Das Kreuz mit dem Ende

Zum Triumphgeheul eines Moralisten

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Schon die Ernennung Sigrid Löfflers zur neuen Feuilletonchefin verhieß nichts Gutes. Ihr Amtsantritt bestätigt dies. "Ausgewitzelt" habe es, verkündete die Wiener Literaturquartettlerin vollmundig bei ihrem Debüt in der ZEIT. Schluß mit lustig sollte sein, mehr "Erdung" und "Verantwortung", mehr Authentizität und gesellschaftlicher Ernst in die Diskurse einziehen. Wer seinerzeit die "Bocksgesänge" bloß als Aufschrei eines empfindsamen Literaten deutete, muß sich seit einiger Zeit umorientieren. Eine "unheilvolle Allianz" aus Altlinken und Wertkonservativen scheint sich zu formieren. Hier wie dort wird gezielt auf die Postmoderne, dem intellektuellen Überbau der Spaßgesellschaft, geschossen. Daß dies ausgerechnet im Feuilleton passiert, entbehrt nicht einer gewissen Komik und Paradoxie. Ist die Postmoderne doch seine Theorie.

Merkwürdig ist, daß Thomas Assheuer, ehemals Kulturredakteur der Frankfurter Rundschau, nicht schon viel früher seinen Affekt gegen die Postmoderne herausschreien durfte. Darum war der Katholik und linke Fundamentalist doch extra vom Main an die Elbe gewechselt, um hier endlich das schreiben zu dürfen, was ihm dort versagt geblieben ist. Doch bereits ein erster Anlauf, das Gespräch mit Jacques Derrida, endete in Peinlichkeiten. Nur nach langem Zögern und mit heftigen Bauchschmerzen stimmte der Philosoph der Veröffentlichung eines Interviews (Die Zeit vom 10.3.1998) zu, das Assheuer im Hauruck-Stil führte: "Nun Monsieur Derrida, Sie haben uns lange mit ihren Wortspielereieen genervt; jetzt sagen Sie uns endlich mal im Klartext, wie wir die aktuellen Probleme dieser Welt lösen können."

Assheuers nächster Versuch, die Postmoderne per Handstreich zu erledigen, kam daher nicht überraschend. (Die Zeit, Nr. 34, 13.8.1998). Das Unbehagen an der Postmoderne, die Angst vor Ungewißheiten und Kontingenzbildungen sitzt tief, offenbar so tief, daß dies mitunter paranoide Züge annimmt und sich der Kämpfer wider Behemoth zum Katechonten berufen fühlt. Ist sein Jubel über das Scheitern des postmodernen Denkens psychologisch noch zu erklären, so erstaunt doch die Dreistigkeit, mit der Assheuer ihr "Ende" als persönliche Entdeckung feiert, es in einen Endsieg alter Selbstgewißheiten ummünzt, und das eigenartigerweise in einer pathetisch-postmodernen Sprache. Als ob dem aufmerksamen Beobachter "der Schnee von gestern", wie er das postmoderne Denken bezeichnet, entgangen wäre.

Wer die diskursiven Gefechte der letzten dreißig Jahre hierzulande still oder kommentierend begleitet hat, fragt sich, wo der Kritiker, der dies jetzt mit Inbrunst vorträgt, all die Jahre über gewesen ist, wenn er dies zum intellektuellen Ereignis im Spätsommer 1998 hochstilisiert. Und nicht nur er, auch die Chefin selbst, die diesen Artikel protegiert und mitverantwortet. Daß es mit einer bestimmten Spielart der Postmoderne theoretisch nicht weit her ist, pfeifen die Spatzen seit längerem schon vom Dach. An ihre diesbezüglichen Schwächen wurden an dieser Stelle jüngst noch einmal erinnert. Aber warum gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten, "Differenzgerede", "Alteritätsglaube" und "Machtkritik" für Blödsinn zu erklären, und sogar hinter die Enkel der Frankfurter Schule zurückzufallen, zumal gerade die Jungs am Institut für Sozialforschung ihren Frieden mit der Postmoderne geschlossen haben und sich bemühen, die Differenzpolitiken, die gender studies und das Alteritätsdenken in ein großes linkes Arbeits- und Forschungsprogramm einzubinden? Davon enttäuscht kann nur sein, wer sich von diesen Politiken die Öffnung neuer Erwartungshorizonte und Erfahrungräume erhofft hat. Für den, der die Postmoderne immer als nüchterne Bestandsanalyse, als Ist-Zustand der Gesellschaft betrachtet hat, wird das Ausbleiben und Fehlgehen postmoderner Versprechen (Pluralität, Offenheit, Transversalität usw.) nicht überraschen.

