Nachhaltigkeit konkret: Wissen: Information und Kommunikation

Chancen der digitalen Revolution

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Information und Kommunikation sind von zentraler Bedeutung im Rahmen der Evolution des Lebens auf diesem Globus. Dies gilt für die Weitergabe der Erbinformation, das Wirken des Immunsystems oder die Wechselwirkung von Lebewesen miteinander. Der Charakter der jeweils genutzten Informationen und die Mechanismen des Austauschs wurden dabei zunehmend komplexer und abstrakter.

Die verschiedenen Formen der Informationsverarbeitung, die eine Rolle spielen, lassen sich in einer Vierebenenhierarchie unterscheiden. Am Anfang steht (Ebene 1) eine geometrische Form der Kodierung (Schlüssel-Schloß-Prinzip), die bis heute zentral ist für den gesamten Bereich der genetischen Informationsweitergabe, für das Wirken des Immunsystems sowie für die Eingangsseite aller Sinnesorgane. Wissen über die Welt ist in den richtigen dreidimensionalen Formen kodiert (Beispiel Virus versus Antikörper).

Mit dem Aufkommen von Nervensystemen (neuronale Netze) veränderte sich der Schwerpunkt der Informationsverarbeitung. Höhere Lebewesen verfügen über Sensoren und Aktoren, zwischen denen neuronale (Schalt-)Netzwerke als Träger der Informationsverarbeitung operieren. Diese übersetzen induzierte elektrische Impulse geeignet in Entscheidungen und Verhalten. Solche neuronalen Netze (Ebene 2) besitzen ein erhebliches Potential des Lernens vielfältiger (genügend stetiger) Zusammenhänge, insbesondere im senso-motorischen Bereich (komplexe Bewegungsabläufe), aber ebenso in der gefühlsmäßigen Bewertung von Informationen und der intuitiven Bewältigung von Problemlagen.

Zum Potential neuronaler Netze gehört auch die Fähigkeit zur Klassifikation von Objekten und zur Begriffsbildung, womit der Übergang zu abstrakteren Formen der Informations- und Wissensverarbeitung möglich wird (Ebene 3). Solche höheren Funktionen sind beim Menschen zum Beispiel die Nutzung von Regelkalkülen, Logik oder Relationalsystemen auf klassifizierten Objekten und Zuständen, primär unter Zuhilfenahme von Sprache (Symbolverarbeitung). Diese bildet heute den dominierenden Modus der Kommunikation von Menschen untereinander. Mit dem Übergang zu Wissen in Form von Theorien und Modellen, die heute beispielsweise in Form von Differentialgleichungssystemen und Simulationsverfahren teilweise schon als Ersatz für reale Abläufe stehen können, erreicht dieser Prozeß mit der 4. Ebene seinen bisherigen Abschluß. Die Erschließung der 4. Ebene ist eine Leistung des Superorganismus Menschheit und ganz jungen Datums.

Sprechen wir in diesem Kontext heute über Information und Kommunikation zwischen Menschen und innerhalb von menschlichen Organisationen, dann haben wir es mit komplexen Superorganismen zu tun, die das gesamte beschriebene Repertoire von Wissensverarbeitungsmechanismen gleichzeitig und koordiniert nutzen. Dabei reicht der Bereich des neuronal-intuitiv Verfügbaren immer weiter als das, was auf der Symbolebene bekannt und bewußt ist. Die Explizitmachung des neuronal-intuitiv bereits Erfaßten ist ein wesentlicher Mechanismus des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts.

Das Studium des menschlichen Gehirns als eines besonders leistungsfähigen informationsverarbeitenden Systems würde alleine bereits ein Kapitel dieses Buches füllen. Dies betrifft zum Beispiel prinzipielle Architekturfragen für ein massiv-parallel organisiertes neuronales Netz, das Problem der Wechselwirkung der verschiedenen diskutierten kognitiven Ebenen, aber auch Themen wie Kognition, Kreativität und Freiheit. Das Thema Bewußtsein scheint eng mit der Frage einer übergeordneten Kontrolle und der Übernahme von Verantwortung für den intelligenten Umgang mit knappen Ressourcen, wie der eigenen Bewegung in Raum und Zeit, verknüpft zu sein. Interessant ist die Frage, ob Bewußtsein notwendig ist, um über Wissen zu verfügen. Viele Philosophen würden dies so sehen. Die Frage ist weiterhin, ob Kreativität ein sich selbst als frei und bewußt empfindendes System voraussetzt oder ob beziehungsweise inwieweit, Entsprechendes auch einmal in intelligenten Maschinen möglich werden kann.

