Die New York School der Programmierer

Ein subjektiver Rundgang durch die New Yorker Zentren der Netzkunst führt zu Begegnungen mit XML, Perl und Java, den neuen "Materialien" der Kunst.

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Manhattan gilt als Hauptstadt der Kunstszene. Die Hauptstadt der Netzkunst ist der Big Apple dagegen nicht unbedingt. Trotzdem gibt es auch in New York eine aktive Netzszene. Doch vor allem gibt es eine Reihe von - ja, wie soll man sie nennen? Programmierkünstler? Ein Besuch in der Stadt, die von oben wie ein riesiger Computerchip aussieht.

Es funktioniert noch, das "ewige Netzwerk". "Eternal Network" hat der Fluxus-Künstler Robert Filliou das weltweite Band aus Freundschaften, Beziehungen und Bekanntschaften genannt, das sich zwischen Künstlern seiner Generation entwickelte und nicht nur zu einem lebhaften Austausch von Briefen und Postkarten (Mail Art!) führte, sondern auch zu einem ununterbrochenen Kunsttourismus rund um den Globus.

Und nun auch ich in Arkadien: drei Tage nach Ankunft in New York finde ich mich zwar uneingeladen, aber nicht unwillkommen auf einer Party wieder, auf der sich die Hälfte der hiesigen Netzszene das Martini-Glas in die Hand gibt. Dank der guten Menschen von Rhizome, die ich am Neujahrstag in Rachel Greenes Wohnung am St. Mark's Place treffen, bin ich in punkto Internet-Sozialleben in New York schon kurz nach meiner Ankunft gut orientiert.

Socialising im Meat Market District

Auf die Neujahrsparty bei Paul Garrin verzichte ich wegen einiger häßlichen Email-Wechsel in der Vergangenheit lieber, aber die "Stadiumweb"-Party am Tag danach klingt interessant: In einer etwas schummrigen, aber distinguierten Kneipe im - entgegen dessen, was sein Name nahelegt - vornehmen Meat Market District feiert Ron Wakkary seinen Abschied von der Netzkunstsite "Stadiumweb", die er in den letzten zwei Jahren aufgebaut hat und die ihm jetzt einen Job an einer neu gegründeten Universität in Vancouver einbrachte.

"Hello", wir sind ja in Amerika, wo man sich auf Partys zwanglos ins Gespräch einbringen kann, wenn man niemand kennt, statt - wie in Deutschland - die Buchrücken des Gastgebers anzusehen. Schon sitze ich neben Wakkary, der im Gespräch ununterbrochen lächelt, was mit der Tatsache zusammenhängen könnte, daß die Dia Art Foundation seine Site übernommen hat. Dia, ein privatwirtschaftlich geführtes Museum, das einen Schwerpunkt auf Konzeptkunst legt und unter anderem Walter De Marias "New York Earth Room" in Soho zeigt, hat zwar auf der eigenen Website schon eine Sammlung mit Auftrags-Netzkunst.

Trotzdem hat Wakkary erreicht, daß "Stadiumweb" eine eigene Site bleibt, seine URL behält und sogar neue Werke in Auftrag gibt; Arbeiten von Vera Fraenkel, Allan McCollum und der Künstlergruppe Parasite sollen angeblich in den nächsten Monaten auf dem Server erscheinen. Anders als der im vergangenen Jahr eingestellte Artserver "Adaweb", der sein Dasein nun als Subdomain auf dem Server des Walker Center of the Arts in Atlanta fristet, war "Stadiumweb" ein Non-Budget-Unternehmen. Die Frage, wie er Künstler wie Allan McCollum. John F. Simon oder Louise Lawler überzeugen konnte, umsonst Kunst auf seine Site zu packen, beantwortet Wakkary nur ausweichend. Aber es scheint geholfen zu haben, daß Lawrence Weiner ihm einen Film für "Stadiumweb" zur Verfügung stellte. Das war zwar keine Netzkunst, trug aber offenbar zum Prestige der Site bei.

