau aus Verkabelungen ist voller Gefahren. Die Kabel können nämlich statt zu Netzen zu Bündeln geschaltet werden: "faschistisch" statt "dialogisch". Wie Fernsehen, nicht wie Telephone. In so einem entsetzlichen Fall wären die Häuser Stützen für einen unvorstellbaren Totalitarismus. Die Architekten und Designer haben für eine Vernetzung von reversiblen Kabeln zu sorgen. Das ist eine technische Aufgabe, und die Gestalter sind ihr gewachsen.

Allerdings wäre so ein Häuserbau eine technische Revolution, die weit über die Kompetenz der Architektur und des Design reichen würde. Das ist übrigens der Fall bei allen technischen Revolutionen. Eine derart dach- und mauerlose Architektur, die weltweit offenstünde (also nur aus reversiblen Fenstern und Türen bestünde), würde das Dasein verändern. Die Leute können sich nirgends mehr ducken, sie hätten weder Boden noch Rückhalt. Es bliebe ihnen nichts übrig, als einander die Hände zu reichen. Sie wären keine Subjekte mehr, es gäbe über ihnen keinen Herrn mehr, vor dem sich zu verstecken, aber auch in dem sich zu bergen wäre. (Schiller irrt, wenn er meint, daß über Millionen von Brüdern ein guter Vater "wohnen" müsse.) Und es gäbe keine Natur mehr, die sie bedroht, und die sie beherrschen wollen.

Dafür aber würden diese einander offenen Häuser einen bislang unvorstellbaren Reichtum an Projekten erzeugen: Es wären netzartig geschaltene Projektoren für alle Menschen gemeinsame alternative Welten.

So ein Häuserbau wäre ein gefährliches Abenteuer. Weniger gefährlich jedoch als das Verharren in den gegenwärtigen Häuserruinen. Das Erdbeben, dessen Zeugen wir sind, zwingt uns, das Abenteuer zu wagen. Sollte es gelingen (und das ist nicht ausgeschlossen), dann würden wir wieder wohnen können. Geräusche in Informationen prozessieren können, etwas erfahren können. Sollten wir das Abenteuer nicht wagen, dann sind wir für alle ersichtliche Zukunft verurteilt, zwischen vier durchlöcherten Wänden unter einem durchlöcherten Dach vor Fernsehschirmen zu hocken oder im Auto erfahrungslos durch die Gegend zu irren.