Kommunikation - Medien - Macht

Medienwissenschaft: Soziale Systeme oder Nachrichtentechnik?

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Neue Kommunikations- und Informationstechnologien durchziehen, erobern und verteilen den Raum. Betroffen von dieser neuerlichen "Raumrevolution" ist nicht bloß die Wirtschaft. Auch die anderen, bislang regional operierenden Sozialsysteme wachsen und/oder schrumpfen in den globalen Datennetzen zur virtuellen Weltgesellschaft zusammen. Die aufgeregten Debatten der letzten Jahre um "Standortsicherung", "Regionalisierung", "Deregulierung", "Steuerflucht", "Zukunftsfähigkeit" usw. beweisen dies. Politik, Recht, Kunst, Erziehung und Lobbyisten von Verbänden, Gruppen und Organisationen hecheln dem, was Vernetzung, Digitalisierung und Echtzeit-Kommunikation in der Gesellschaft "anrichten" - Stichwort: "Harmonisierung" der Währungs-, Steuer-, Rechts- und Außenpolitik - hinterher. Undiskutiert und unbegriffen blieb dabei bislang, welche Effekte dies für die Evolution und Selbstschreibung der modernen, funktional (aus)differenzierten Gesellschaft hat, welche neue Machtformen mit der gestiegenen Abhängigkeit der Gesellschaft von Medientechnik (Glasfaser, Computerisierung, Virtueller Realität ...) für sie erwachsen und wie sie in die Operationen der sozialen Funktionssysteme eingreifen.

Traditionelle Soziologien und Politikwissenschaften, die mit Anthropologien und Ethiken oder mit alteuropäischen Metaphern wie Aneignung, Selbstbewußtsein, Entfremdung, Autonomie usw. operieren, helfen da nicht weiter - sowohl was das Ineinandergreifen von Kommunikation, Medien und Macht, den Bausteinen der Weltgesellschaft angeht, als auch das Be- und Ausleuchten der Beziehung von Medien und Gesellschaft. Berufener in medias res zu sprechen sind da eher schon die soziologische Medientheorie Niklas Luhmanns und die Hardware-orientierte Medienwissenschaft Friedrich Kittlers, insofern beide Forschungsrichtungen die klassischen Grenzen von Geist und Materie, von Technik und Kultur mißachten. Noch operieren ihre Protagonisten aber mit "strukturdeterminierten Blindheiten". Während Luhmann bloß Kommunikationen und Semantiken beobachtet, richtet Kittler sein Hauptaugenmerk allein auf Medientechnologien.

Ein Ende Mai im Suhrkamp Verlag erscheinender Band (stw 1408), herausgegegeben von Niels Werber und Rudolf Maresch, unternimmt den ersten größeren Versuch, mit Hilfe dieser beiden Zugangsweisen die möglichen Konsequenzen der neuen Medien für die Kommunikation in der Gesellschaft sowie die Typen der sie beherrschenden Macht zu erkunden. Sozusagen als kleinen Appetitanreger publiziert TELEPOLIS als Vorabdruck einen etwas erweiterten und veränderten Ausschnitt aus der Einleitung zu diesem Band.

"Medien bestimmen unsere Lage." - Friedrich Kittler

Auf diesen lapidaren aber prägnanten Satz des Berliner Literaturwissenschaftlers Friedrich Kittlers von 1986 kann man die medienwissenschaftliche Sicht auf diese gesellschaftlichen Phänomene und Vorgänge zurückführen. Nach ihrer Lesart sind Globalisierung, Regionalisierung und Standortfragen usw. Nebeneffekte einer in der Geschichte bislang beispiellosen Dynamik der Technik und des Medialen, die durch Vernetzung, Digitaltechnik und Tele-Technologien ausgelöst wird. Was auf den ersten Blick für die geisteswissenschaftliche Zunft zunächst nur als eine erneute Verschiebung der Beobachterebene ausgesehen hat, entkleidet sich bei genauerem Hinsehen als Startschuß für ein neues Forschungs- und Wissensparadigma, das die "Materialitäten der Kommunikation" ins Sichtfeld nimmt und im Anschluß an Harold Adams Innis und Marshall McLuhan "Medienkopplungen" und "Nachrichtentechniken" zum Leitthema einer künftigen Epistemologie erklärt.

