Beyond Books

Jugendkultur und Literatur vor der Jahrtausendwende.

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Laut einem kulturpessimistischem Vorurteil sind Pop- und Jugendkultur mit dem Ende der Schriftkultur gleichzusetzen. Dass dem nicht so sein muss, zeigen Christoph Bieber, Eike Hebecker und Erik Meyer im folgenden Essay. Jenseits der Welt der gedruckten Bücher offenbart sich eine Fülle an jugendkultureller Sprachproduktion in Rap, Fanzines und Internet-Texten.

If you judge a book by the cover then you judge the look by the lover, I hope you will soon recover. Me, I go from one extreme to another.

ABC, The Look of Love (1982)

Auch die Jugendkultur ist von der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht verschont geblieben. Bereits die Bestimmung der potentiellen Protagonisten aufgrund ihres Alters ist ein prekäres Unterfangen, denn das biographische Stadium zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, das gemeinhin als Jugendphase bezeichnet wird, läßt sich nicht mehr durch die Orientierung an einer entsprechenden Normalbiographie eingrenzen. In dieser Perspektive umfaßt der Begriff der Jugend in der Gegenwartsgesellschaft sowohl pubertierende Teenager als auch postadoleszente Twentysomethings.

Die Karriere des Konzeptes "Jugendkultur" beginnt mit ihrer Entstehung aus dem Geist des Rock'n'Roll. Mit dem Beginn der Bildungs- und Wohlstandsexpansion in den 50er Jahren hatten viele Jugendliche in den westlichen Industriegesellschaften erstmals ein eigenes Budget sowie genug Zeit, dieses auch auszugeben. Diese Entwicklung korrespondiert mit ihrer Entdeckung als Zielgruppe für kulturindustrielle Angebote, die das Bestreben, "sich gut zu amüsieren" (Talcott Parsons), in Form von Filmen, Fernsehsendungen und anderen Artikeln bestens bedienen. Gleichzeitig manifestiert sich durch die Ablehnung bürgerlicher Normen und Verhaltensweisen eine oppositionelle Haltung, die nicht nur als destabilisierendes, sondern sogar gesellschaftsveränderndes Element gesehen werden kann. Das zentrale Medium der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten ist der Stil, der das Selbstverständnis der Akteure symbolisch zum Ausdruck bringt. Dieser Stil ensteht durch eine informelle Absprache über die Auswahl und Art der Aneignung von Angeboten der populären Kultur wie Mode und Musik, die so zu Insignien der jugendkulturellen Formationen werden. Solange dieser Code vom erwachsenen Establishment nicht geknackt wird, kann die "Bedeutung von Stil" nicht nur als Akt der temporären Abgrenzung von den Erwachsenen verstanden werden, sondern als "Herausforderung der Hegemonie", die zumindest die symbolische Strukturierung der Lebenswelt in Frage stellt (vgl. Hebdige 1979).

Literatur als Material und Medium spielt im Rahmen der kollektiven Freizeitgestaltung von jugendlichen Gleichaltrigen-Gruppen jedoch eine untergeordnete, bestenfalls begleitende Rolle. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte sein, daß ästhetisch anspruchsvolle fiktionale Texte, die gemeinhin als Literatur verstanden werden, im allgemeinen der Sphäre der sogenannten Hochkultur und damit der Welt der Erwachsenen zugeordnet werden, von der sich Jugendliche ja gerade abgrenzen wollen. Darüber hinaus dominiert in Bezug auf Literatur eine individuelle Rezeptionshaltung, die nur bedingt für kollektivierende kulturelle Praktiken anschlußfähig ist. So charakterisiert Cornnelia Rosebrock die literarische Lesekultur Jugendlicher folgendermaßen:

Auffällig ist der private, gleichsam 'anti-soziale' Charakter dieses Lesens: In betonter Abgrenzung von den Ansprüchen der Bildungsinstitutionen geschieht es häufig nachts oder in 'Restzeiten' des Alltag und ist oft komplementär zum Anforderungscharakter anderer Aktivitäten organisiert.

Rosebrock 1997, 242

Pulp Fiction

Eine auffällige Ausnahme stellen in diesem Zusammenhang vor allem literarische Gattungen dar, die ausdrücklich als kulturindustrielle Waren konzipiert sind. Dabei handelt es sich vornehmlich um Bücher aus dem Bereich der graphischen und phantastischen Literatur. Genres wie Horror, Fantasy oder Science Fiction erfüllen offensichtlich Bedingungen, die sie für eine Aneignung seitens Jugendlicher attraktiv machen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür dürfte sein, daß diese Bücher billig sind: sie sind häufig als Heft oder Taschenbuch erhältlich. Eine weitere wesentliche Gemeinsamkeit stellt das "Gesetz der Serie" dar. Ein entsprechendes Buch kommt selten allein, sondern reiht sicht zumindest in einen Zyklus ein, begründet aber am besten gleich eine Reihe von Veröffentlichungen, die tendenziell endlos ist1.

