Beipackzettel, Faltenwürfe und Datenschatten

"Envisioning Knowledge" dreimal ganz anders

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Neue Wege bei der Repräsentation von Wissen im Tagungsformat ging die Konferenz der Akademie zum dritten Jahrtausend vergangene Woche in München. Das in vier Themenblöcke gegliederte Symposium zum Thema "Envisioning Knowledge - Die Wissenschaft und die neuen Medien" (siehe dazu den Bericht von Stefan Krempl) erhielt massive Konkurrenz durch praxisorientierte Workshops und vor allem eine opulente Ausstellung. Dabei fanden besonders die ambitionierten Beiträge junger Aussteller innovative Antworten auf die schwierigen und oft gestellten Fragen nach Wissenserwerb, Ressourcennutzung und Medienkompetenz.

Gut siebzig verschiedene Projekte präsentierten sich im weitläufigen Foyer des International Congress-Center München (ICM), dabei entstand eine breitgefächerte Leistungsschau, die dem Tagungsmotto gerecht zu werden suchte. Durch die mehrschichtige Konzeption der Konferenz avancierten besonders die Aussteller zu Profiteuren der Veranstaltung - noch vor dem für das Symposium reservierten Hörsaal plaziert, zog der Knowledge-Showroom als kommunikativer Umschlagplatz zahlreiche Tagungsteilnehmer in ihren Bann. Neben den zahlreichen professionellen Firmenpräsentationen, die mit der Vorstellung neuer Anwendungen, Dienstleistungen und Hardware-Lösungen für das übliche Ambiente einer Computermesse sorgten, verliehen besonders einige Nachwuchsprojekte der Ausstellung ein besonders Flair.

Der künstlerische Erstkontakt mit dem Tagungsthema erwartete die Konferenzteilnehmer bereits in der Tagungsmappe, die von einer Grafikklasse der école cantonale dŽart de lausanne (écal) gestaltet worden war. Das durchsichtige, mit den Aufzeichnungen der Mausbewegungen während einer Internet-Session bedruckte Kuvert enthielt 15 ausgewählte Arbeiten, die sich mit der Thematik des "Envisioning Knowledge" auseinandersetzten. Hans-Ulrich Obrist, Mitglied der Burda-Akademie und als Ausstellungsmacher zwischen Paris, London und Wien unterwegs, hatte das Projekt kuratiert und eine originelle Sammlung bedruckter Postkarten, Booklets und Faltblätter zusammengestellt. Bewiesen werden sollte damit, "daß die Entwicklung kreativer Konzepte für Wissensvisualisierung eine Sache des Kopfes und nicht der Computer ist."

So lud etwa eine "Anti-Maus" von Julien Gaillardot zur Entspannung durch die Wissensuche beanspruchter Hände ein oder gaben die "Paper-Bugs" von Laurence Jaccottet, Lauris Paulus und Gregor Schönborn Anleitung zur Reduzierung der Informationsflut. Auffällig oft setzten sich die jungen Designer mit den wackeligen Übertragungen analoger Begriffe in ein digitales Umfeld auseinander und verwiesen so auf die vielfachen Unzulänglichkeiten aktueller Versuche des "Envisioning Knowledge". Die multiplen Defizite der digitalen Analogien verdichtete und visualisierte Jean-Marie Delafontaine, der mit seinen "Digital Analogies" gängige Begrifflichkeiten der Bildschirmoberflächen illustrierte: die ausgedruckten Fenster des "Clipboard", der "Presse-Papiers" und der "Zwischenablage" blieben auch in ihrer analogen Version leer. Ein besonders amüsantes Beispiel lieferten schließlich die "Science, Fictions", mittels webbasierter Übersetzungssysteme erstellte Nacherzählungen verschiedener Kinofilme. Die im Format eines Beipackzettels daherkommenden Textfragmente haben in der Tat den Charme exotischer Gebrauchsanweisungen, wie das Beispiel der "Truman Show" zeigt:

War es das Leben eines Mannes, der in einer Wirklichkeit lebte, die vollständig für ihn erstellt wurde, folglich hat sie nicht eine zutreffende Lebensdauer. Jeder welch lebend real Lebensdauer sehr wissen ihm und er nicht wissen all von es... zu beenden mit der Geschichte von Film, eines Tages Schauspieler Fall in Liebe von ein Frau das es haben sehen in ein Festival, ich glauben, und es beginnen zu verwirklichen daß etwas gehen nicht, folglich mit Ende es wünschen Entweichen von diese Wirklichkeit innen glauben daß es es können und nehmen ein Boot welch beenden vorbei. Einsatz der Dekoration und abschließend es folgen haben sprechen mit dem "Schöpfer" und selbst von gehen mit schön das haben Treffen mehr früh in dem Film ...

Beim Gang durch die Ausstellungsreihen im Messefoyer setzten die Präsentationen der beiden frisch diplomierten Modedesignerinnen Astrid Hanenkamp und Trine Kryger Simonsen einen ganz realen Farbtupfer. Ihre im Herbst 1998 an der Hamburger Fachhochschule für Gestaltung eingereichten Abschlußarbeiten zeigten sie sowohl als digitalen Design-Code auf dem Bildschirm, wie auch als analoge Kollektion am Kleiderständer.

