Cyberliteraten im Kloster

Kleine Fluchten ohne Absturz

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Die älteste Klosteranlage der Schweiz steht in dem mittelalterlichen Städtchen Romainmôtier am Genfer See. Die Anlage stammt noch aus der Zeit des Abtes Odilo von Cluny (994-1049) und stellt ein bewegendes Zeugnis romanischer Architektur dar. In diese tausend Jahre alten Mauern zog nun der sprichwörtliche ”neue Geist” ein: Drei Tage lang pilgerten Cyberliteraten und akademische Kenner dieser Literatur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, ausgerüstet mit Laptop und CD-Rom, in das Kloster, um ihre Werke zu präsentieren und den digitalen Diskurs aus dem Internet erstmals von Angesicht zu Angesicht zu führen.

Bis dato besass das Kloster keinen Internet-Anschluss, bei dieser Gelegenheit wurde es vernetzt mit der neuen Zeit, und so erschien Hypertext auf dem Monitor. ”Sehen Sie, man kann es nicht lesen, ein wunderbarer Text!” Heiko Idensen, Literaturwissenschaftler aus dem norddeutschen Hildesheim, geriet ins Schwärmen angesichts eines bis zur Unkenntlichkeit von Verweisen übersäten Textes. Ihn fasziniert die "Regellosigkeit der Cyberliteratur” als eine "Peripherie ohne Mittelpunkt”.

Lange schon hätten viele vom "Verlegen ohne Verleger” geträumt. Jetzt könne alles nach eigenem Geschmack und mit eigenem Design ohne Sendeplatzrivalitäten und Zensur in ganzer Länge ausgedrückt werden. Kaum ein Mensch hat das Buchdruckerhandwerk erlernt, um seine Geschichten selbst zu drucken und als bibliophile Ausgabe herauszugeben. Doch heute kann jeder mit kleinen Investitionen selbst ein Cyber-Schriftsteller werden. ”Im Internet ist jeder ein Autor, doch das ist zugleich der Tod des Autors, weil niemand mehr liest, wenn alle schreiben”, so Idensen.

Die Berlinerin Claudia Klinger hat unter dem Motto ”Alle schreiben” einen Netz-Roman geknüpft. Sie provozierte eine Art Internet-Schreib-La-Ola. Thema und Regeln der Schreibbewegung legte sie fest. Mit ihren lebenspraktischen Sujets wie ”Aufhören zu rauchen” oder ”Was ist Yoga?” wendet sich diese Cyber-Autorin explizit ”gegen den Hang der Deutschen zur Tiefe”. Für Klinger besteht das Netz aus flachen Hierarchien, und das soll so bleiben. Deshalb will sie verständliche Netztexte weben.

Nicht nur wegen des Klosters ist Romainmôtier bekannt. Hier ist auch der Schweizer Kultfilm ”Kleine Fluchten” gedreht worden. Der Film handelt von Pipe, einem Knecht, der sich von seiner Rente ein Moped kauft und damit in einen Freiheits- und Geschwindigkeitsrausch gerät. Ein böser Sturz folgt, und doch endet der Film hoffnungsvoll: Pipe gewinnt eine Sofortbildkamera und drückt sich nun damit aus. Die Entwicklung des Knechtes bleibt nicht ohne Auswirkungen auf seine Umgebung: Auch die andern im Dorf geraten in Aufbruchstimmung und streben wie Pipe nach mehr Autonomie.

Kleine Fluchten - auch beim Dichtertreffen: Sich selbst eine Email schreiben etwa, davon berichtet der Cyberliterat Oliver Gassner aus dem schwäbischen Vaihingen. ”Nachts um zwölf sollte ich schlafen, doch der Kreislauf ist noch oben. Das sind die neuen Medien! Dann schicke ich mir übers Netz selbst eine Mail, und bin gespannt, was ich zu sagen habe, und was ich weiss.” So schreibt sich ein Leser selbst zusammen. Der Zürcher Soziologe Rolf Todesco sieht darin Struktur: ”Im Hypertext ist der Leser der Autor, er allein ist für seine Texte verantwortlich”. Damit läuft sich ein Strang der vielgerühmten Interaktivität tot, denn hier droht das Internet zu einer globalen Einsiedelei zu werden.

Uwe Wirth, Literaturhistoriker aus Frankfurt, will sich nicht so leicht mit diesem Selbstleseprogramm zufrieden geben: ”Es gibt doch nichts langweiligeres als man selbst”. Wirth fordert von der Literatur auch eine Informations- und Unterhaltungsfunktion. Auch der Germanist Beat Suter, der das Dichtertreffen mit den Mitteln der Migros-Kulturstiftung Kulturprozent organisierte, findet es banal, sich die Welt zusammenzuklicken: ”Daran ist überhaupt nichts Neues, das ist beim Fernseh-Zappen auch so”.