Die bedeutendste Eigenschaft dieser Texte ist somit ihre Unvollständigkeit, die sie aus der Perspektive der Literaturkritik in der Regel defizitär erscheinen läßt:

Sie müssen Leerstelllen enthalten, Unschlüssigkeiten und Widersprüche aufweisen, die es Fans gestatten und sie dazu reizen, produktiv zu werden. Insofern handelt es sich um mangelhafte Texte. Sie werden ihrer kulturellen Funktion als unterhaltsame Bedeutungsträger erst gerecht, wenn sie durch ihre Fans bearbeitet und in Gang gebracht werden.

Fiske 1997, 63

Ausgehend von diesem Ansatzpunkt verfassen Fans Leserbriefe an die Redaktionen entsprechender Reihen oder gleich "ganze Romane, um die syntagmatischen Lücken in der Orginalerzählung zu füllen" (ebd., 62). Besondere Bedeutung erlangen diese Praktiken dort, wo sie sich entweder in eigenen Publikationen der jugendlichen Leser beziehungsweise Autoren manifestieren oder seitens derer, die entsprechende Reihen edieren, Beachtung finden. So sind etwa Leserkontaktseiten integraler Bestandteil vieler Heftromane, und die auf den Fortgang der Handlung bezogenen Vorschläge finden sogar teilweise Berücksichtigung. Aus der Perspektive textueller Produktivität soll daher hier das Verhältnis von Jugendkultur und Literatur allgemeiner als das Verhältnis von jugendkulturellen Praktiken zu Sprache, Schrift und Text auch außerhalb des Mediums "Buch" gefaßt und an Hand aktueller Phänomene dargestellt werden.

Word Up!

Ein Phänomen, das aus dieser Perspektive besonders relevant erscheint, ist "HipHop"2. In diesem Kontext entsteht eine Ausdrucksform, die eine deutliche Affinität zu literarischen Gattungen aufweist. Dabei handelt es sich um "Rap" als virtuosem und in Reimen vorgetragenen Sprechgesang, der zunächst zu von Diskjockeys (DJs) zusammengestellten Instrumentalpassagen von Musik-Titeln vorgetragen wird. Die Mitglieder der Formation "Grandmaster Flash & The Furious Five" sind dabei die ersten, denen es gelingt, die ästhetische Komplexität der musikalischen Gestaltung auf der sprachlichen Ebene nachzuvollziehen. Ihr Titel The Message (1982) reflektiert in bis dahin einzigartiger Weise die soziale Destruktivität in den "inner cities" der USA.

Mit der Orientierung an einer narrativen Song-Struktur geht auch eine immense Steigerung der Textmengen einher, die in den einschlägigen Titeln seitdem prozessiert werden und deren Bedeutung auch daran erkennbar ist, daß diese Texte häufig auf dem Innencover der Tonträger abgedruckt und sogar zum Gegenstand von Anthologien geworden sind (vgl. z.B. Stanley 1992). Dabei finden im Rap eine Reihe von rhetorischen Stilmitteln Verwendung, die auch für die afro-amerikanische Literatur charakteristisch sind und mit Henry Louis Gates als Versuch verstanden werden können, "der sogenannten 'black experience' (...) neue narrative Repräsentationsräume zu eröffnen" (Gates 1993, 187). Die Popularität dieser Praktiken hat auch zu deren Aneignung durch Jugendliche in vielen anderen Ländern geführt und zu einer kreativen Auseinandersetzung mit sprachlichen Mitteln im allgemeinen sowie einer Renaissance des Reimens im besonderen beigetragen, wie auch die prosperierende deutschsprachige HipHop-Szene belegt3.

In diesem Kontext stehen desweiteren die Wortgefechte der sogenannten "Slam Poetry", bei denen sich die Dichter dem Publikum in Form von Wettbewerben stellen, die eher einem Rap-Konzert als einer Lesung ähneln und dementsprechend gelegentlich auch in Szene-Clubs stattfinden sowie vom Auftritt eines DJs begleitet werden. Darüber hinaus hat die Ästhetik des Rap Eingang in die Sprache literarischer Darstellungen gefunden. Diese Entwicklung dürfte in Deutschland am deutlichsten durch Feridun Zaimoglu verkörpert werden, der in seinem Buch Kanak Sprak (Zaimoglu 1998) dokumentarisches Material aus dem Millieu von Migranten und deren bereits in Deutschland geborenen Nachfahren dramatisiert und stilisiert präsentiert.