Seither wächst auch in den Kulturwissenschaften die Aufmerksamkeit, wie Medien an der Entschlüsselung der Botschaft mitwirken. Ihr Blick und ihr Interesse richten sich verstärkt auf das "historisch-technische Apriori" des Mediums, das heißt, welchen Anteil es am Wandel der Kulturen in der Zeit, ihren Entnahmen, Speicherungen und Übertragungen relevanter Daten nimmt. Bislang erfolgt diese historische Aufarbeitung der Geschichte analoger und digitaler Medien aber ausschließlich entlang ihrer "Technik und Kriegsgeschichte". Eine "Soziologie des Mediums" steht ebenso noch aus wie eine "Soziologie der Macht", die durch die "Imperative der Maschinenschrift" und ihre "befehlsförmige Information" geschrieben werden.

"Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien." - Niklas Luhmann

Mit diesem Satz übertrumpfte Niklas Luhmann das Programm des Literatur- und Medienwissenschaftlers Kittlers exakt zehn Jahre später noch einmal. Zwar fokussiert der Soziologe seine Beobachtungshaltung auch auf die Evolution der Medien. Getreu seines konstruktivistischen Weltbildes kommt er jedoch zu ganz anderen Schlußfolgerungen als der Medienwissenschaftler. Ihm zufolge begrenzen und strukturieren Medientechniken nur die Kommunikation, sie stellen die technischen Mittel für exzessives Kommunizieren bereit, vermachten sie aber nicht. Im Gegenteil: Mit der Verbreiterung, Verflechtung und Vervielfältigung des (massen)medialen Spektrums (Kabel- und Satellitenfernsehen, Spartenkanäle, Pay-TV, WWW, mailing-lists, chatrooms ...) erweitern sich die Möglichkeiten und Spielarten der sozialen Kommunikation ins Unermeßliche. Die Freiheitsgrade für die oder den User nehmen zu - trotz oder gerade wegen der gestiegenen Abhängigkeit der Kommunikation von Technik.

Mit der Exklusion der Technik aus den Operationen der Kommunikation entzieht der Soziologie dem Begehren des Medienwissenschaftlers nach einer neuen Onto-Logik den Boden. Für den konstruktivistischen Beobachter bleibt Welt und Wirklichkeit, und damit auch die von "unsichtbaren Maschinen", prinzipiell "unzugänglich" und "unerreichbar". Jede Beschreibung, jedes Urteil über sie fällt der Auto-Logik systeminterner Operationen anheim. An die Stelle von Aussagen über die Realität "da draußen" oder die Beschreibung der inneren Systemzustände von Maschinen rückt das "Gerücht". Auf den Eingangssatz Friedrich Kittlers angewendet hieße dies: man habe gehört oder gelesen, es wurde erzählt, gefunkt oder geschrieben, Medien bestimmten unsere Lage. Aussagen und Sätze, auch solche, die die "Macht der Medien" thematisieren oder problematisieren, werden zu Medialisierungseffekten erklärt.

Fortan wird, seitdem Medien die Kommunikation formen und forcieren, seinen Augen nicht mehr zu trauen zum ungeschriebenen Gesetz allen menschlichen Wahrnehmens, Erkennens und Beschreibens. Damit wird der universelle Manipulations- und Betrugsverdacht, den die Frankfurter Kritiker einst gegenüber Massenmedien und Massenkultur gehegt und erhoben haben, hinfällig. Wer etwas über die Gesellschaft in Erfahrung bringen will, muß jetzt beobachten, wie (Massen)Medien Welt beobachten, Wirklichkeit darstellen und sie dadurch zugleich erzeugen.