”Die Freunde, die ich habe, sind die Mail-Adressen in meinem Notizbuch”, sagt der Physiker und Schweizer Cyberautor Peter Berlich aus Baden. ”Wenn ich diese Leute treffe, stelle ich nach einer Weile fest: Das bin ich selbst”. Für Berlich ist die Vereinzelung im Netz positiv besetzt: ”Cyberspace ist eine Eremitage im Grossrechner, ein Refugium, in dem ich über mich nachdenke. Alle diese neuen Medien rücken uns immer weiter von uns weg und helfen uns dadurch, uns von uns selbst zu distanzieren”.

Im Pförtnerhaus vor der Kirche von Romainmôtier steht ein Modell, das die einzelnen Bauphasen des Klosters zeigt. Auch Hypertext entsteht, indem ein Text mit immer neuen Schichten von Kommentaren und Varianten angereichert wird. Trotz aller germanistischen Wühlarbeit lassen sich aber beim Hypertext Kern und Kommentar oft nicht mehr voneinander trennen. Damit markiert Hypertext das Ende der traditionellen Editionsphilologie, deren Aufgabe bisher darin bestand, Textschichten und Varianten möglichst exakt zu dokumentieren. So bilden sich bereits neue Zweige der Literaturwissenschaft heraus. An der Uni Hamburg etwa arbeiten Germanisten und Informatiker zusammen, um Übersetzungsprobleme beim englisch-deutschen Hypertext-Transfer zu erforschen. Wer aber will die Genese von Computertexten nachvollziehen? Wie soll man so etwas für wissenschaftliche Zwecke archivieren?

Solche Unwägbarkeiten haben dazu geführt, dass sich beim "digitalen Diskurs” in Deutschland bislang vor allem die Reformuniversitäten engagieren, während die alten Universitäten vielfach noch zögern und abwarten. Um so bemerkenswerter ist es da, dass sich der Zürcher Goethe-Spezialist Michael Böhler aufgeschlossen zeigte und das Dichtertreffen in Romainmôtier moderierte: ”Diese Bewegung trägt alle Vor- und Nachteile einer Avantgarde, doch man kann sie nicht einfach missachten.” Experimentierlust und frischer Wind stünden hier gegen fehlende Tiefgründigkeit und Überbetonung der Form. Um eine angemessene Beschreibung dieser neuen Literatur wurde gerungen in Romainmôtier, und damit ähnelte die Veranstaltung dem legendären ”Treffen in Telgte”, einer Dichterversammlung nach dem Dreissigjährigen Krieg, dem Günter Grass einen Roman gewidmet hat, in dem er den Streit der Dichter um eine zeitgemässe Poetik vorführt.

Kein Wunder, dass die Cyber-Poetik Schwierigkeiten bereitet, denn das Netz bietet ganz unterschiedliche literarische Möglichkeiten. In ihren Brotberufen sind die Cyberschriftsteller Physiker, Informatiker, Psychologen oder Germanisten. Einer ist Bibliothekar; Lehrer und ein Disjockey sind ebenso darunter wie ein ehemaliger Tarotkartenleser und ein Zauberkünstler. Einige haben schon vorher geschrieben und lassen das Geschriebene jetzt von Spezialisten ins Netz bringen. Andere programmieren selbst und sehen darin eine neue Art sich auszudrücken. ”Kleines Handbuch der anarchistischen Mystik” oder ”Deutsch für Ausserirdische mit Sound” lauten die Titel und verraten oft ein offene oder sublime Affinität zum Antiautoritären. Die Poetik der neuen Online-Lyrikmaschine des Wiener Cyber-Dichters Martin Auer etwa beruht darauf, dass sich der Leser mit den Mitteln des Programms selbst Sätze zusammenstellt. Auers Maschine, die in Romainmôtier ihr Debüt hatte, kann bisher nur Englisch, auf Deutsch ergibt der Probedurchlauf: ”du können essen deine mann”.

Gewöhnlich wird in Hyperliteratur " gefenstert” - denn die meisten Texte finden in den vom Betriebssystem Windows vorgegebenen Fenster-Rahmen statt. Doch auch hierüber spalten sich die Geister: Cyberautor Berlich programmiert mit dem Betriebssystem Linux, weil er sich nicht von Windows einengen lassen will. Und doch sind Fenster bei den meisten Werken konstitutiv - Fenstergeschichten ein neues Genre. Für diejenigen, die selbst programmieren, ist auch die Programmier-Sprache lyrikfähig oder für Prosa einsetzbar - vergleichbar mit Typografie und Layout bei der traditionellen Literaturproduktion.

Und die Sujets? Im Datenmeer liegt die Meeresmetaphorik nahe. Fische, überall Fische. Sie geben ein häufig gebrauchtes literarisches Bild ab. Aale sind es etwa in Frank Klötgens Die Aaleskorte der Ölig, eine Bildergeschichte, die mit einer Kindesmisshandlung endet und in der alle agierenden Personen Opfer sind. In den Augen des Essener Dichters ist die Welt ein Aal-Schwarm im Wassereimer. Auch in Susanne Berkenhegers Hyperfiktion 'Hilfe!' - Ein Hypertext aus vier Kehlen schwimmt ein Fisch herum.