Alles, was wir in biologischen Systemen beobachten, kann im Prinzip auch auf der Ebene von Superorganismen, wie menschlichen Organisationen, auftreten. Es macht daher Sinn, von der eigenständigen Kognition der Menschheit zu reden und vom Bewußtsein der Menschheit über sich selbst und anzunehmen, daß Entsprechendes auf Dauer auch für intelligente Maschinen zutreffen wird. In dieser Sicht gibt es auch keinen Grund, den Begriff des Wissens alleine auf diejenigen Inhalte zu reduzieren, die Menschen in der Repräsentationsform sprachlichen oder symbolhaften Wissens bewußt verfügbar sind. So besitzen Tiere Wissen über angepaßtes, adäquates Verhalten, und Bohrkerne aus dem Packeis der Antarktis enthalten Wissen über das Klima vergangener Jahrhunderte im Sinne eines Naturarchivs.

Spannend ist in diesem Kontext, daß wir heute mit dem Übergang in eine digitalisierte Welt der Informationsverarbeitung und mit Multimedia und weltweiten Netzen erstmalig über technische Medien verfügen, die die Rolle von Nervensystemen für menschliche Organisationen im Sinne von Superorganismen zu übernehmen scheinen, und dabei die biologischen Vorbilder in vielen Leistungsparametern bereits zu übertreffen beginnen. Die technischen Möglichkeiten des Informationsaustauschs und der Kommunikation haben sich dabei mit Satellitentechnik, Glasfasertechnologie, neuen Darstellungsstandards und der jetzt anstehenden Koppelung von Hunderten von Millionen Sensorkomponenten und von Millionen Aktorkomponenten über eine internet-artige Technologie in einem unvorstellbaren Maße gesteigert, und das gilt aufgrund der rasanten Entwicklung der modernen Rechnersysteme und entsprechender Verarbeitungsprogramme ebenso für die Intelligenz dessen, was hier technisch verarbeitet werden kann.

Das alles zusammen bildet die Voraussetzungen für den Übergang in eine weltweite Wissensgesellschaft auf der Basis von weltweiten Netzen und einer digitalisierten Technologie des Informationsaustauschs.

Die digitale Revolution

Das zentrale Ereignis auf dem Weg in eine weltweite Wissenschaftsgesellschaft nach der Erfindung der Schrift, des Buchdrucks und des Computers war die digitale Revolution. Hier ist es zunächst vor etwa 50 Jahren aufgrund tiefer mathematischer Einsichten Wissenschaftlern gelungen, die (kalkülhafte) Verarbeitung von Information generell zurückzuführen auf die Manipulation von zwei physikalischen Zuständen (0 und 1). Diese intellektuelle Trennung der Aufgaben der Informationsverarbeitung in einen algorithmischen, prozeduralen Teil - ein Problem der Mathematik und Informatik - und einen technisch-hardwareorientierten Teil, der im wesentlichen den immer leistungsfähigeren Umgang mit zwei Zuständen betrifft, hat eine Innovationsgeschwindigkeit im Bereich der Hardwaretechnologie ermöglicht, wie es ihn in der Technik zuvor noch nie gegeben hat.

Wir erleben hier nun seit etwa vier Jahrzehnten praktisch alle zwei Jahre eine Verdoppelung des Preis-Leistungs-Verhältnisses. Aufgrund der jetzt bereits vorliegenden Einsichten wird dies noch mindestens zehnmal so weiter gehen, das heißt, wir werden in etwa 20 Jahren zum Preis und in der Größe eines heutigen PCs Maschinen verfügbar haben, die tausendmal leistungsstärker sind als die heutigen Rechner. Die Nutzungsarten dieser Technik verlaufen dabei umgekehrt zu der oben genannten kognitiven Hierarchie im Rahmen des Evolutionsprozesses von harten Aufgaben der numerischen Mathematik (Ebene 4) über die Ebene 3 der bürokratischen Bewältigung großer Mengen von Daten und Beziehungen und Aufgaben der Texterfassung und der Textverarbeitung nunmehr hin zu Aufgaben auf der Ebene 2, also Sensorsignalverarbeitung, Umgang mit unscharfem Wissen, Beherrschung von Aktorik usw.