An solchen luziden und differenzierten Kritiken hätte niemand etwas auszusetzen. Doch das will der Verfasser nicht. Dazu fehlt ihm ein feines Unterscheidungsinstrumentarium. Stattdessen rührt eine rigide Zweiwertelogik (gut/böse; wahr/falsch; links/rechts) eine Melange an, die sämtliche Ressentiments und Mißverständnisse der letzten beiden Jahrzehnten wiederholt, unterschiedslos alle Schlagwörter, Adressen und -ismen versammelt, die die unseligen Diskussionen Anfang der 80er beherrscht und ein Fortschreiten der Theoriedynamik in diesem Lande verhindert haben. Erneut werden Jean Baudrillard und Heiner Müller, Axel Matthes und Jean-Francois Lyotard, Konkursbuch und Georges Bataille in den postmodernen Topf geworfen, obwohl zwischen ihnen wenigstens genauso viel Gemeinsamkeiten herrschen wie zwischen Madonna und Martin Walser. Noch einmal werden alle griffigen Kurzformeln schlaglichtartig gestreift: vom "anything goes" und "rien ne vas plus", vom "Verschwinden des Subjekts", dem "Tod der Moderne" und dem "Ende der Geschichte" ist die Rede. Und wieder müssen als Beweis für den postmodernen "Holocaust" diffuse Affekte und epochale Großereignisse herhalten: die angebliche "Rückkehr die Geschichte" durch die 89er Geschehnisse; die "brutale Wiederkehr" des Sozialen (Erosion sozialer Beziehungen) und der Realität (Kluft zwischen Arm und Reich, Nord und Süd); die Verschärfung der Krise des Kapitalismus (Ende der Nationalökonomien, des National- und Sozialstaates) durch das Schreckgespenst der Globalisierung. Mehr Fleisch liefert Assheuer nicht.

Tunlichst vermeidet er es zu erwähnen, daß sich das postmoderne Denken nicht an einer Wut auf das Soziale, die Gerechtigkeit und die Politik entzündet hat, sondern an bestimmten modernen Varianten davon. Und die sind durch den Fall der Mauer und die Heraufkunft der Weltgesellschaft allenfalls bestätigt und nicht falsifiziert worden. Andersherum wird erst ein Schuh daraus. Gerade der Kollaps des Sozialismus und die Globalisierung der Wirtschaft haben das postmoderne Kontingenz- und Irritationspotential erhöht, sie haben die Dynamik und Komplexität der Verhältnisse verschärft und fordern ein "Mehr von Unterscheidungen" (Dirk Baecker). Nicht das "postmoderne Denken hat die sozialstaatlichen Bestandsgarantien mit dem Ende der Moderne verwechselt", wie Assheuer weismachen will. Vielmehr bläst den bundesrepublikanischen Konsensdiskursen und Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich kurzzeitig im Zuge sozialstaatlichen Kompromisses kurzzeitig etablieren und es sich im Windschatten des Kalten Krieges bequem machen konnten, seitdem der heftige Wind der Weltgesellschaft frontal ins Gesicht.

Weil diese Theorien wenig neues intellektuelles Know How aufzubieten haben und nur altbekannte Denkformen (Subjekt-Objekt; System-Lebenswelt) auf neue Probleme applizieren, schwellen die Bocksgesänge an: das Wehklagen über Auflösungstendenzen, Zerfallserscheinungen, Werte- und Sinnverlust; die Forderung nach political leadership, die man bei allen westlichen Führern vermißt; das Postulieren einer "Weltinnenpolitik", die, auch wenn sie vorerst noch mit dem Attribut "bescheiden" daherkommt, die ungeregelten Märkte zähmt und die sozialen Erosionen der Globalisierung eindämmt; das Appellieren an universalistische Ethiken und moralische Unversehrtheiten der Alltagswelt; die Totalperspektive und der wehmütige Blick auf den sozialen Uterus, den die ehemalige DDR ausgebildet hatte usw. Wer hier die Dinge verdreht, muß entweder böswillige Absichten hegen oder auf beiden Augen blind sein. Überzeugen jedenfalls kann das neuerliche Gerede um Anfang und Tod, Ende und Rückkehr nicht. Nützlich wäre es, wenn unser sendungsbewußter Redakteur gelegentlich einen ausführlicheren Blick in andere Theorietraditionen werfen würde, anstatt die Sekundärliteraturen von Jürgen Habermas zu studieren. Schnell käme ihm die Fruchtlosigkeit aller Reden über Finaldiskurse zu Bewußtsein. Er erführe nicht nur mehr über das vermaledeite "Wiedergängertum", er wüßte auch, daß das Ende eine messianische Figur und nicht von dieser Welt ist.