”Hilfe!” beschreibt ein nie endendes multimediales Bettgeflüster aus Text, Ton und Bildern mit einem Geliebten, der wie Ingeborg Bachmanns "Malina" seltsam unerreichbar bleibt und dessen Geschlecht changiert, wenn es heisst: ”Sie ist kein Mann für dich”. Ein urbanes Wetteifern um Aufmerksamkeit, das schliesslich in Einsamkeit mündet: ”Kein Sekt fliegt in Spiralen, sprudelt auch nicht auf unglückliche Nasen”. Frauen und Männer beobachten sich, doch sie sehen die Welt durch verschiedenfarbige Fenster und können so nicht zueinander kommen. ”Läge ich auf dem Eisbärfell, wir flauschten dann gemeinsam. Ich vesperte dich”. Das bleibt konjunktivisch - Möglichkeiten so flüchtig wie die Literatur selbst.

Berkenheger und Klötgen verstehen sich ganz selbstverständlich noch als Autoren und schmunzeln darüber, dass Literaturwissenschaftler in ihrem Beisein vom Tod des Autors sprechen. ”Wer immer noch federführende Literatur machen will”, fordert Soziologe Todesco, ”soll gefälligst auch bei der Feder bleiben. Im Netz gibt es keine federführende Literatur.” Während Klötgen seine literarischen Ideen zunächst auf Papier bringt, um sie dann von seinem Co-Autor Dirk Günters programmieren zu lassen, übernimmt die Münchnerin Berkenheger diese Arbeit selbst. ”So gibt es auf jeden Fall Effekte und Erfolgserlebnisse, das ist beim Text nicht immer so”, schmunzelt sie. Satzzeichen gehen bei Berkenheger schon in Programmier-Zeichen über. Ihr Bettgeflüster hat sie in Kommentarzeichen (---->) auf den Bildschirm gebracht. Damit macht sie sichtbar, was dem Betrachter sonst verborgen bleibt und nur für Programmierer interessant ist.

Brauchen heutige Autoren den Willen zur Garage, müssen sie programmieren können? ”Wer überhaupt nicht programmieren kann, überantwortet sich blind den Händen der Programmierer. Doch früher konnten auch nicht alle schreiben”, bemerkt der Internet-Programmierer und Germanistikstudent Rene Bauer lakonisch. Um das Programmieren werde meist von denen viel Aufhebens gemacht, die wenig davon verstehen, meint Peter Berlich: ”Viele Nichttechniker verunklären den Gegenstand und reden gern von Rhizom und Mystik und solchen Sachen, die nicht zwangsläufig etwas zu tun haben müssen mit dem Computer”. So führt manche Unklarheit der Begriffe zu Unklarheiten in der Diskussion.

In der Debastte ähnelten einige Cyberautoren mitunter Einzelkindern, die daran gewöhnt sind, immer alles sofort und ausführlich in den Raum stellen zu können. Daran drohte die Dichter-Debatte ein ums andere Mal aus den Fugen zu geraten. Doch ebenso oft zeigte es sich, dass die Netzliteratur-Gemeinde eine durchaus brauchbare parochiale Struktur aufweist. Nicht immer ist wirklich egalitär und antiautoriär, was sich in einem scheinbar freien und demokratischen Medium präsentiert. ”Hier habe ich die Leerstellen für die Phantasie des Rezipienten gelassen”, sagt Oliver Gassner. Darf die deutende Phantasie des Lesers sich nicht überall entfalten? Mit einem solchen fest umrissenen Rezeptionsraum wird mehr ”vorgeschrieben” als in vielen Büchern. ”

Die Cyberliteraten machen es einem schwer zu "goutieren”, kritisiert die Zürcher Germanistikstudentin Mirjam Weber. Sie findet den permanenten Meta-Diskurs über die Form, der oft auch bis in die Hypertexte reicht und dort wie ein erhobener Zeigefinger mitgeführt wird, störend. ”Was Literatur auch sein will, nämlich Eskapismus, wird durch die ständige aufgeregte Meta-Diskussion verhindert”. "Das gilt für grosse Teile der modernen Literatur, ihr ist die Naivität abhanden gekommen”, stimmt der Germanist Böhler zu.

”Wir alle sind ja nur Biochips. Das ist banal. Doch die Literatur hat zu demonstrieren, dass Selbstverständlichkeiten eben diese nicht sind”, formuliert Gassner seine Hypertext-Poetik. Doch wo sind eigentlich diese Selbstverständlichkeiten, gegen die hier so vehement vorgegangen wird? Wo gibt es ihn noch, den Normalitätszwang des Establishments? In der Cyberliteratur jedenfalls nicht. Aber Selbstbestimmung und Marktzwang liegen wohl auch nirgendwo so nah beieinander wie bei den neuen Medien, und die nächsten Jahre werden zeigen, ob daraus "kleine Fluchten” möglich sind.

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