Im Verlauf dieser technischen Revolution wurden die Übertragungstechnik und die Systemumgebungen immer leistungsfähiger. Seit etwa zehn Jahren erleben wir nun den Boom des Internets, des Netzwerks der Netzwerke, auf der Basis eines durchgehenden Protokolls. Das Internet bildet mittlerweile das am schnellsten wachsende technische System der Geschichte. Hundert Millionen Menschen haben heute bereits Zugang zu diesem Netz, und die dort etablierten Standards werden zunehmend auch für die Vernetzung innerhalb von Organisationen, im Sinne von Intranetzen, genutzt. Hier entsteht vor unseren Augen das Nervensystem der technisch entwickelten Welt beim Eintritt in das 3. Jahrtausend.

Bald schon werden Bibliotheken primär über digitale Zugangssysteme erschlossen werden, und auch immer mehr Inhalte werden (nur noch) auf diese Weise verfügbar sein. Das dort abgelegte Wissen wird über Hypermedia-Technologie und Komponenten des Wissensmanagements sehr viel wirksamer nutzbar werden, als das über klassische Ablage- und Kataloglösungen jemals möglich war. Geo-Informationssysteme, CAD-Systeme und Systeme im Bereich der virtuellen Realität werden Informationen immer vielfältiger darzustellen erlauben. Simulationen als Alternative zur Realität, man denke etwa an eine multimediabasierte Reise durch fremde Welten, werden zu einem immer wichtigeren Bereich menschlicher Erfahrung werden.

Mit der Verfügbarkeit so großer Mengen von Information geht andererseits ein zunehmendes Problem der Orientierung einher. Es gilt, Wissen in Daten- und Wissensbanken zu organisieren, Vergleichbarkeit und „Übersetzbarkeit“ von Begriffssystemen herzustellen, Maßnahmen der Qualitätssicherung von Informationen vorzusehen und über Suchmaschinen, Filter und Broker Möglichkeiten zu schaffen, das relevante Wissen immer besser zu identifizieren.

Mit dieser digitalen Revolution nähert sich die Menschheit der Verfügbarkeit einer Technik, die im Gegensatz zu der früheren mündlichen oder textbasierten Wissensverarbeitung und -weitergabe zunehmend Wissen selber in Handlung überführt, so daß an vielen Stellen der Mensch in dieser Kette überhaupt nicht mehr benötigt wird. Die Probleme der Beherrschung dieses Wissens verlagern sich damit auf ein Mo-nitoring dieses technischen Gesamtsystems und auf Fragen der Organisation und des Management dieses Wissens sowie die Wissensintegration, wozu heute zunehmend sogenannte Metawissenssysteme entwickelt werden, also Systeme, die Informatio-nen darüber beinhalten, wo welche Informationen in welcher Qualität über welchen Zugriffspfad zu finden sind, wobei auch hier die Automatisierung rasch voranschreitet.

In dem Prozeß des Wettlaufs zwischen den Beiträgen der einzelnen Menschen und dem, was dieses zunehmend technische abgestützte Wissen ermöglicht, erleben wir, daß immer besser ausgebildete Menschen in Wechselwirkung mit immer leistungsfähigeren Maschinen einen immer höheren Mehrwert erzeugen; der Beitrag des Menschen erfolgt dabei zunehmend in Wechselwirkung mit derartigen Maschinen. Mit der zunehmenden Leistungsfähigkeit der Systeme stellt sich allerdings die Frage, wie lange ein großer Teil der Bevölkerung hier noch wesentliche Wertschöpfungsbeiträge leisten können wird. Sicher ist als Folge dieser Entwicklung das Thema Ausbildung weltweit in seiner Bedeutung immer stärker gewachsen. Zugleich finden ausgebildete Menschen über diese Infrastruktur zunehmend auch weltweit immer besser Betätigungsmöglichkeiten.

Deutlich ist, daß in diesem Umfeld das weitere Heben der Ausbildungsniveaus ansteht und daß auch hier wiederum die Technologie die entscheidenden neuen Möglichkeiten eröffnet. Bisher war Ausbildung sehr weitgehend an eine intensive, damit kostenträchtige Wechselwirkung von lehrenden und lernenden Personen an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten gebunden. Dies wird zwar in Teilen schon heute substantiell durch Bücher, Schallplatten, Sprachlabore usw. technisch unterstützt, aber erst jetzt besteht erstmalig die Chance einer sehr weitgehenden Schülerzentrierung. Erkennbar wird erstmalig die Perspektive einer netzwerkgestützten, weltweiten Ausbildungslandschaft mit entsprechenden internationalen Bewertungs- und Creditsystemen im Bildungsbereich. Ausbildungseinheiten hoher Qualität werden rund um die Uhr verfügbar, umweltfreundlich und preiswert nutzbar sein.

