Who do you want to be tomorrow?

Transhumanismus: der Humanismus von morgen

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Unter dem Motto "Who do you want to be tomorrow?" trafen sich am ersten Juni-Wochenende in Stockholm Transhumanisten aus sieben Ländern zur TransVision 99, der zweiten europäischen Transhumanismus-Konferenz. Veranstalter war der schwedische "Svenska Transhumanistförbundet", Resultat einer Neustrukturierung der Aleph-Vereinigung. Der Konferenzort erwies sich als ebenso ungewöhnlich wie reizvoll: ein zum Hotel umgebautes ehemaliges Gefängnis auf der Insel Langholmen nahe dem Stockholmer Zentrum. Man wurde hier zumindest ständig an den Grundbaustein biologischen Lebens erinnert, den die moderne Wissenschaft zu verändern beginnt: die Zelle ...

Während es auf der ersten TransVision im vergangenen Jahr (Von einem Treffen der Transhumanisten) hauptsächlich darum ging, sich kennenzulernen und den symbolischen Startschuß für eine besser organisierte transhumanistische Bewegung in Europa zu geben, stand diesmal die "Selbstfindung" des Transhumanismus und seine Stellung in und gegenüber der Gesellschaft im eigentlichen Mittelpunkt. Es wurden aber natürlich auch technische und praktische Themen angeschnitten, wobei die "inoffiziellen" Diskussionen zwischen den Vorträgen, während der Mahlzeiten und am Abend eine mindestens ebenso wichtige Rolle beim "community building" spielten wie die Vorträge selbst. Bei der Betrachtung der aktuellen wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen konnte dabei immer wieder mit Befriedigung festgestellt werden, daß viele der traditionell transhumanistischen Themen, wie z.B. Nano- oder Gentechnologie, langsam in den Alltag und damit das Bewußtsein des Durchschnittsindividuums einsickern, wodurch sich die entsprechenden Ideen durchzusetzen beginnen. Allerdings gibt es noch an mindestens ebenso vielen Punkten Schwierigkeiten und Widerstände, so daß keiner der Beteiligten für die nahe Zukunft Langeweile aufkommen sah.

Better living through technology

Zur offiziellen Eröffnung der Tagung am Samstagmorgen konnte Anders Sandberg Teilnehmer aus Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Holland und Südafrika begrüßen. Die Anwesenden selbst bildeten ein ziemlich buntes Völkchen, vom Anzugträger über T-Shirt und Jeans tragende Studententypen bis hin zum ziemlich verkabelten /KPJ, der es kaum erwarten kann, bis die ersten "wearables" auf dem Markt erscheinen. Trotz dieser beträchtlichen äußeren Unterschiede schien niemand irgendwelche Kommunikationsprobleme zu haben.

Nach der Begrüßung war es an den nationalen Transhumanismus-Verbänden (sofern solche schon existieren), sich kurz zu präsentieren.

Den Anfang machte Aleph , der als Gastgeber hier schon einige Erfolge und eine stabile Basis vorzuweisen hat. Die zweite Auflage eines Handbuchs zu transhumanistischen Ideen sowie diverse Auftritte u.a. in populärwissenschaftlichen Sendungen weisen auf Kontinuität und Fortschritt hin.

Transcedo aus Holland, Veranstalter der letztjährigen TransVision 98, arbeitet an einem seriösen Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, um Mißverständnisse von vornherein auszuschließen. Man geht die Dinge hier lieber langsam an, anstatt sich verfrüht und möglicherweise verzerrt in den Medien darstellen zu lassen.

De:Trans (Deutsche Gesellschaft für Transhumanismus e.V.) wurde erst kürzlich als gemeinnütziger Verein gegründet und ist mit dem Aufbau einer Vereinsstruktur beschäftigt. Sein Ziel ist die Etablierung eines Transhumanismusforums in deutscher Sprache und die seriöse Berichterstattung über die Möglichkeiten, die Wissenschaft und Technik dem Menschen bei der Überwindung seiner Probleme bieten.