1997 noch auf den Hamburger Designkreuzzügen auf der Suche nach Outfits für Lara Croft, setzt sich Astrid Hanenkamp nun in ihrer Arbeit "Aurora Borealis" insbesondere mit der Integration von Licht in Kleidung auseinander. Experimentell und spielerisch fragt sie, "was wäre, wenn in die Gewebe kleine Mikrochips mit eingewebt wären, die untereinander kommunizieren, als neuronale Bildpixel agieren." Dabei interessiert Hanenkamp jedoch weniger die Konstruktion solcher "wearables", als die weitergehenden Fragen, die eine Entwicklung von Mode zum wesentlichen Informationsträger visueller Kommunikationsvorgänge auslöst: "Durch den Einsatz licht-empfindlicher Materialien, durch Farben oder Stoffe, die dem Kleidungsstück eine neue, bis dahin noch nicht wahrgenommene Aura geben, werden immanente Codes sichtbar".

Dem eher spröden Charme der "wearables" kann auch die Dänin Trine Kryger Simonsen nur wenig abgewinnen. In ihrer Diplomarbeit "Innogr@tion" ließ sie sich von Online-Zeichnungen auf einem "multi-user-whiteboard" inspirieren. Sie nutzte die in diesem "Zeichen-MUD" zufällig enstandenen Kritzeleien als Ideengeber für eigene "Scribbles", die eine Vorstufe ihrer Entwürfe darstellen. Zahlreiche Punkt-und-Strich-Kombinationen, aber auch die Farbauswahl finden sich in ihrer Damenkollektion wieder: "Das Experimentieren mit diesem Rohmaterial führt zu meinen Entwürfen. Klare grafische Schnitte werden unterbrochen von Drapierungen, Details und Schmucktechniken." Entstanden ist schließlich eine sehr schlichte und elegante Reihe raffinierter Kleidungsstücke, vor allem in Grau- und Violett-Tönen. Das Experimentieren mit einem "kollektiven Entwurfsprozess" hält Trine Kryger Simonsen durchaus übertragbar in ein professionelles Umfeld: "Es wäre sicher sehr spannend, wenn mehrere Modedesigner über eine Multi-User-Umgebung gemeinsam an einer Kollektion arbeiten würden. Das ist aber noch Zukunftsmusik, denn bislang existiert noch nicht einmal eine wirklich brauchbare Spezialsoftware für computergestütztes Modedesign."

Mit einer ganz anderen Art von visueller Repräsentation, Daten-Details und digitalen Schattenwürfen befaßt sich dagegen Carsten Becker. Der Absolvent der Kölner Medienhochschule arbeitet mit seinem ehrgeizigen Projekt "Kontrollorgan" an der Spiegelung des individuellen Datenschattens, der durch die immer größer werdende Zahl elektronisch beobachtbarer Vorgänge entsteht. Zunächst sammelte Becker im Selbstversuch die Zutaten seiner eigenen Datenspur in einer Datenbank - dazu sichtete er etwa seine Telefonrechnungen und Kontoauszüge, den E-Mail- Briefkasten und die History-Datei seines Web-Browsers. Jeder "Datensorte" ordnete Becker eigenständige Symbole und Darstellungsmodi dar, die auf dem Bildschirm zu einem sich permanent verändernden Datenportrait zusammengefügt werden: "Das Programm verknüpft die Datenströme einer Person, analysiert sie und generiert aus ihnen eine dreidimensionale Gestalt."

Resultat ist ein eigentümlicher Drehkörper aus Symbolen, Linien, Farbkristallen, Ziffern und Textteilen, der um die eigenen Achse rotiert. Eine frisierte Video- Fernbedienung erlaubt dem Betrachter per Infrarot-Interface die Steuerung der Installation entlang einer Zeitachse, dabei verändert sich je nach Inhalt des täglichen Datenschattens die Form und Konstellation des "Kontrollorgans". Becker sieht sein Projekt erst am Anfang: "Für künftige Installationen könnte die Datenspur auch in einer Art Performance erzeugt werden - etwa am Ort einer Ausstellung oder eines Festivals. Es ist auch denkbar, die Daten "live" in das Kontrollorgan einzuspeisen. Dann würde sich der Datenschatten in Echtzeit verändern."

Diese "jungen" Projekte stellen mit ihren unbekümmerten, dabei aber kritischen und reflexiven Herangehensweisen allesamt innovative Auseinandersetzungen zum Thema "Envisioning Knowledge" dar. Ganz nebenbei verweisen sie auf eine zentrale Scheidelinie der gesamten Veranstaltung: Versuchte sich ein Großteil der Beiträge anhand standardisierbarer Werkzeuge und Strategien fit für die "Knowledge Economy" zu machen, liegt vielleicht gerade in der alltäglichen Erfahrung und Auseinandersetzung mit ganz persönlichen Problemen und Perspektiven der Schlüssel zum Leben in der "Knowledge Society".