Akademische Papiertiger

Wissenschaftliche Publikationsrituale und die Medienrevolution - wird elektronisches Publizieren jenseits der Zeitschriften und Bücher zu einer realistischen Option?

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Warum ist, bei all der Nähe zum Akademischen in der Geschichte des Internet, der gesamte Wissenschaftsdiskurs nicht längst schon im Netz? Wenn die großen Verlagshäuser, die zu einem nicht geringen Teil von teuren akademischen Publikationen leben, überhaupt am Netz präsent sind, dann meist zum Zwecke einer Werbung für Printprodukte, die immer noch ihr Kerngeschäft darstellen. Diese Produkte - Bücher und Zeitschriften - sind aufwendig hergestellt und wollen verkauft werden, um Verlag, Druck, Graphik, Vertrieb und manchmal sogar die Autoren zu bezahlen. Wissenschaftliche Autoren hingegen haben idealerweise ein zentrales Interesse: daß sie gelesen (und zitiert) werden. Von Berufs wegen tun das Akademiker und Studenten; sie müßten also alles unterstützen, was die Zugänglichkeit ihrer Texte fördert, zum Beispiel eben die elektronischen Publikationsmöglichkeiten Das ist aber nur bedingt der Fall.

Im gegenwärtigen Kontext neuer Medienanwendungen steht eine angemessene Reaktion der geistes- und sozialwissenschaftlichen Expertenkultur auf die neuen Bedingungen des Wissenstransfers in die Gesellschaft weithin noch aus. Ihrer zunftmäßigen Organisation, zu deren Charakteristikum unter anderem ein bewußt eingeschränkter Wissenstransfer gehört (als Basis des Bestehens einer Expertenkultur), steht bereits mit den derzeitigen Formen vernetzter Information (Internet) ein allgemeiner Innovationssprung entgegen. Die Erwartung geht in Richtung eines enormen Industrialisierungsschubs des Wissenschaftsdiskurses selbst, und zwar durch eine Erhöhung der Zirkulationsgeschwindigkeit von Texten einerseits, durch die Entwertung herkömmlicher Mediatoren bzw. ihrer Bewertungskriterien (Redaktionen, Verlage) andererseits.

Die derzeit in der wissenschaftlichen Produktion, Konsumtion und Zirkulation verwendete Technik ist noch verhältnismäßig primitiv: der Personal Computer dient als elaborierte Schreibmaschine. Zwar wird fast nirgends mehr ohne PC gearbeitet, doch der Text als wesentliches wissenschaftliches Arbeitsresultat ist nach wie vor auf Papier als Materialität angewiesen, um in den wissenschaftlichen Diskurs eingespeist zu werden. Die technischen Vorteile des elektronischen Publizierens gegenüber dem Papier als Diskursmedium liegen auf der Hand. Diese werden bis zum Überdruß propagiert, aber von Wissenschaftlern bislang wenig genutzt.

Daß die akademische 'Community' noch sehr am Papier hängt, hat verschiedene Motive. Einer davon ist ganz profan die verbreitete Berührungsangst mit der Computertechnologie, was für manche der sogenannten Geisteswissenschaften immer noch einen gewichtigen Teil ihrer Identität ausmacht. Ein anderer ist der, daß die karrierefördernde Publikation nur dort wirklich Prestige abwirft, wo das entsprechende Gütesiegel der Gutachter, Lektoren und Verleger tatsächlich erkennbar ist. Im Internet ist die Praxis der vermittelten Publikation (Herausgeberschaft) erst im Entstehen. Ihre Domäne ist nach wie vor die Sphäre der renommierten Fachzeitschriften, die im Peer-review-Verfahren (Fachkollegen spielen Gutachter) entstehen, und wo schon gar keine unverlangten Manuskripte abgedruckt werden. Ihr Abonnement jedoch, besonders im naturwissenschaftlichen Bereich, bewegt sich in nahezu astronomsichen Höhen (z.B. 12000 Dollar und mehr im Jahr für amerikanische Journale wie "Nuclear Physics" oder "Chemical Abstracts").

Die Verlage verlieren dadurch wiederum ihre letzten Abonnenten, die schon längst nicht mehr Personen, sondern fast ausschließlich Institute und Bibliotheken sind. Immer seltener besteht nun die Bereitschaft eines Verlags, die hohen Produktionskosten des Papiermediums für einen immer kleiner werdenden Abonnentenkreis zu tragen - sofern es sich nicht um traditionelle Prestigeprodukte handelt.