Immerhin findet Assheuer in Richard Rorty einen Zeugen, der seinen linken Kollegen seit geraumer Zeit die Leviten liest und auch nicht davor zurückschreckt, sich der Selbstvergessenheit linker Errungenschaften zu bezichtigen. Aber auch der postmoderne Ironiker kann außer Sozialromantik und verklärendem Rückblick auf die muffigen 50er Jahre nicht viel Erbauliches anbieten. Was soll sein Erinnern an die gute alte Zeit des New Deal, des Fordismus, der Frauen-, Gewerkschafts- und Bürgerrechtsbewegung auch bei der Bewältigung der Folgen von Vernetzung und Digitalisierung helfen? Wer ist nicht für anständige Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Freizeit oder für eine saubere Umwelt und ein Leben ohne Rassenhaß? An frommen Wünschen oder Appellen mangelt es derzeit nicht. Darum finden "Zivilreligionen", Hauruckreden von Präsidenten oder Visionen vom sozialen Uterus auch überall so großen Anklang. Am Problem, daß niemand weiß wie, ändert das nichts. Indes wächst aber angesichts der Komplexitäten zumindest die Einsicht in eine durch gesellschaftliches Handeln verursachte Handlungsunfähigkeit.

Auf der anderen Seite würde man gerne wissen, warum ausgerechnet westliche Universalien wie: Konsens, Solidarität, Wahrheit, Gerechtigkeit und Demokratie, wenn sie sich schon, aller postmoderner Verunsicherungen zum Trotz, als überlegen erweisen, die Menschheit (verräterischerweise im Kollektivsingular) zum Licht führen. Die Kritik an den Identitätspolitiken mancher postmoderner Fundamentalisten (ethnischer Minderheiten, Feministinnen usw.), die in Opferhaltung ihre Partikularinteressen zum Gesamtinteresse aufspreizen, reichen dafür jedenfalls genausowenig aus wie der Vorwurf, das postmoderne Denken hätte absichtlich politische Projekte verunmöglicht. Wieder ein Blick in dekonstruktivistische Schriften hätte Assheuer davon überzeugt, daß man dort sogar ein Zehn-Punkte-Programm für eine "neue Internationale" finden kann, auch wenn dieses genauso fahl und schal wirkt wie andere.

Als Beobachter fragt man sich zudem, welche eigenartige Totalitäten sich eigentlich hinter einem Gesellschaftsbild verstecken, das einer diffusen Universalisierung der Demokratie das Wort redet, ohne auch nur mit einem einzigen Wort auf die besonderen ethnischen, räumlichen und religiösen Differenzen einzugehen, die andere Staaten prägen? Soll die Weltgesellschaft am deutschen Wesen wieder einmal genesen? Zu welchen sozialen Verwerfungen der bedenkenlose Import des Parlamentarismus und demokratischen Parteienstaates führen kann, wenn es nicht aus sich selbst heraus über Jahrzehnte weg gelebt wird, ist gegenwärtig in den Resten der alten Sowjetunion zu beobachten.

Und so endet der Abgesang auf das postmoderne Denken, wie es kommen mußte. Nicht in einer scharfsinnigen Analyse des Weltzustandes, sondern in einem pathetischen Aufruf an die vereinte Internationale der Intellektuellen, dem "Drama der Globalisierung" und dem befürchteten "Kollaps der Demokratie (R. Rorty) ein überzeugendes politisches Projekt entgegenzustellen. Vor allem "in England", so Assheuer, arbeiteten die Forscher derzeit vehement daran. Dort "besteigen Forscher die Schiffe und halten Ausschau nach der terra incognita der globalen Zukunft". (Hatte dies nicht Nietzsche, der Philosoph der Postmoderne, auch schon formuliert?). Eine "neue analytische Leidenschaft, ein neues Interesse an Sozialphilosophie und politischer Theorie" sei ausgebrochen, um den sich "im Eismeer" türmenden Fragen nach einer "Zweiten Moderne" nachzugehen. Adressen für diesen titanenhaften Kampf der Intellektuellen nennt er nicht. Doch unschwer sind dahinter kommunitaristische Vorstellungen à la Michael Walzer, Richard Sennett und Charles Taylor zu erkennen. Was an diesen hausbackenden Memen allerdings zukunftsfähig ist, bleibt Assheuer schuldig. Dörfliche Atmosphäre, Nachbarschaftsnetze, soziale Fürsorge und Regionalisierung sind keine Allheilmittel oder gar Gegenentwürfe zur Globalisierung, sondern nur deren andere Seite.

Für Reformen "innerhalb von Marktökonomie und Demokratie" (R. Rorty) steht heute in England Tony Blair. Dessen Berater ist Antony Giddens, Erfinder der "Zweiten Moderne", die Ulrich Beck einfordert und deren Ankunft Assheuer nicht mehr erwarten kann. Ausgerechnet der Politiker Blair gilt aber den postmodernen Kritikern als "postmodernes Phänomen: ohne Erinnerung, ohne Geschichtsbewußtsein, pragmatisch bis zum Opportunismus" (T. Eagleton). Kann man noch eleganter sich und seine Ideen und Konzepte dekonstruieren?