Wieviele Menschen hat Thatcher getötet?

Das moralische Problem des freien Marktes

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Eine moralische Leere ist für die politischen Führer der Mitte-Links-Regierungen typisch: für Blair, Kok, Schröder und andere. Sie erzeugen einen Menge von Slogans, aber die Moralität wird reduziert auf Kampagnen wie "Rettet die Familie" oder "Kampf gegen die Drogen". Selbst bei einem so offensichtlichen Fall wie dem des Generals Pinochets sind sie durch ihren eigenen Pragmatismus paralysiert. Sie können nicht sagen, daß das Böse falsch ist, weil sie Angst haben, dann als Dogmatiker angesehen zu werden - und weil das nicht wirtschaftsfreundlich ist. Sowohl Blair als auch Kok haben bereits mindestens einmal gestattet, daß Pinochet ihr Land betreten und wieder verlassen konnte. Doch es gibt ein moralisches Thema für sie: den freien Markt.

Dieses Mal wird der Schuldige sich nicht in ein Dritte-Welt-Land flüchten, weil dieses moralische Thema zu Europa gehört, wo es entstanden ist. Mit ziemlicher Sicherheit hat der freie Markt mehr Tode verursacht als die historischen Massenmörder, die den Liberalen als Legitimation für diesen gelten (siehe auch Pol Pot: Das Bild und die Ethik). Wenn es ein Symbol der negativen Folgen der europäischen Zivilisation gibt, dann scheint die Wall Street dafür geeigneter zu sein als Auschwitz. Beide sind Bestandteil des "europäischen Erbes", das die EU und die nationalen Regierungen so widersinnig verherrlichen.

Was hat sich in den letzten Jahren verändert, damit ich derartiges schreiben kann? Zum ersten Mal in der Geschichte sind mehrere Länder, die zuvor und danach technisch auf derselben Höhe entwickelt waren, mit vollständigen statistischen Aufzeichnungen der Folgen direkt von einer Staatswirtschaft zu einer Marktwirktschaft übergegangen. Jetzt ist es das erste Mal möglich, den Anteil des freien Marktes an den Todesraten abzuschätzen. Diese Folgen sind beachtlich, und viele Menschen sind davon betroffen. In Rußland stieg die Todesrate von 10,7 auf 1000 im Jahr 1989 auf 15,8 von 1000 im Jahr 1994. Wenn der freie Markt ein Drittel aller Tode in den Marktwirtschaften während der ganzen Dauer seiner Existenz verursacht hat, dan hat der Markt Hunderte von Millionen Menschen getötet - mehr als in allen Kriegen. Wahrscheinlich läßt der Schock eines Übergangs die Todesraten stark ansteigen und würden die langfristigen marktverursachten Todesraten niedriger sein. Doch auch eine plötzliche Durchsetzung einer neoliberalen Politik würde in Ländern, die bereits einen freien Markt haben, die Todesraten ansteigen lassen.

Wer führte dies in der letzten Generation in Westeuropa aus? Margaret Thatcher. Und wer läßt sie damit durchkommen? Tony Blair.

Vor kurzem veröffentlichte die Truth and Reconciliation Commission in Süfafrika ihren Bericht. In Bosnien werden Massengräber entdeckt - Beweise für den Gerichtshof in Den Haag. Aber in Großbritannien gibt es keine Wahrheitskommission, um den Schuldigen Amnestie zu gewähren. Die Schuldigen brauchen keine Amnestie, weil keine Gefahr durch irgendeinen Gerichtsprozeß droht und niemand Strafe zu befürchten hat. Es wurde für die Thatcher-Periode kein Untersuchungsausschuß eingerichtet. Kein strafrechtliches Verfahren wurde gegen Thatcher, ihre Minister oder irgendjemanden eingeleitet, der für die Verwirklichung ihrer Politik verantwortlich war. Die britischen Akademiker ignorieren dieses Thema. Ich kenne keine Forschungen über die demographischen Folgen des Thatcherismus. Die britischen Medien ignorieren Thatchers Schuld und behandeln sie als ein angesehenes Mitglied des House of Lords. Es ist eine Gesellschaft, die ihre Augen verschlossen hat. (In Chile weiß zumindest jeder, daß Pinochet Menschen getötet hat.) Und es ist eine Gesellschaft, die Tony Blair gewählt hat - um ein moralisches Vakuum im Namen der Nation zu sein. Anstatt Gerechtigkeit, anstatt eines Tribunals, anstatt einer Wahrheitskommission gibt Tony Blair Großbritannien den Millenium Dome.

Letztlich ist das ein europäisches und kein britisches Problem. Auch Gerhard Schröder wir kein Tribunal organisieren. In der EU ist es kein Verbrechen, die Menschen den Marktkräften auszusetzen, selbst wenn diese sie töten. In einem Kontinent, der voller Denkmäler ist, gibt es kein Denkmal für die Opfer des Marktes. Ich respektiere, daß Blair, Kok und Schröder demokratisch gewählt wurden, und ich gehe davon aus, daß die Mehrheit der Europäer abstreiten würden, daß der freie Markt jemals einen Menschen getötet hat.