Beim papiergebundenen Schreiben ist der Verleger ein Raster, ein Relais und eine Antenne: Die Strahlen der Texte kommen bei ihm an, er wählt unter ihnen jene aus, die 'verlegt' werden sollen, er macht sie für ein Weiterstrahlen zurecht ('druckreif') und strahlt sie dann als ein Bündel in den leeren Raum aus, um auf etwa vorbeigehende Empfänger (zum Beispiel in Buchläden) zu stoßen. Beim elektromagnetischen Schreiben wird der Verleger zum Brennpunkt des im Weben begriffenen Gewebes: zu einer Art von Datenbank, die mit immer neuen Informationen gefüttert wird, aus der diese Informationen rückgestrahlt werden und in der sie miteinander verglichen oder miteinander konfrontiert werden.

Vilem Flusser, Hinweg vom Papier (Flusser-Reader, S. 63)

Damit zerbröselt schön langsam die eingespielte Komplizenschaften zwischen Wissenschaftlern, Verlegern und Bibliothekaren. Inzwischen trägt der ständig wachsende Produktionsausstoß dazu bei, daß die Speicherkapazitäten der Bibliotheken langsam an ihre Grenzen stoßen: allein die Zahl wissenschaftlicher Journale verzehntausendfachte sich zwischen dem Beginn des 19. und dem des 20. Jahrhunderts, um derzeit bei ca.1 Million Titel angelangt zu sein. Eine Verdoppelung der Zahl wissenschaftlicher Publikationen erfolgt nach aktueller Schätzung alle 16 Jahre. Das muß man sich einmal auch bildlich vorstellen: die Bestände der British Library wachsen jährlich um mehr als 20 Regal-Kilometer an. Auf diese Bedingungen reagieren neue Mittel und Wege der Informationsgewinnung und -selektion: Datenbanken und elektronische Informationsangebote bzw. digitale Informationsressourcen übernehmen auch in der Wissenschaft mehr und mehr die Rolle von Bibliotheken und traditionellen Archiven.

Neben dem kulturkonservativen Lamento über die 'Informationsflut', die angeblich über uns hereingebrochen ist, besteht die Möglichkeit, diesen Prozeß als Ausdifferenzierung der Sphären von Information und Kommunikation zu sehen; schließlich handelt es sich dabei nicht einfach um den Effekt irgendwelcher ungewollter Technologien, sondern mindestens sosehr um einen Ausdruck des veränderten Bedarfs der Wissens- und Informationsgesellschaft am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.

Obwohl man gut daran tut, im Bereich der Wissenssoziologie auf vage Prognosen zu verzichten, darf davon ausgegangen werden, daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis alle wissenschaftlichen Disziplinen die neue, elektronische Implementierung des Wissens akzeptiert haben werden. Während nämlich die zur Verfügung stehende Informationsmenge sich in noch so raschen Abfolgen verdoppelt, so steht die Verdoppelung der Rechenleistung von Computergenerationen dazu im Verhältnis von etwa eins zu zehn. Mit anderen Worten: an den Innovationsraten der Computerindustrie gemessen revolutionieren sich die Speichermedien in unserer Kultur etwa zehnmal so schnell wie das Output der zur Verfügung stehenden Informationen.

Die Entwicklung von neuen Software-Tools (derzeit vor allem HTML-Editoren) trägt weiters dazu bei, daß die Nutzung und Einbettung neuer Funktionen in einfache Texteditoren immer einfacher wird: die Publikation vom eigenen Desktop ins weltweite Internet hinein ist keine große Sache mehr, die Macht der Halbgötter an den EDV-Zentren und anderen Providern ist eine längst gebrochene. Über die direkte Auswirkung dieser Errungenschaften darf man sich allerdings auch keine Illusionen machen. Da die meisten Texteditoren noch zur Druckvorbereitung verwendet werden, dürfen sich derzeit vor allem die Verlage an ihren Autoren schadlos halten, die mit ihren Wordprocessing-Programmen zu unbezahlten Schriftsetzern, Layoutern und Lektoren mutieren.