Wie aber diese Beobachter zu ihren Beobachtungen kommen, darüber schweigt sich der Soziologe aus. Derartige Fragen, die auf den materiellen, technischen und historischen Ermöglichungsgrund sozialer Kommunikationen, den Input der Kommunikation und das Netzwerk aus Techniken und sozialen Institutionen zielen, kontert Luhmann mit "Auto-Logik", Phänomenologie und (historischen) Semantiken. Alles geschieht, wie es geschieht, wenn es geschieht, nach Maßgabe selbstbezüglichen Operierens sozialer Systeme.

Für Massenmedien mag diese Beschreibung des Soziologen bis vor kurzem auch durchaus richtig gewesen sein. Durch die "Dazwischenkunft von Technik" trennen sie Sender und Empfänger. Zwischen beide schiebt sich ein Spiegel, der auf beiden wie für beide Seiten wie doppelt verspiegeltes Glas wirkt und sowohl für "Informationsgeber" als auch "Informationsnehmer" intransparent bleibt. Dadurch ist eine "zentrale Koordinierung" von "Sendebereitschaft" und "Einschaltinteresse" von vornherein ausgeschlossen, ein Durchgriff eines "geheimen Drahtzieher(s) im Hintergrund" auf das Andere (die fünf bis sechs Milliarden Bewußtseine dieser Welt) nicht mehr möglich. Für den Weiterlauf der Kommunikation genügt es, wenn sich die Sender (Print, Radio, TV...) anhand täglich ermittelter Einschaltquoten oder Auflagenstärken miteinander vergleichen und, je nach Erfolg oder Mißerfolg einer Sendung, das Skript, das Format oder das Produkt verändern, das heißt: es entweder dem Markt anpassen, es aus dem Programm nehmen oder seine Ausstrahlung und Verbreitung mit neuem Outfit oder neuen Werbeetats forcieren.

Diese Undurchdringlichkeit des Spiegels ist der Grund, warum jeder Versuch, das Publikum durch die einseitige Selektion von Nachrichten zu manipulieren oder es mittels Massenpolitiken (Meinungsumfrage, Marktforschung, Zielgruppenanalysen ...) zu steuern, es zu dirigieren oder gar zu kontrollieren in die strukturdeterminierte Falle der Kontingenz laufen muß. Das Bewußtsein des Publikums, und damit seine Freiheitstätigkeit, bleibt für jeden Sender eine black box. Der Benutzer oder User entscheidet, ob eine Nachricht ihren Bestimmungsort erreicht, nicht der Sender. Und das ist auch der Grund, warum nach konstruktivistischer Auffassung eine Vermittlung oder Übertragung von Nachrichten "von System zu System" scheitern muß.

Die Soziologie adaptiert und favorisiert stattdessen die Unterscheidung Medium/Form. Sie ersetzt den "systemtheoretisch unplausiblen Begriff der Übertragung"1 und umgeht damit auf elegante Weise das Problem der Fremdgebung, die Frage nach Input, Kanal und Über-Tragung (Medialität). Medien (Laute, Buchstaben, Zahlen, Algorithmen ...) sind nach Luhmann vielmehr bloß "Reservoirs von Möglichkeiten", denen jede Art von "Eigendetermination" fehlt. Je weniger Widerstand sie demnach den sich ihnen einprägenden Formen (Sprache, Schrift, Bilder, Töne ...) entgegensetzen, desto weniger Rauschen ist die Folge.