Zu den Publikationen über die Holocaust-Leugnung kommt eine neue Kategorie der historischen Leugnung (und im Unterschied zu Auschwitz ist der freie Markt noch in Funktion). Den Kult der Amoralität, den Blair, Kok und Schröder darstellen, ist letztlich eine moralische Entscheidung. Historisch gesehen ist sie Bestandteil des expliziten Anti-Utopismus, Anti-Idealismus und Anti-Moralismus der liberalen europäischen Tradition. Aber sie stellt eine derart fundamentale Differenz hinsichtlich der moralischen Werte dar, daß sie jede Grundlage für eine politische Gemeinschaft zerstört. Moralität und Tony Blair passen nicht in den gleichen Staat, jedenfalls nicht in einen Nationalstaat, der sich angeblich von gemeinsamen Werten ableitet. Dasselbe gilt für den freien Markt und seine Opfer. Wie die Juden sich nicht in einer politischen Gemeinschaft sicher fühlen könnten, die auf der Leugnung des Holocaust aufbaut, so können sich die Armen und Benachteiligten niemals in einer Nation sicher fühlen, die die tödlichen Folgen des freien Marktes leugnet. Ein Tribunal gegen Thatcher würde ein Signal sein, daß Europa die Absicht hat, diesen Mangel des Nationalstaates zu beheben.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer

Literatur:

The Tory Record: An Assessment. The Commission for Assessing the Conservative Record

Jacob Nell and Kitty Stewart (1994): Death in transition: the rise in the death rate in Russia since 1992. UNICEF International Child Development Centre. Innoccenti Occasional Papers, EPS 45.

  1. Only 37% of additional deaths from 1989 to 1993 can be attributed to changes in size and structure of the population.
  2. Of 349 000 additional male deaths in 1993, only 91 000 can be explained by changes in population size or structure.
  3. In one year, from 1992 to 1993, male life expectancy fell by 3 years: from 62 years to 59 years.
  4. The rise in mortality affects men more than women: in Russia in 1993, female life expectancy was almost 14 years longer than male life expectancy.
  5. The rise in death rates affects mainly the population of working age.
  6. Alcohol poisoning, suicide, and murder account for 14% of the rise in death rates from 1989 to 1992.
  7. More Russians died in 1993 from suicide, murder and alcohol poisoning, than in the 11-year Afghanistan war.
  8. In one year, from 1992 to 1993, male deaths from alcohol poisoning rose by 69%, and female deaths from alcohol poisoning rose by 90%.
  9. Excess mortality profiles for British unemployed, and for Russia since 1992, are comparable.

Timothy Heleniak (1994): The projected population of Russia in 2005. Post-Soviet Geography 35 (1994): 608-614.

Russian Federation projections of population decline include a "pessimistic variant", a decline of 16,8 million from the 1992 population.

Timothy Heleniak (1995): Is Russia's demographic situation improving? Post-Soviet Geography 36 (1995): 644-646.

NOTE: Since the apparent improvment (or stabilisation), Russia has entered a second sharp crisis. The demographic effects in the winter 1998-1999 will only appear in statistical publications from mid-1999.

A natural increase of 333 000 in 1990, turned into a continuing natural decrease: of 220 000 in 1992, 750 000 in 1993, 893 000 in 1994, and 830 000 in 1995. Russia has the lowest "rate of natural increase" (in fact decrease) in the world. In 1995 death rates began to fall, but were still 4 points above 1989.

Philip McLoone and F A Boddy (1994):Deprivation and mortality in Scotland, 1981 and 1991.British Medical Journal 309 (1994): 1465-1470.

  1. "In Scotland relative deprivation increased between the 1981 and 1991 censuses and was mirrored by a worsening of relative death rates"
  2. "Changes in relative mortality were explained by differences in the decline of death rates according to the afluence of an area; among men the decline in deprived areas was only about half that in deprived areas and among women it was only about a third."

Andrew Sloggett and Heather Joshi (1994): Higher mortality in deprived areas: community or personal disadvantage? British Medical Journal 309 (1994): 1470-1474.

  1. Higher death rates in deprived areas are not related to the area itself. Deprived individuals have a higher risk of death, wherever they live. Some areas have higher death rates, because more deprived individuals live there.
  2. In England in the 1980's, unemployed males aged 16-70 had 1,24 times the death risk of employed males from the top three socio-economic groups.
  3. In England in the 1980's unemployed females aged 16-70 had 1,48 times the death risk of employed females from the top three socio-economic groups.
  4. In England in the 1980's males (16-70) living in rented housing without car access had 1,54 times the death rate of males living in privately-owned housing with car access. For females the extra risk was similar: 1,56.
  5. In the 1980's males (16-70) in the North of England had 1,17 times the death risk of males in the South. For females in the North the factor was 1,12.
  6. In the 1980's, living in the North of England reduced male life expectancy after 25 by 1,8 years.
  7. In the 1980's, living in the North of England reduced female life expectancy after 25 by 1,3 years.
  8. In the 1980's being unemployed reduced male life expectancy after 25 by 2,4 years (compared to employed males).
  9. In the 1980's being unemployed reduced female life expectancy after 25 by 4,3 years (compared to employed females).