Warum also haben sich die Autoren, in unserem Fall Forscher und ihre Institutionen, nicht längst schon dazu aufgerafft, das gegenwärtige Publikationssystem zu unterlaufen, indem sie ihre 'preprints' ins Netz stellen und auf den 'print' ganz einfach verzichten? Neben der Tatsache, daß das Niveau der medientechnischen Information auch von Personen, die in ihrem Fach durchaus als Kapazitäten gelten mögen, meist erschreckend niedrig ist, gilt hier der Verweis auf Zitationsmechanismen und auf das Copyright als ebenso unvermeidliche wie klischeehafte Antwort.

Die akademische Zitationsweise ist selbst schon ein kleiner Mechanismus zur Herstellung von Hypertexten. Es ist jedoch ein Irrtum zu glauben, daß die herkömmliche Zitation mit Band- und Seitenangabe unabdingbar ans Papiermedium gebunden ist. Auf der Meta-Textebene (META HTTP-EQUIV und META-NAME des Source-Codes) gut ausgezeichnete Texte sind nicht nur jederzeit auffindbar, sie haben auch den Vorteil, als Zitat nicht nur bibliographischen Verweischarakter zu tragen, sondern den Text selbst zugängich zu machen. Je mehr sich nunmehr die Praxis der Web-Archivierung professionalisiert - und die großen Nationalbibliotheken haben längst schon damit begonnen, Online-Publikationen zu archivieren - desto leichter wird das Zitieren von Online-Quellen, vor allem in der Online-Publikation selbst.

Das zweite Klischee betrifft natürlich das Copyright. Wir vergessen über diese Diskussion sehr leicht, daß eine für das moderne Publikationswesen so zentrale Frage wie der Schutz geistigen Eigentums historisch eher jüngeren Datums ist und daß sie mit den Produktionsbedingungen von Autoren und Verlegern Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zu tun hat. Die Interessen, die hier geschützt werden, sind nicht sosehr diejenigen eines geistigen Urhebers (teilweise ohnehin eine Fiktion angesichts der Interdependenz von Texten und Produktionskontexten) als die eines ausdifferenzierten Verwertungsapparates. Mit der Modifikation des Produktions- und Distributionsapparates werden auch jene verbürgten Rechte tendenziell zu Anachronismen. Dies rührt freilich auch an den Grundfesten der Bildungsinstitutionen, die erst im Übergang zum neunzehnten Jahrhundert davon abgingen, die vorhandenen klassischen Texte zu lesen und zu erläutern, zu interpretieren und zu kommentieren, um an den Platz der Überlieferung das moderne Konzept der Autorschaft zu setzen: zuerst wird in der akademischen Gemeinschaft das Papiermedium (Zeitschrift, Buch) als Zentrum der intellektuellen Sozialisations- und Gratifikationsprozesse favorisiert. Gedrucktes rückt jetzt langsam aus dem Zentrum und wird durch andere Diskursmedien wenn nicht ganz ersetzt, so mindestens doch ergänzt. Wir werden in der nahen Zukunft nicht nur viele Verleger fallen sehen, sondern auch das autorenbezogene Copyright. Wer darob die apokalyptische Klage vom Kulturzerfall erhebt, möge sich ernsthaft fragen, welche öknomomischen Interessen er vertritt.

Die wahrscheinlichste Antwort auf die eingangs gestellte Frage ist die, daß wir derzeit im Übergang leben. Nach Vilém Flusser ist der Übergang auch ein Ausdruck dafür, daß der alphanumerische Code in die Krise geraten ist: "Er ist nicht mehr adäquat für die gegenwärtig verfügbaren und unter ihnen insbesondere für wissenschaftliche Informationen." Die gedruckte Schrift ist lediglich ein Mittel, im Gedächtnis gespeicherte Informationen zu prozessieren und in den öffentlichen Dialog zu bringen. Eine verbesserte Technologie kann durchaus Verlagsfunktionen ersetzen. Verleger werden trotzdem nicht untergehen. Eine EU-Studie zum elektronischen Publizieren definierte jüngst als Zukunftsstrategie für Verlage relativ unabhängig vom verwendeten Medium die Kernkompetenz des Aufbaus von Interessengemeinschaften; das ist als eine Verlängerung der sogenannten "Leserbindung" zu dechiffrieren. Natürlich bietet der elektronische Vertriebsweg neue Möglichkeiten, bislang getrennte Inhalte und Dienstleistungen zusammenzubringen. Regionale und lokale Spezifizierungen sind angesagt, die damit erzeugten spezifische Nutzergruppen sind schließlich das ideale Publikum für Inserenten.