Über den Stand und die weitere Entwicklung der World Transhumanist Association schließlich wurde während des Lageberichts von Nick Bostrom diskutiert.

Der erste "technische" Beitrag dieser Konferenz kam von Anders Sandberg selbst, der über Intelligenzverstärkung sprach. Hier ging es um praktische Aspekte, um heute schon Machbares, wobei u.a. der Einfluß diverser Drogen (wie z.B. Koffein, Nikotin) und die Entwicklung der sogenannten "wearables" in der nahen Zukunft im Mittelpunkt standen. Einflußmöglichkeiten bestehen demnach in den sechs Kategorien Wahrnehmung, Innovation, Gedächtnis, Kritik, Planung und Metakognition. In Zukunft müssen sowohl die individuellen wie auch die sozialen (d.h. kollektiven) Aspekte einer von der Informationstechnologie unterstützten Intelligenzverstärkung betrachtet werden. Anders' Vortrag wirkte wie üblich sehr solide und überzeugend.

Ein völlig anderes Thema brachte der einzige Nichteuropäer des Treffens, Ant Brooks (dessen buntes afrikanisches Outfit ihn zur exotischsten Person des Tages machte), zu Bewußtsein. Er sprach über das Internet in Afrika, und es ist tatsächlich in dem unterentwickelten Zustand, den der Großteil der Anwesenden erwartet hätte. Ant sieht die Zukunft jedoch nicht allzu pessimistisch, und er führte fünf Gründe an, die die Besonderheiten des "schwarzen Kontinents" in dieser Hinsicht ausmachen: die Stammesstruktur, Zufriedenheit trotz mißlicher Lage, großer Bedarf an Kommunikation, Rhythmus sowie die Unterentwicklung.

Daß der Zugang zu künftigen (transhumanistischen) Technologien im Zusammenhang mit ökonomischen Fragen, d.h. dem Thema "Geld", stehen wird, machte Waldemar Ingdahl in einem ziemlich libertär gefärbten Beitrag über Karrierechancen unter den Bedingungen neuer Technologien und Ökonomien deutlich. Sein Slogan "Greed is good" wirkte in diesem Kreis aber, zu seiner Enttäuschung, kaum provozierend, im Gegensatz zu den sonst üblichen Reaktionen in anderen Kreisen der Gesellschaft. Wie jemand scherzhaft bemerkte, hätte er mit sozialdemokratischen Thesen wohl stärkere Reaktionen hervorgerufen. Die libertären Tendenzen des amerikanischen Extropianismus sind also in stark abgeschwächter Form auch im europäischen Pendant zu finden.

Zum Abschluß des offiziellen Samstagprogramms referierte Henrik Öhrström über die Genetik von Krankheiten, also die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung oder Vermeidung. Es stellte sich heraus, daß die Mehrzahl der erfolgversprechenden Prozeduren gegenwärtig aus kurzsichtigen pseudo-ethischen oder politisch-ideologischen Gründen verboten ist. Immerhin besteht hier Grund zur Hoffnung auf Korrekturen, sobald couragierte Wissenschaftler den Nutzen praktisch beweisen - dann könnten viele heute als unabwendbar angesehene Krankheiten (einschließlich des Todes :) schon bald der Vergangenheit angehören.

Transhumanismus und Gesellschaft

Während der erste Tag eher von technischen bzw. praktischen Themen geprägt war, lag das Gewicht der Vorträge am Sonntag auf sozialen und kulturellen Aspekten des Transhumanismus.