Was für Massenmedien gilt, muß aber nicht zugleich auch für die Kommunikation mit Maschinen oder die Kopplung von Biologie und Elektronik gelten. "Tele-Präsenz" und "Tele-Existenz", "Tele-Arbeit" und "Tele-Sex", "Tele-Aktion" und "Tele-Coup", "Virtuelle Realität" und "Interaktivität" haben mit Buchdruck und Druckpresse, den Informationsgebern der Gutenberg-Galaxis und des Nationalstaats, nur wenig gemein. Sie wirken auf die Realität unmittelbar ein und veranlassen direkt, etwas auszuführen. Geht es bei den Massenmedien um die Generalisierung von Beobachtung durch Themen und die Erzeugung kollektiver Aufmerksamkeit, so hier um den Gewinn von Rechenzeit und die Synchronisierung von Fremdsteuerung und "Feuerleitsystemen", mithin um "Fernlenkung" und "Fernüberwachung" des Medienbenutzers durch und mittels Bildschirmmedien. Der User wird zum beweglichen und intelligenten, aber "feindlichen Objekt", den es mit Hilfe einer Gegenstand gewordenen Mathematik zu kontrollieren und einzukassieren gilt.

Historische Genealogie von Feuerleitsystemen

Vielleicht muß man, um den prinzipiellen Unterschied zwischen Soziologie und Medienwissenschaft, also Massenmedien, Publizistik und Massenkommunikation auf der einen Seite, Schaltalgebra, Computertechnologie und globale Netzwerke auf der anderen Seite, ermessen und historisch plausibilisieren zu können, doch noch einmal an die militärische Herkunft der Turing-Galaxis und all ihre Computertechniken (Rechner, Screens, Bitmap-Graphiken, Netzwerke) erinnern. Denn "was das Militär an Kommando- und Kontrolltechniken für sehr komplexe strategische und taktische Operationen entwickeln hat, läßt sich ... in geeigneter Weise adaptieren für zivile Systeme der Steuerung und Verwaltung."2

Diese Rückwendung auf das Militär und die "historische Genealogie von Feuerleitsystemen", die den "begrifflichen Rahmen für die Interaktion Mensch-Maschine"3 vorgeben, ist umso interessanter und spannender, als sowohl Systemtheorie als auch Medienwissenschaft aus der Kybernetik hervorgehen und sich weiter auf sie beziehen.

Wie Axel Roch und Bernhard Siegert darlegen, ging es während und nach dem Zweiten Weltkrieg dem National Defense and Research Comittee unter Leitung von Vannevar Bush um das Problem, wie das prinzipiell unerreichbare "Andere" (E. Lévinas), "der Feind" (C. Schmitt) - in diesem Fall ein sich bewegendes Flugobjekt -, zielpunktgenau verfolgt und abgefangen werden kann. Claude E. Shannon, der Begründer der Nachrichtentechnik von den Bell Labs, und Norbert Wiener, Vater der Kybernetik vom MIT, schlugen dafür unterschiedliche Lösungen vor. Während Wiener das "trunkene Bewußtsein", seinen Rausch und sein Rauschen, zum Ziel erklärte, dessen künftige Bewegungen (virtuelle Realität) er mit statistischen Zeitreihen und mathematischen Kalkülen zu treffen und vorherzusagen hoffte, analysierte Shannon die Beziehung Maschine-Maschine. Bei ihm und seinen Mitarbeitern avancierten die materiellen Möglichkeiten der Flugmaschine, und nicht das Verhalten des Bomberpiloten, zum Objekt der Kommunikation. Deshalb favorisierte er auch geometrische Parameter wie Geschwindigkeit, Langsamkeit usw., welche die zu erwartenden Flugbahnen des Flugobjekts in Segmente zerlegten, die die Maschine aufgrund ihrer Flugeigenschaften künftig auswählen und einschlagen mußte.

An dieser Archäologie unterschiedlicher mathematischer Kommunikationskalküle wird deutlich, warum nicht nur Systemtheorie und Medienwissenschaft unterschiedliche Attribuierungen vornehmen - psychische und soziale Systeme zum einen, Materialitäten und Nachrichtentechniken zum anderen. Und es wird auch deutlich, warum unter den Bedingungen elektronischer Kommunikation die Beziehung zwischen Computerherstellern und Usern als Theorie der Steuerung, Verfolgung und Kontrolle des Users gelesen werden muß, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Menschen oder eine Maschine handelt.