Der Beitrag von Wissen und Information und Kommunikation zu einer nachhaltigen Entwicklung

Das Thema einer nachhaltigen Entwicklung ist in den letzten Jahren, vor allem in der Folge der Weltkonferenz über Umwelt und Entwicklung von Rio, ein dominierendes Thema der weltweiten politischen Debatte geworden, ebenso wie der Weg in die weltweite Informations- und Wissensgesellschaft. Die Bedeutung des Themas hängt auch damit zusammen, daß immer deutlicher wird, daß es für die Weltgesellschaft mit heute sechs Milliarden, bald schon zehn Milliarden Menschen allein schon angesichts der großen Umweltbelastungen, die der reiche Norden heute schon mit seinem Lebensmodell erzeugt, keineswegs so ist, daß wir uns in Richtung auf langfristig tragfähige Zustände bewegen. Die immer raschere Innovation spielt dabei eine doppelgesichtige Rolle, nicht zuletzt angesichts der Tatsache, daß wir mittlerweile als Einzelpersonen wie als Staaten große Probleme haben, die durch immer neue Innovationen bewirkten Veränderungen, inklusive der damit auch verbundenen Enteignung von Wissen und Investitionen, noch zu verkraften.

Ganz generell ist der technische Fortschritt dennoch einer der wichtigsten Ansatzpunkte für eine Hoffnung auf bessere Lösungen, wie immer schon in den letzten 10.000 Jahren. Die Wichtigkeit derartiger Fortschritte hängt insbesondere mit der historischen Erfahrung zusammen, daß es ausgesprochen schwierig ist, Menschen dazu zu motivieren, jemals freiwillig hinter den Status quo zurückzugehen; ganz im Gegenteil ist eher Zuwachs angesagt. Wachstum ist ein wichtiger Kitt inhomogener Gesellschaft, da die Einbindung derjenigen, die nicht auf der "Sonnenseite" stehen, oft an dem Versprechen und der Aussicht hängt, daß die persönliche Situation in Zukunft besser sein wird. Politisch gilt es also, zur Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung Lösungen für diese Welt zu entwickeln, in deren Rahmen es tendenziell einmal allen Menschen besser geht als heute, wobei zumindest vorläufig die Zahl der Menschen noch laufend steigt, und das in einer Situation, in der die Umweltbelastungen vielfach ein tolerierbares Maß bereits überschritten haben.

In dieser schwierigen Situation besteht die vielleicht größte Hoffnung darin, mit neuen Lösungen eine weitgehende Dematerialisierung zu erreichen, also aus den vorhandenen Ressourcen mehr zu machen, und das bei geringerer Umweltbelastung, so daß also im Idealfall mehr Menschen auf höherem Niveau leben können, obwohl die Umwelt weniger belastet wird als bisher.

Es ist ein ganz wesentlicher Beitrag von Wissenschaft und Technik, daß sie diese Dematerialisierung durch immer neue Einsichten permanent ermöglichen, und zwar in Form immer neuer Verfahren und Methoden. Die Beispiele hierfür sind Legion, sei dies der Weg von einem klassischen Großrechner zu einem heutigen, leistungsstärkeren PC oder von der ersten Kamera hin zu einer heutigen Pocket-Kamera.

Das Potential des technischen Fortschritts ist enorm, und keine Technologie hat je so große Chancen eröffnet, wie die Informations- und Kommunikationstechnik. Die Leitidee eines „Reisens von Bits anstelle des Reisens von Atomen“ steht ganz im Vordergrund einer möglichen neuen Stufe der Dematerialisierung, vor allem unserer Mobilitätsbedürfnisse. Im Rahmen von Telearbeitssystemen steht weltweit die Chance der Kooperation in durchgängigen Wertschöpfungsketten an, obwohl zugleich der Umfang an physischer Mobilität dramatisch reduziert werden kann. Tele-Medizin eröffnet die Chance einer weltweiten erstklassigen Versorgung, ohne überall aufwendige medizinische Komplexe realisieren zu müssen, und oben war bereits die Chance weltweiter Ausbildungssysteme für einmal potentiell zehn Milliarden Menschen angesprochen worden, ohne die aufwendigen Strukturen reproduzieren zu müssen, die wir hierzu in den westlichen Ländern aufgebaut haben - digitale Bibliotheken als weltweit über Netze zugängliche Informationsquellen sind ein weiteres Beispiel.