Und dann geht das amerikanische Vorstellungsritual los: "Hey, let me introduce you to..." Ich lande praktischerweise neben dem Künstler Maciej Wisniewski, den ich sowieso kennenlernen wollte, weil mich seine Arbeit "Turnstile I & II" auf dem Server von "Stadiumweb" interessiert. Wisniewski ist ein hagerer junger Mann mit kahlgeschorenem Kopf, der beim Reden viel gestikuliert, hauptberuflich als Programmierer bei IBM arbeitet und ein Spezialist für die Programmiersprache Extensible Markup Language (XML) zu sein scheint, die er auch bei "Turnstile" einsetzt. Immer wieder kommt er auf seine Programmierkenntnisse zu sprechen, ein Statement, das ich in den nächsten Tagen in New York noch öfter zu hören bekommen werde.

"Turnstile" war eine Installation, die zur Hälfte in der New Yorker Silverstein Gallery, zur Hälfte im Internet zu sehen war. In der Gallerie war ein Drehkreuz aufgestellt, daß online mit einem Drehkreuz in der U-Bahnhaltestelle am Times Square verbunden war, und jedesmal ruckelte, wenn jemand die Schranke passierte. Nicht in für jedem nachvollziehbaren Zusammenhang stand der zweite Teil der "Installation" - ein Suchprogramm, das im Internet Material zu den Suchwörtern Liebe und Haß zusammensucht, und daraus Zufallsgedichte generiert. Die Arbeit mit den Drehkreuzen hat bei Wisniewski inzwischen die Erkenntnis reifen lassen, daß man via Internet im Grunde jedes technische Gerät mit jedem anderen verbinden kann. Was er für seine Ausstellung in der Postmasters Gallery, dem einsamen Medienkunst-Vorkämpfer in New York, im Sommer aneinander anschließen will, wollte er allerdings noch nicht verraten.

Daß Programmieren auch eine eigene Kunst sein kann, betont auch der nächste Gast des Abends: John F. Simon jr., der sich an der Theke räkeln. Ich besuche ihn am folgenden Tag in seinem Atelier, das sich in einem heruntergekommenen Art-Deco-Wolkenkratzer im Garment District befindet. Simon ist mit seinem Java-Applet "Every Icon" bekannt geworden, das automatisch jedes mögliche, schwarz-weiße Apple-Desktop-Icon generiert - was bei dem üblichen Raster von 32 mal 32 Kästchen nur wenige Milliarden Jahre dauert.

Das Programmieren von Ideen

Auch die meisten anderen Arbeiten von John F. Simon jr, die im Internet zu sehen sind (wie das witzige "Color Balance" und "Combinations", sind in Java programmiert. Als Netzkunst will Simon sie aber nicht einordnen, denn "bei vielen Netzkunstarbeiten, die ich gesehen habe, sind die Algorithmen und der Code nicht besonders hoch entwickelt. Ich finde, daß Netzkunst ein bißchen überschätzt wird im Verhältnis zur den Künstlern, die wirklich selbst programmieren. Sogar bei der Ars Electronica gibt es keine eigene Kategorie für Projekte, bei denen es um das Programmieren von Ideen geht."

Was daran liegen dürfte, daß es nur sehr wenige Künstler gibt, die tatsächlich selbst programmieren - und von denen scheint ein ganze Reihe in New York zu leben. Außer Simon und Wisniewski gehört neben Paul Garrin auch Andy Deck und Mark Napier zu diesen "Programmierkünstlern", deren neuere Arbeiten sich durch für Netzkunst-Verhältnisse relativ anspruchsvolle Programmierungen auszeichnen. Während es bei Deck vor allem Java ist, hat Napier für seine witzigen Arbeiten "WebShredder 1.0" und "The Digital Landfill" Programme in Perl geschrieben. Beide arbeiten zur Zeit an einem Gemeinschaftsprojekt mit dem Titel "Webjam".