Von Norbert Wieners Kybernetik ist es nur einen Steinwurf weit zur Theorie sozialer Systeme. Denn beobachtet werden nicht die Operationen des Bewußtseins, sondern Kommunikationen, die dem Piloten als Handlungen zugerechnet werden. Von Shannon führt dagegen der Weg schnurstracks zur Medienwissenschaft. In deren Optik ist der Mensch nur "Wetware". Kommunikationen hingegen sind "Software", die von der vorgängigeren "Hardware" der Medientechnologien geschaltet werden. Vor diesem Hintergrund macht es selbstverständlich einen erheblichen Unterschied, ob man noch mit Semantiken operiert oder ob man primär von Signalübertragung, Nachrichtenkanal und C3I ausgeht, um von dort aus allein noch Nachrichtenquellen und Datensenken zu unterscheiden.

Entkopplung von Interaktion und Kommunikation?

Die soziologische Medientheorie macht es sich an diesem Punkt der Analyse einfach. Gesellschaft kann zwar - so einer ihrer kanonischen Sätze - über, aber nicht mit Umwelt kommunizieren. "Semantische Gehalte"4 können nicht von hier nach dort übertragen werden. Für Nachrichtensignale trifft das aber nicht zu. Mit Claude E. Shannons Informationstheorie liegt eine hinreichend formalisierte Theorie vor, die Leistungen und Grenzen der Nachrichtenübertragung metrisch definiert und damit jenes technische Problem löst, wie approximativ exakt, also ohne Informationsverlust, ein Signal von A nach B zugestellt werden kann und umgekehrt.

Es wäre zu klären, ob dieser technische Begriff der Information tatsächlich so stark ist, daß er den soziologischen Begriff der Kommunikation, die dreistellige Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen kassieren kann. Eine Medienwissenschaft, die dies behauptet, müßte, im Gegensatz zu Shannons reiner Formalisierung der Signalverarbeitung, historisch verfahren. Sie müßte anhand einer historischen Abfolge der Übergänge der Kommunikationstechniken zeigen, wie Shannons Informationstheorie allmählich alle diffundierenden oder divergierenden Eigenschaften konkurrierender Begriffe wie "Interaktion" und "Kommunikation" aufsaugen kann und gleichzeitig die Speicherung, Verarbeitung und Übertragung der Nachrichten so weit optimiert, daß alle anderen Techniken der Kommunikation (Wort, Bild, Ton) davon negiert, auf- und hochgehoben werden. Einen solchen archäologischen Versuch, die Geschichte der Kommunikationsmedien ähnlich wie seinerzeit Hegel "auf den Begriff" und damit die der modernen Gesellschaft zum Abschluß zu bringen, unternimmt schon seit einiger Zeit der Literaturwissenschaftler Freidrich Kittler.5

Nach Kittler kommt dieser technische Begriff der Information erst am Ende eines langen historischen Ausdifferenzierungsprozesses zu sich selbst. Sei der Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit zunächst von der "Entkopplung von Interaktion und Kommunikation" begleitet gewesen - die Schrift mache die Anwesenheit von Alter und Ego nicht mehr erforderlich -, so werde der jetzt zu beobachtende Übergang von Schrift zur Digitaltechnik von einer erneuten Entdifferenzierung, der "Entkopplung von Kommunikation und Information" geprägt, an dessen Ende Information als Umkehrung bzw. Negation von Entropie entziffert werden kann. Kommunikation beschränkt sich, seitdem "maschinelles Signalprocessing" zur allein bestimmenden Übertragungsform geworden ist, nicht mehr bloß auf die Aufgabe der Nachrichtenübermittlung und des mitteilenden Verstehens wie bei Luhmann. Sie kann, sofern sich Computerchips und die von ihnen gesteuerten Module auch auf den Verkehr von Personen und Gütern ausdehnen, "informationstheoretisch" reformuliert werden.