Tatsächlich geht der Beitrag der Wissenschaft aber noch sehr viel weiter. Es waren Wissenschaftler und wissenschaftliche Erkenntnisse, die uns die Grenzen unserer bisherigen Wirtschaftsweise aufgezeigt haben. Wenn wir heute über eine Klimakatastrophe reden, dann hat das wesentlich mit den Möglichkeiten eines Umweltmonitorings mittels Satelliten und der Verfügbarkeit entsprechender Modelle und zugehöriger Auswertungssysteme - etwa über die Klimasituation - zu tun. Wenn wir heute die Probleme der Regenwälder, der Böden, des Oberflächenwassers, aber beispielsweise auch die Gesamtthematik der Biodiversität und des Erhalts der genetischen Vielfalt in ihren Details viel weitgehender als früher verstehen, dann ist das ebenso eine Folge des wissenschaftlichen Fortschritts, wie Einsichten über generatives Verhalten, die Bedeutung von Ausbildung und einer Stärkung der Rolle der Frau zur Veränderung von reproduktivem Verhalten usw. Nicht anders steht es mit dem Fortschritt in der Medizin und dem Wissen darüber, daß eine Verminderung der Säuglingssterblichkeit zurückgehende und nicht zunehmende Geburtenraten zur Folge hat.

Die Möglichkeiten der Wissenschaft und einer weltweiten Kommunikation sind auch die Voraussetzung dafür, daß sich endlich so etwas herausbildet wie ein weltweites Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und die Forderung nach wirkungsvollen internationalen Institutionen. Mit der sich zunehmend herausbildenden Vorstellung einer Weltinnenpolitik und eines Weltbürgertums entstehen dabei im Sinne von Global Governance langsam auch die mentalen Voraussetzungen dafür, daß wir zukünftig endlich politische Schritte und Maßnahmen ergreifen können und werden, die tatsächlich in Richtung auf eine nachhaltige Entwicklung führen. Die Voraussetzung für all dies war und ist der Aufbau eines entsprechenden Wissens und seine Verfügbarmachung über Informations- und Kommunikationstechniken bis zu der heutigen Situation, in der weltweite Nachrichtensysteme in Sekundenschnelle überall über wesentliche Ereignisse irgendwo auf diesem Globus informieren.

Der Rebound-Effekt

Unsere große gesellschaftliche Hoffnung zur Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen ist eine weitere signifikante Dematerialisierung durch technischen und gesellschaftlichen Fortschritt und als Voraussetzung dafür und damit zusammenhängend die dichte weltweite Kommunikation über wesentliche Ereignisse und die Herausarbeitung von Erklärungsmuster für beobachtete Trends. Es ist nun wichtig zu erkennen, daß dieser so positive und hoffnungsvolle Ansatz dennoch keineswegs aus sich alleine heraus zur Lösung der vor uns liegenden Probleme führt, daß insbesondere unter heutigen Rahmenbedingungen eine bloße Hoffnung auf den weiteren technischen Fortschritt nicht die Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen bringen wird.

Tatsächlich ist es so, daß der technische Fortschritt mit immer höherem Tempo seit 10.000 und mehr Jahren voranschreitet und daß Dematerialisierung, wie die obigen Beispiele zeigen, ein damit immer einhergehender Begleiteffekt war. Als Folge von allem Fortschritt hat sich aber die Umweltsituation und auch die soziale Situation der Menschen keineswegs permanent und überall verbessert. Ganz im Gegenteil ist die Gesamtsituation in der Summe eher schwieriger geworden. Überspitzt gesagt "siegen wir uns mit all dem Fortschritt noch zu Tode".

