Das Gehirn der Welt: 1912

Die Organisation der Organisatoren durch die Brücke

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Ein vergessenes Kapitel Mediengeschichte

Metaphern für das Internet gibt es wie Sandkörner am Meeresstrand. Die meisten behandeln Organisationsformen des gespeicherten Wissens, wie sie die Enzyklopädisten des 17. und 18. Jahrhunderts begründeten. Viele Väter der Informationsnetze und Speichermedien übernahmen diese Metaphorik. Vannevar Bush und sein 'Memex', Ted Nelson und 'Xanadu', ihnen allen ist das Etikett von mentalen Vorläufern heutiger Netznutzung angehängt worden, mehr oder minder sicher zu Recht.1 Und Vinton G. Cerf vom CERN gilt ohne Zweifel als derjenige, der die Vermittlung des Wissens durch das weltweite Spinnengewebe etablierte, indem er die passenden Programm(ier)elemente zusammenstellte.2 Die wohl aufwendigste Unternehmung zur Strukturierung allen menschlichen Wissens dieser Welt scheint jedoch dem Vergessen anheimgefallen zu sein - und dennoch hat sie bedeutende Spuren hinterlassen, von denen man nur kaum weiss, wer sie verursachte.

Sie wurde in den drei Jahren vor dem Ersten Weltkrieg unternommen, ging recht bald bankrott und trug zudem den Namen einer inzwischen weltweit bekannt gewordenen Künstlergruppe, mit der sie nichts zu tun hatte : die Brücke.3 Der Name bezeichnet den Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Künstlern aller Art, Nationen und Geschlecht zwecks einer zuvor nie gekannten Organisation des gemeinsamen Wissens. Von einer gemeinsamen Operationsbasis aus sollten Normierungen für Druckformate und bibliographische Angaben, möglichst vollständige Wissenssystematiken und Adressenlisten erstellt werden, bis "die Brücke zur Auskunftstelle der Auskunftstellen" wird, "die auf jede nur denkbare Frage eine genügende Auskunft wird erteilen können" (Satzung ) Das klingt nach heutiger Lesart wie eine der berühmt-berüchtigten Internet-Legenden, ist es aber nicht. Die Brücke hat tatsächlich existiert, rund 30 verschiedene Flugschriften und Bücher in einer Gesamtauflage von wahrscheinlich einer halben Million Exemplare versandt, dazu ein halbes Jahr lang eine Zeitschrift herausgegeben, die in einer Auflage von rund 10.000 Exemplaren kostenlos an "alle Brücken-Mitglieder", "sämtliche 325 Großbibliotheken der Welt" und "3000 deutsche Großindustrielle" sowie an jedermann geschickt wurde, der sich darum bemühte. Eine Mitgliederliste von 1913 verzeichnet knapp 600 "Stifter" und "Ehren-Mitglieder", "Ordentliche" und "Ehrenamtliche Mitglieder" - darunter mehr als ein Dutzend Nobelpreisträger, aber auch Architekten wie Hermann Muthesius, Maler wie Adolf Hölzel, Schriftstellerinnen wie Selma Lagerlöf und die Friedensaktivistin Bertha von Suttner. Ein Künstler des Dresdner Brücke-Kreises war allerdings nicht dabei. Dass die beiden Vereinigungen voneinander nichts gewusst haben, ist ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit der Vernetzung von Wissen, wie sie die hier beschriebene Aktivität vorhatte.

Untrennbar verbunden sind Idee und Name der Brücke mit einem Mann, dessen Weitblick sämtliche Zeitgenossen immer wieder irritierte : Wilhelm Ostwald (Riga 1853 - 1932 Großbothen/Leipzig). Der Chemie-Nobelpreisträger des Jahres 1909 war Mitgründer, erster Vorsitzender und intellektueller Motor der Unternehmung, setzte Teile seines Nobel-Preisgeldes ein und nutzte seine weitreichenden Verbindungen, um die Ziele der geplanten Institution in die Tat umzusetzen. Dahinter stand zum einen die tiefe Enttäuschung des industriell-wissenschaftlichen Pragmatikers über die mentale Unbeweglichkeit des deutschen Universitätssystems im Kaiserreich, zum anderen aber auch der Wunsch, das eigene Fach zu entmystifizieren und in eine Gesamtsystematik allen menschlichen Wissens einzubinden. Ganz Kind des 19. Jahrhunderts und Migrant vom Baltikum bis Mitteldeutschland, führte Ostwald die Grundlagen einer "tatsächliche[n] Vereinheitlichung der Kulturwelt" auf die "außerordentliche Steigerung der Verkehrsmittel" zurück, die dafür sorgen, "daß an keinem Ende der Welt etwas geschehen kann, ohne daß die Nervenfäden, welche dieses Ende mit der ganzen übrigen Welt verbinden, die Einflüsse der dort sich vollziehenden Ereignisse auf den übrigen Anteil der Menschheit übertragen, wo sie je nachdem im guten oder üblen Sinne sich geltend machen"(Die Brücke ). Man muss keinesfalls dem vielkritisierten "energetischen Imperativ" von Wilhelm Ostwald folgen, um dieser Beschreibung jene Vernetzung zu entnehmen, die als mediale Voraussetzung für weltweite Kommunikationsformen in der Art des Internets notwendig ist. Ostwalds Engagement für die Brücke zeichnete zudem der Impuls aus, dass alle Wissensgebiete gleichwertig seien - ebenfalls eine Basis des Internets, die im Falle dieses Vorläufers jedoch Anfang und Ende des Unternehmens zugleich war.