Unter den Bedingungen modernster Computertechnologie geraten Nachrichten zu Befehlen ("nach denen Personen sich zu richten haben"), Personen zu Adressen (die das Prozessieren "weiterer Kommunikationen ermöglichen") und Güter zu Daten, die virtuell per Mausklick in Echtzeit über die Infobahnen getauscht werden - ein Tatbestand, den Kant in der nunmehr vor über 200 Jahren publizierten Schrift Zum Ewigen Frieden als Hoffnung auf weltumspannende Freiheit des Individuums an die bürgerliche Gesellschaft und ihre Öffentlichkeit adressiert hatte.6

Gelänge es, diese drei Operationen der Kommunikation: Daten zu speichern, Adressen zu übertragen und Befehle zu verarbeiten, in einem "Aufschreibesystem 2000" zu optimieren und es zugleich im physikalischen Feld zu implementieren - und welcher Datensurfer, der online durch virtuelle Welten reist, könnte diese Erfahrung (wenigstens auf der Benutzeroberfläche) nicht teilen - entstünde tatsächlich ein selbständig operierendes, globales Informationssystem, das den Datentransfer und seine Geschichte zum Abschluß brächte. Die Zeit des Menschen wäre endgültig abgelaufen, er würde verschwinden "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", wie Foucault7 einst in rätselhafter Weise geweissagt hat. Es bliebe: die pure Materialität der Medien, das Angeschlossen-Sein und der Austausch von Daten im Ereignis der leeren Form ihrer Zirkulation.

"Solange es aber Medien gibt, gibt es Unterhaltung." - Friedrich Kittler

Und solange menschliche Beobachter, die die Kommunikation maschineller Selbstreproduktion durch Beobachtungen irritieren und verzerren, zwischen den Zeilen gedruckter Schriften nach dem gemeinten Sinn suchen, wird sich Medienwissenschaft, und das ist ihr "unmarked space", mit Gesellschaft, also mit Semantiken und Bewußtsein herumschlagen müssen. Die Systemtheorie scheint hierfür ein geeigneter Partner, in "wechselseitiger Ansteckung"8 diese für sie "ärgerliche Tatsache"9 zu meistern. Denn auch die avancierteste Gesellschaftstheorie geht von einem Apriori der Medientechnik aus. Sie sieht ihre historische Abfolge (Oralität, Schrift, Druck) sogar als "epochebildend" an, insofern sie das Fundament der ihnen entsprechenden Gesellschaftsformen (segmentär, stratifizierend, funktional differenziert) bildet und ihre Entwicklung bzw. Ausdifferenzierung vorbereiten half. Doch bislang hört, obwohl Luhmann in "den neuen, Elektronik-basierten Medien der Informationsverarbeitung [...] eine neue Epoche"10 anbrechen sieht, ihre Evolutionsfreudigkeit stets dort auf, wo die Kommunikation maschinisiert wird.

Dies ist umso erstaunlicher, als die Systemtheorie in Rechnung stellt, daß die "Komplexitätschancen autopoietischer Systeme [...] sich rasch und abrupt ändern (können), wenn sich die Bedingungen ihrer operativen und strukturellen Kopplung mit der für sie notwendigen Umwelt ändern." Immerhin sieht Luhmann aber bereits am Horizont "ein neues Medium im Entstehen [...], dessen Formen(bildung) nun von den Computerprogrammen abhängig" ist.11

Harrt Luhmann hier noch wie weiland Moses vor dem heiligen Felsen der Gutenberg-Galaxis aus, so läßt Kittlers allumfassende Maschinenmetapher bereits erahnen, daß das "Aufschreibesystem 2000" (bislang aber eher halbherzig von ihm formuliert) in der Lage sein könnte, in die Rolle des intelligenten Beobachterdämons zu schlüpfen. Seitdem nämlich Maschinen andere Maschinen programmieren und Computer die nächste Computergeneration konstruieren, die wiederum andere Maschinen überwachen und kontrollieren, welche die Programmierer und Konstrukteure überwachen und kontrollieren, wird eine Selbstentfaltung der Technik denkbar, deren Halbwertzeiten die Evolution der Gesellschaft und ihre Kopplungen diktieren würden.