Remi Sussan, französischer Computerjournalist, analysierte an diversen Beispielen die Stellung des Transhumanismus als sich herausbildende Philosophie relativ zu anderen Strömungen in der Gesellschaft. Er zeigte, daß gemeinsame wie unterschiedliche Auffassungen sich quer durch alle Philosophien und Subkulturen ziehen und es weder klar definierte natürliche Verbündete noch "Gegner" auf der ideologischen Landkarte gibt. Deshalb ist das Erkennen innerer Widersprüche und Fehler von größter Bedeutung, um sich klar abzuheben und das eigene Profil als zukunftsorientierte und menschliche Philosophie zu schärfen. Als problematisch wurde hier insbesondere der (nicht unbedingt gutgemeinte) Vergleich mit Rassenverbesserungs- und "Übermenschen"-Konzepten vergangener Diktaturen und totalitärer Ideologien erkannt.

Über die Entwicklung einer transhumanistischen Bioethik sprach dann noch einmal Nick Bostrom. Die aktuellen Diskussionen um Klonen und genetisch veränderte Pflanzen illustrieren hier deutlich den Mangel an Rationalität und Sachverstand, mit dem dieses Thema noch behaftet ist. Forschungsverbote werden in einer Art Panikreaktion verhängt und mit teilweise recht realitätsfremden ideologischen Argumenten verteidigt. Erwartungsgemäß waren sich alle Anwesenden darüber einig, daß dies eine große Hürde auf dem Wege zu einer biotechnologischen Verbesserung des Menschen darstellt. Das Einbringen rationaler und positiver Argumente (Meme) in die öffentliche Diskussion zählt daher zu den vordringlichsten Aufgaben der transhumanistischen Bewegung.

Einen recht ungewöhnlichen Blickwinkel auf den Transhumanismus bot danach Alexander Bard, der ihn vom Standpunkt des Mobilismus ("nomad philosophy") betrachtete und eher als soziales Netzwerk denn als Philosophie charakterisiert wissen möchte (zumindest gegenwärtig). Bard ist "hauptberuflich" im Musikgeschäft tätig und manchem vielleicht als Frontfigur der Popgruppe "Army of Lovers" bekannt, zählte also eher zu den exotischeren Teilnehmern des Treffens. Sein höchst informativer, unterhaltsamer und von zahlreichen philosophischen Verweisen auf Foucault oder Deleuze durchzogener Vortrag stellte diverse zeitgenössische politische Lager (konservativ, liberal, sozialdemokratisch etc.), die unter dem gemeinsamen Nenner "etatistisch" oder "fundamentalistisch" durchgehen können, einem neuen Konzept sozialer Bewegungen und Netzwerke gegenüber, die erstere mit der Durchsetzung zunehmender Individualität und Freiheit ablösen könnten. Vieles daran war diskutabel, gab aber reichlich Stoff zum Nachdenken auch in neuen Richtungen. Daher gehörte Bards charismatische Präsentation sicherlich zu einem Highlight der Konferenz.

Wie sollte Transhumanismus in den Medien dargestellt werden? Diese PR-Frage diskutierte Max Rasmussen aus Dänemark zum Abschluß des zweiten Konferenztages. Notwendig seien hier konzertierte und verstärkte Anstrengungen, mehr Textmaterial zu produzieren, ferner ein leichterer Zugang zu Informationen für "Uneingeweihte". Geplant ist daher eine Art transhumanistischer "portal site", die bis zum Ende des Jahres (Jahrtausends!) online gehen soll. Europas Transhumanisten werden also in Zukunft definitiv mehr Präsenz zeigen als bisher.

Letzte Amtshandlung der Versammelten war dann, wie schon im letzten Jahr, die Beschlußfassung über den Austragungsort der dritten Konferenz im nächsten Jahr. Die Wahl fiel hier, dies war schon im Vorfeld klar geworden, auf London. Man darf also gespannt sein, ob Teilnehmerzahl, Niveau und Medienecho der TransVision in ähnlichem Maße zunehmen werden wie beim amerikanischen Vorgänger und Pendant, der Extro (vom Extropy Institute in diesem Sommer zum vierten Male ausgerichtet). Ausreichend Motivation und Enthusiasmus dürften alle Teilnehmer der diesjährigen Konferenz mehr als genug mit nach Hause genommen haben.