Es ist eine wesentliche Erkenntnis der letzten Jahre, daß dies die Folge eines gegenläufigen Effekts zur Dematerialisierung ist, der die Tendenz hat, alle Einsparungen pro Leistungseinheit durch Ausdehnungsprozesse überzukompensieren, und dieser Effekt heißt Rebound- oder Bumerang-Effekt. Der Rebound-Effekt besagt im wesentlichen, daß im Rahmen freier Märkte die generelle Konsumbereitschaft und -orientierung von Menschen dazu führt, daß jedes technische Potential der Dematerialisierung, also die Fähigkeit, mit weniger Ressourcen und Umweltbelastung mehr Lebensqualität zu erzeugen, de facto in eine Ausdehnung von Aktivitäten übersetzt wird. Die Ausdehnung verläuft dabei in der Regel in zwei Richtungen, zum einen erhöht sich die Zahl der Menschen, zum anderen erhöht sich das mittlere Aktivitätspotential pro Person.

Die Wirkung dieser Effekte ist in den letzten 10.000 Jahren sehr gut zu studieren. So hat sich seit dem Beginn des Neolithikums die Zahl der Menschen um mittlerweile etwa den Faktor 2000 vergrößert, eine weitere Verdoppelung auf den Faktor 4000 steht an. Hier ist sehr gut nachzuvollziehen, wie jeder technische Fortschritt, sei es in der Medizin, im Bereich der Landwirtschaft („grüne Revolution“) oder in der Energieversorgung sofort übersetzt wird in immer noch mehr Menschen. Genauso relevant ist aber auch die Ausdehnung der Aktivitäten pro Kopf, zum Beispiel in Form der mittleren Energienutzung pro Person. Diese ist über die letzten 10.000 Jahre um etwa den Faktor 200 gestiegen. Dabei ist interessant, daß die Menschen, die die effizienteste Energieerzeugungstechnologie einsetzen, also wir, dennoch substantiell mehr Energie verbrauchen als die Menschen in den armen Ländern trotz ihrer ausgesprochen uneffektiven Technik. Auch ist bemerkenswert, daß wir in der Akkumulation der genannten Effekte in nur 10.000 Jahren die Belastung der Umwelt durch den Menschen um einen Faktor von bald einer Million gesteigert haben.

Es ist übrigens auch heute wieder so, daß die großen Einsparpotentiale z.B. der Telekommunikation keineswegs dazu führen, daß etwa die physische Mobilität reduziert würde, ganz im Gegenteil: Auch hier beobachten wir wieder Rebound-Effekte. Diese bestehen im Kern darin, daß die Menschen diese Technik nutzen (müssen), um pro Person noch mehr Prozesse bearbeiten zu können als zuvor und damit insgesamt auch mehr persönliche Kontakte notwendig werden. Dies ist alles unvermeidbar, solange die (Konkurrenz-)Märkte und deren Randbedingungen so organisiert sind, wie sie heute organisiert sind, daß also in Konkurrenz zueinander jeder jede Lücke, gegebenenfalls zu Lasten der Natur oder der sozialen Gegebenheiten nutzen muß, um zu günstigeren Konditionen Dienstleistungen und Produkte für andere zu erstellen.

Es ist wesentlich die heutige Konstruktion des (Welt-)Marktes (GATT/WTO), die den Rebound-Effekt bewirkt. Der Markt ist heute vor allem auch eine geniale Veranstaltung, um Menschen dazu zu bewegen, miteinander und füreinander - und ohne ausreichende Beachtung der globalen Umweltbelastungen und sozialen Probleme - immer mehr Produkte aus den Ressourcen der Natur heraus zu erzeugen, und jeder Schritt der Dematerialisierung wird damit zugleich zur Voraussetzung für einen weiteren Schritt zur Ausdehnung dieser Güter- und Serviceproduktion.

Insofern bringt uns die wissenschaftliche und systematische Analyse heute eine wichtige Einsicht. Wir stehen vor der Erkenntnis, daß das Potential von Wissenschaft, von Information und Kommunikation zur Lösung der vor uns liegenden Probleme groß ist. Hier liegt unsere entscheidende Hoffnung, in umweltfreundlicher Weise freie Volumina generieren zu können, um potentiell auch einmal zehn Milliarden Menschen auf dieser Welt auf einem Niveau versorgen zu können, wie es heute nur die reichen Staaten kennen.