Flucht der Medienwissenschaft in Geschichten

Freilich lädt sich die Medienwissenschaft mit ihrer Entscheidung, die Beobachtung tiefer anzusetzen und den unmarkierten Raum von Wissen, Gedächtnis und Macht auszuleuchten, einen dicken Brocken auf ihre Schultern. Sie muß nämlich mit jenem Paradox fertigwerden, wie unlesbare Zahlenreihen, die zwischen vernetzten Computern zirkulieren, Schaltpläne, die hinter tiefgestaffelten Benutzeroberflächen verborgen bleiben, Informationsströme, die dem Zugriff der "untrusted users" entzogen werden, beobachtet und gelesen werden können. Da diese nämlich weit unter- bzw. oberhalb menschlicher Bewußtseinssysteme operieren, fällt die Beschreibung und Zurechnung eines solchen Datentransfers dem (menschlichen) Beobachter nicht nur schwer, er kann sie auch nur durch intelligentes Stöbern in Archiven, geschicktes Kombinieren und Permutieren alter Medien (Bücher, Zeitschriften, Dokumente...) und gekonnten Einsatz seiner produktiven Einbildungskräfte beobachten und beschreiben, um sie anschließend in den Horizont der Programmatiken von Nachrichtentechniken einzurücken. Deswegen ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß es der Medienwissenschaft bislang nicht gelungen ist, allgemeine Methoden zu entwickeln, wie mit numerischen oder technischen Daten, mit Geräuschen und Farben, Ziffern und Frequenzen, Halbleitern und Blaupausen umzugehen oder zu verfahren ist.

Daß dabei ähnlich wie bei alphabetischen Dateien nur noch Erzählungen übrigbleiben, Rückblicke darauf, wie es möglicherweise gewesen sein könnte, hat hierzulande für eine gehörige Portion Verwirrung und deftige Kritik gesorgt.12 Und die Medienwissenschaft tut bislang wenig, um diesen Verdacht zu entkräften. Häufig würzt oder reichert sie ihre Archäo-Logiken mit Mythen an, die sie durch genaues Recherchieren historischer Fakten zwar komplettiert oder kompensiert, aber literarisch verarbeitet. Andererseits scheint die Neigung, "Wissenschaftsgeschichte als Kriegsgeschichte" zu lesen, sie in Kulturgeschichte zu übersetzen und diese wiederum als Fortsetzungsroman von Technik- bzw. Kriegsgeschichte zu beschreiben, immer noch für manchen, an hehren Motiven und Zielen orientierten, an Mentalitäten und politisch korrekten Gesinnungen ausgerichteten kritischen Kritiker ein Skandalon zu sein und ihn zu empören. Jedenfalls verführt die medienwissenschaftliche Einsicht, auf der Oberfläche der Screens nur mehr Narratives vorzufinden, viele Erben und Enkel der Dialektik der Aufklärung dazu, der Medienwissenschaft glatt mythische Züge zu unterstellen. Dies ist so weit richtig, als Medien nicht bloß Schutzschirme sind, die vor unangenehmen Kontaktnahmen mit dem Realen - "das Unheimliche" - bewahren, sondern tatsächlich wie Mythen funktionieren.

Für Medien, erst recht unter fortgeschrittenen Medienbedingungen, gilt, was Marx im letzten Jahrhundert als vertracktes Ding mit "theologischen Mucken" am Ende eines Jahrzehnte währenden Bücherstudiums und Stöberns in staubigen Archiven an der Ware entdeckt und mit guten Gründen als Warenfetisch bezeichnet hat. Die Akteure agieren am Markt - als ob. Sie glauben, mit naturwüchsigen Dingen zu handeln, tatsächlich realisieren und reproduzieren sie aber durch die Form, wie sie den Warentausch vollziehen, gesellschaftliche Beziehungen. "Sie wissen das nicht, aber sie tun es", wie im ersten Band des Kapitals13 zu lesen ist.