Auch wenn es noch verfrüht erscheint, in diesem Zusammenhang von einer New York School der Programmierkünstler zu sprechen, ist auffallend, daß amerikanische Künstler viel Wert auf technische "Skills" und handwerkliche Perfektion legen. Das war in der Vergangenheit eher ein Manko eines Großteils der amerikanischen Netzkunst, die über Oberflächendesign nur in sehr seltenen Fällen hinauskam. Doch nun, wo einigen der europäischen Netzkünstler, die nur mit HTML zu arbeiten gelernt haben, die Luft auszugehen scheint, kommt den Amerikanern ihre Programmierkenntnisse beim kreativen Mißbrauch des Internets zu gute.

Für John F. Simon, der auch ein eigenes Malprogramm geschrieben hat, ist das Arbeiten mit Computersprachen eine logische Fortsetzung der Konzeptkunst:

"Es liegt in der Natur der Software, daß man einen Quellcode schreibt, und der wird dann von einem Computer ausgeführt. Man könnte die Ideen einiger Konzeptkünstler tatsächlich als Programm schreiben, und dann von einem Computer ausführen lassen. Die Kunstwerke würden dann einfach sich selbst ausführen, oder, einfacher gesagt: die Kunst tut, was sie sagt. So betrachte ich auch meine Applets."

Unter seinen eigenen Arbeiten betrachtet er lediglich - das inzwischen eingestellte - "Alter Stats", das aus Ping-Signalen eine Grafik generiert, als ein Stück echter Netzkunst. Alles andere - inklusive seiner Java-Applets - würden das Internet nur als Distributionsweg nutzen, nicht mit den genuinen Eigenschaften des Mediums arbeiten.

Den Distributionswegen des Internet auf der Spur

Ich folge in den nächsten Tagen in New York weiter den Distributionswegen, die mir das Internet vorgezeichnet hat, und lande dabei im Atelier von Peter Halley, in dem mehrere Assistenten an Gemälden arbeiten, die aussehen wie Netzwerk-Topgraphien, während der Meister selbst mit seinem Schweizer Galeristen verhandelt und im Interview auf Nachfrage bestätigt, daß er "essentially a painter of networks" wie dem Internet sei. Ein weiterer Besuch gilt den verdienstvollen Netzpionieren von "The Thing", wo man als Beitrag zur Netzaudio-Bewegung zur Zeit mit dem Gedanken spielt, die "Tech-Support"-Anrufe live im Internet zu übertragen. Im selben Gebäude, in dem sich die The Thing Headquarters befinden - einem riesigen Warehouse in Chelsea, dem neuen New Yorker Galerienviertel, ist auch das Antiquariat von Barbara Moore, die sich auf Bücher und Katalog von Konzeptkünstlern spezialisiert hat. Dort finde ich endlich die Kataloge zu den Ausstellungen "Information" und "Software", die beide Ende der 60er Jahre in New York stattfanden und bei denen zum ersten Mal Arbeiten gezeigt wurden, die als Netzkunst in einem engeren, technischen Sinne gelten können.

Robert Filliou, der "Erfinder" des "ewigen Netzwerks" ist mir dann auch noch untergekommen: bei der phantastischen Ausstellung "Premises" im Guggenheim Soho steht im Foyer sein transportabler "Werkzeugschuppen der permanenten Kreativität", der wahrscheinlich ein Hauptwerk der Netzkunst ist, wenn man auf eine engen, technischen Definition von Netzkunst verzichtet. Wenn man unter Netzkunst generell künstlerische Arbeiten zählt, die mit globaler Kommunikation und Interaktion zu tun haben, ist der "Werkzeugschuppen" ein besonders feines und visionäres Beispiel.

So schließt sich der Kreis, und der Artikel kommt zu einem guten Schluß. Apropos: einem anderen Mitglied des "ewigen Netzwerks" wird in New York nun eine Retrospektive gewidmet, die leider erst nach meiner Abreise eröffnet wurde: Ray Johnson, der Mail-Art-Pionier und Vater der New York School of Correspondance, hat seine erste Großausstellung im Whitney Museum, die genau vier Jahre nach seinem Selbstmord am 13. Januar 1995 eröffnet wurde...