Wir müssen den Weg so gehen, weil wir unter relativ knappen Zeitbedingungen zu wesentlichen Veränderungen kommen müssen. Auf rein technischem Wege sind die vor uns liegenden Probleme dennoch nicht mehr zu bewältigen. Es ist vielmehr sicherzustellen, daß der nächste mögliche große Dematerialisierungsschub, der im nächsten Jahrhundert durchaus einen Faktor 10 ausmachen könnte, in geeigneter Weise in ein weltweites - qualitatives - Wachstum umgelenkt wird, daß dann bei Beachtung einschneidender, von der Menschheit in einer bewußten Willensentscheidung selbst gesetzter Grenzen an die Umweltbelastung in Bereichen wie CO2-Emissionen, Klima, Wälder, Böden, Wasser, Biodiversität usw. dennoch für zehn Milliarden Menschen vergleichbare Lebensbedingungen und -chancen wie für uns heute ermöglicht. Es geht also darum, den Rebound-Effekt zu vermeiden und das aus der weiteren Dematerialisierung resultierende Potential zu nutzen, um durch Angleichung der sozialen Verhältnisse und durch Beachtung von Umweltstandards zu einer hohen weltweiten politischen Stabilität und zu einer nachhaltigen Entwicklung zu kommen.

Die Notwendigkeit geeigneter politischer Rahmensysteme

Die beschriebene Ausgangssituation bildet eine gewaltige Herausforderung an die internationale Politik. Hier findet heute vor dem Hintergrund eines weitgehend nicht ökologisch und sozial organisierten Weltmarktes ein Ringen um geeignete weltweite Rahmenbedingungen statt, wobei die USA, Asien und Europa ganz unterschiedliche Ansatzpunkte einbringen. Der G7-Gipfel in Denver und der Rio+5-Gipfel in New York haben hierfür interessante Anschauungsbeispiele geliefert.

Die Bewältigung der Zukunft wird dabei im wesentlichen in einer geeigneten Austarierung des Spannungsverhältnisses zwischen Wirtschaft, sozialen Anforderungen und der Umwelt bestehen müssen. Aufgrund der Globalisierung des Wirtschaftens wird dieses Austarieren auf Dauer nicht mehr national oder regional, sondern nur noch global zu bewältigen sein. Entscheidende Fragen betreffen dabei die weltweite Durchsetzung sozialer und ökologischer Mindeststandards - die ihrerseits entwicklungsstandabhängig sein können, die eine Ausrichtung des Wirtschaftens hin zu einer nachhaltigen Entwicklung, aber auch zu einem sozialen Miteinander - und damit zu einer weitergehenden Verwirklichung der Menschenrechte - bringen werden.

Natürlich erfolgen solche Standards partiell zu Lasten des insgesamt erreichbaren Produktions- umfangs - zumindest in einer kurzfristigen Perspektive -, verbessern dafür aber die Lebensqualität, den Grad an sozialer Gerechtigkeit, die ökologische Situation, die Durchsetzung der Menschenrechte und insgesamt die langfristige Stabilität. Offensichtlich sind Lösungen der angedeuteten Art nur denkbar, wenn sie auch weltweit und fair finanziert werden, beispielsweise über Mechanismen der Zusammenarbeit wie Umweltzertifikate, weltweite Ausbildungs- und Sozialsysteme und Maßnahmen des Joint Implementation zwischen Nord und Süd. Alle diese Aktivitäten sollten auch zentral auf die Umkehrung der unheilvollen Trends in der Bevölkerungsentwicklung gerichtet sein, und sie sollten insbesondere Schritte beinhalten, die allen Menschen auf dieser Erde die Wahrnehmung ihres Rechts auf Familienplanung eröffnen.

Eine globale, soziale und ökologische Marktwirtschaft bietet aus heutiger Sicht für diese Zielsetzung den hoffnungsvollsten Ansatzpunkt. Um dieses Ziel allerdings zu erreichen, gilt es, die Wechselwirkung und das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Leitideen „Informationsgesellschaft“ und „nachhaltige Entwicklung“ genauer zu verstehen und geeignet nutzbar zu machen. Es ist dies ein diffiziles Thema, das erneut die Vermeidung von Rebound-Effekten durch geeignete Rahmenbedingungen an den Weltmarkt erfordert. Hierzu gilt es, über die neuen Medien Wissen über weltweite Zusammenhänge zu bündeln und zu verbreiten, Kommunikation über Global Governance vorzunehmen, ein weltweites Umweltmonitoring zu installieren, Veränderung der Präferenzen weltweit und eine Lenkung von Investitionsentscheidungen in die richtige Richtung durch bessere, weltweite Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zu erreichen. Freier Informationszugang als Schlüssel zur Organisation eines derartigen Superorganismus "Menschheit" erscheint dafür eine wichtige Voraussetzung zu sein.