Medienwissenschaft und soziologische Medientheorie trennen aber keinesfalls Welten, nur Ebenen der Beschreibung. Trotz unterschiedlicher Zurechnung gibt es auch genügend antihumanistische "Familienähnlichkeiten" (Wittgenstein), sei es in der unterschiedlichen Attribuierung von Effekten auf "Äußerlichkeiten" - Luhmann auf Kommunikationen, Kittler auf Nachrichtentechniken - , sei es in der Abwehr aller an die und mit der Kontingenzformel "Mensch" gekoppelten humanistischen Spekulationen auf Umkehrung, Bemächtigung und Wiederaneignung und Hoffnungen auf eine bessere, gerechtere, freiere und solidarischere Welt. Von einem solchen naiven Bild von Aufklärung haben sich Medienwissenschaft und soziologische Medientheorie verabschiedet und so den evolutionären Errungenschaften der Moderne Rechnung getragen. Kommt der Mensch im einen Fall wenigstens noch als Adresse für Kommunikationen und Medium für Anschlußkommunikationen vor, so spielt er im anderen Fall, im rechnergestützten Medienverbundsystem, nicht einmal mehr als irritierender und Kommunikationen verzerrender (Beobachter)Dämon eine Rolle.

Dennoch, was auch immer "Königswissenschaft" (Deleuze/Guattari) werden und den seit Hegels Tod vakanten Platz des Königs erobern wird: Systemtheorie oder Medienwissenschaft, erkenntnisleitend für all das ist die von Michel Foucault vor mehr als zwanzig Jahren auf die Agenda der Wissenschaften zurückgeholte Frage der Macht. Wie ist Macht unter den Bedingungen von Schaltalgebra, Glasfasertechnik und globalen Kommunikationsnetzen zu verorten? Welche Form nimmt die Macht an, eingedenk der Tatsache, daß ein technischer Hyperkörper aus Kabeln, Modulen und Rechnern entsteht, der das Soziale formt und gleichsam göttliche Attribute (Simultaneität, Instantaneität, Ubiquität) aufweist, die an Spinozas Begriff der Substanz erinnern? Ist Macht daher erneut, gleichsam "alteuropäisch", als objektive, eigengesetzliche Größe zu denken, die härter ist als die Gleichheitsvisionen funktionaler Differenzierung? Oder ist Macht auch unter Glasfaserbedingungen weiterhin als ein verflüssigtes "symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium" zu lesen? Führt die unaufhaltsam fortschreitende Elektronifizierung aller Datenströme zu weiterer Dezentralisierung und Horizontalisierung, Diversifizierung und Heterarchisierung der Kommunikation? Oder beschwört die digitale Funktionslogik gar eine in der Historie bislang unbekannte und beispiellose Homogenisierung und Gleichschaltung, Zentralisierung und Vertikalisierung der Macht herauf, und zwar im globalen Weltmaß? Ist nicht das Ziel, das höchste Insignium der Macht, zu sehen, ohne gesehen zu werden, auch zugleich die Definition von Medium? Ist wirklich nur der souverän, der über den Ausnahmezustand entscheiden kann, oder nicht vielmehr derjenige, der die Heraufkunft (Emergenz) dieses Tatbestandes sowohl neutralisieren als auch diskreditieren kann, etwas, wozu Medien, insbesondere in ihrer elektronischen Gestalt, bestens in der Lage sind?

Angesichts der wiederum ungeheuren medientechnischen Veränderungen am Ende des Millenniums, des Siegeszuges, den das neue "Zentralgebiet" der Technik in den Funktionssystemen der Gesellschaft anrichtet, stellt sich mit Macht die Frage, ob nicht gesellschaftliche Transformationen mit ähnlichem Gewicht anstehen, wie es die Erfindung der Schrift vor über 5000 Jahren für die orale Verfassung der Tribes und Clans der Volksgemeinschaften oder ihre Gießung in Drucktechnik im 16. Jahrhundert für die literale und späterhin massenmediale Gesellschaft bedeutete.