Die Umsetzung der beschriebenen Zielsetzung erfordert eine Wechselwirkung zwischen Nord und Süd, in deren Rahmen erhebliche Mittel des Nordens in entsprechende Infrastrukturprojekte des Südens fließen müssen, etwa im Rah-men von Maßnahmen des Joint Implementation. Von der Finanzierungssei-te her könnte man hier beispielsweise an globale Ökosteuern oder Umweltzertifikate (CO2-Emissionszertifikate) denken, die zum besseren Schutz der Umwelt führen. Zugleich können aus den auf diese Weise gewon-nenen Mitteln der weltweite Aufbau von Sozialsystemen, Anreizsyste-men zur Senkung der Kinderzahlen und Maßnahmen des Joint Implementation finanziert werden.

Von ganz besonderer Bedeutung scheint hier der oben bereits angesprochene Aufbau globaler Ausbildungssysteme auf Basis der Multimediatechnologie und unter Nutzung weltweiter Netzwerke zu sein. Auf diese Weise ließe sich sehr viel Wissen weltweit umweltfreundlich und kostengünstig verfügbar machen, auch als Export oder Beitrag des Nordens in den Aufbau einer nachhaltigen Weltwirtschaft. Zugleich würde damit das Human Capital irgendwann vielleicht auch in einer Welt mit zehn Milliarden Menschen auf ein adäquates Niveau gehoben werden können.

Die Humanressourcen sind aufgrund einer Studie der Weltbank der wichtigste Einzelfaktor für den Reichtum der Nationen (etwa 60 Prozent). Das Heben der Humanressourcen, insbesondere auch erheblich höhere Investitionen in die Ausbildung der Frauen und auch in eine verbesserte ökonomische und rechtliche Position der Frauen, wären zugleich ein entscheidender Beitrag in einen Prozeß, der schließlich einmal zu einem Schrumpfen der Weltbevölkerung führen könnte. Es geht bei all dem nicht um großzügige Hilfe für die ärmeren Staaten, sondern um „Insightful Selfishness“, also das gemeinsame Arbeiten an einer zukunftsfähigen Welt, gerade auch zur Sicherung unseres eigenen Wohlstands.

Unter den angedeuteten neuen Rahmenbedingungen würde sich das Schwergewicht des Wirtschaftens in die aus heutiger Sicht erforderliche Richtung verlagern, in der Tendenz beispielsweise weg von physischer Bewegung und hoher Energie- und Ressourcennutzung sowie Umweltbelastung pro Wertschöpfungseinheit hin zu dematerialisierten Lösungen, also plakativ gesprochen, stärker von einem Verkehr auf Straßen hin zu einem Verkehr auf Kommunikationsnetzen. Es würden auch nicht mehr primär die Probleme der heute reichen Staaten im Vordergrund stehen, sondern die Lösung der weltweiten Herausforderungen.

Es ist offensichtlich, daß Multimedia, Datenautobahnen und neue Medien Schlüsseltechnologien auf diesem Weg in die Zukunft sind; sie werden zur Basisinfrastruktur des zukünftigen Lebens werden. Es kann dabei durchaus so sein, daß die Frage der Zukunftsfähigkeit unserer Zivilisation in der Frage entschieden wird, ob es gelingt, das Potential der Informationstechnologie zur Erreichung des Ziels einer nachhaltigen Entwicklung zu erschließen oder ob Rebound-Effekte auch hier - wie in der Geschichte schon so oft - die sich bietenden Chancen zunichte machen werden. Dies zu begreifen und dann das Richtige zu tun, ist insofern heute ein entscheidendes Element einer richtig verstandenen ethischen Verantwortung, sowohl auf der Ebene des einzelnen, als auch unserer gesellschaftlichen Systeme.

Der Aufsatz von Franz Josef Rademacher, Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW) in Ulm, wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem ersten Band der im Campus Verlag erscheinenden Buchreihe: "EXPO2000 - Visionen für das 21. Jahrhundert" entnommen:

Birgit Breuel (Hg.): Agenda 21. Vision: Nachhaltige Entwicklung. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1999. 252 Seiten. 36 Mark.

Telepolis wird jeden der Bände dieser Reihe mit einem Auszug vorstellen.