Words (don't) come easy

Der Bedeutungszuwachs sprachlicher Artikulation wird jedoch seit Ende der 80er Jahre durch die Entstehung von "Techno" konterkariert. Dabei handelt es sich um ein pop-musikalisches Genre, für das gerade der weitgehende Verzicht auf die Verwendung vokaler Elemente charakteristisch ist. Die Popularität der kollektiven Rezeption von Techno im Rahmen der sogenannten Raves hat zu dem Mißverständnis geführt, das gesamte jugendkulturelle Phänomen als "sprachlos" zu charakterisieren. Im Gegensatz dazu läßt sich jedoch zeigen, daß die "Sprachlosigkeit" der Musik durch die Bedeutung anderer medialer Gattungen für die kulturelle Praxis von Techno mehr als kompensiert wird. Die Bedeutung von Medien in der Techno-Szene resultiert dabei sowohl aus dem Charakter der Kollektivität, der durch Multilokalität und Mobilität geprägt ist, als auch aus der Fokussierung auf die zentralen Events.

Im Mittelpunkt dieser Entwicklung stehen die auch für viele andere jugendkulturelle Praktiken bedeutsamen sogenannten "Fanzines". Dabei handelt es sich um Magazine, die von Fans für Fans gemacht werden und in der Regel funktional auf den Vollzug der jeweils konstitutiven kulturellen Praktiken bezogen sind (vgl. Neumann 1997). Diese haben durch die Möglichkeiten des digitalen Desktop Publishing in den letzten Jahren eine beachtliche Karriere von kopierten Heften hin zu professionellen Printmedien gemacht. Schließlich haben inzwischen die Möglichkeiten computervermittelter Kommunikation selbst die szeneeigenen Druckerzeugnisse in die Defensive gebracht, auch Raver erhalten ihre Informationen inzwischen durch entsprechende Angebote im Internet. In diesem Zusammenhang sind ebenfalls Einflüsse auf literarische Ausdrucksformen zu konstatieren. So hat der bekennende Raver Rainald Goetz sowohl die Sprachlosigkeit von Techno in seinen Arbeiten durch dichte Beschreibungen der Szene zum Sprechen gebracht (vgl. Goetz 1998), als auch die Möglichkeiten computervermittelter Kommunikation in seinem inzwischen abgeschlossenen Online-Tagebuch Abfall für Alle angeeignet4.

Fun Fiction

Vor allem im Anschluß an die Techno- und Partykultur hat sich in den letzten Jahren eine Verjüngung der Autorenschaft ergeben, die Jugendkultur quasi aus einer authentischen Innenperspektive literarisch aufarbeitet: Christian Kracht (im Erscheinungsjahr, 1995, 29 Jahre alt) mit dem Party-Klassiker Faserland, Alexa Hennig von Lange (1997, 24) mit dem Partywochenende aus geteilter Pärchenperspektive in Relax, Benjamin von Stuckrad-Barre (1998, 23) mit Soloalbum oder Benjamin Lebert (1999, 17) mit Crazy stellen nur einige Beispiele dar5. Dies scheint vor allem eine Reaktion auf das strukturelle Dilemma der Jugendliteratur darzustellen: Die Tatsache, selbst einmal jung gewesen zu sein, ist keine Garantie dafür, später die Jugend verstehen zu können. Der Abstand zur eigenen Jugend führt zu einer selektiven Wahrnehmung aktueller jugendkultureller Phänomene und einem festgefügten Bild "der Jugend" (vgl. Gansel 1997, 16 u. 34f.), das wahrscheinlich nur in den Köpfen von Autoren und Lektoren existiert.

Vor allem für die alternden Protagonisten einer "problemorientierten Jugendliteratur" (Gansel) entsteht damit eine essentielle Glaubwürdigkeitslücke, die sie in der Regel mit der Historisierung ihrer Erzählungen zu kompensieren suchen. Bei einem beschleunigten jugendkulturellen Wandel in einer dynamischen Gesellschaft kann ein solcher Bruch im gegenseitigen Verständnis jedoch nicht mehr überspielt werden. Dies führt zwangsläufig zu einer personellen Öffnung und der gegenwärtigen Form von "dokumentarischer Jugendliteratur", die durch junge Autoren getragen wird, deren Qualifikation nicht literarischer Natur ist, sondern auf dem Alter, dem Besitz einer Plattensammlung sowie ausreichender Partypraxis zu beruhen scheint. Folgerichtig wird von ihnen auch keine Jugendliteratur im eigentlichen Sinn geschrieben, aber mit ihnen vermutlich die Fortsetzung der Jugendliteratur mit anderen Mitteln betrieben.

Vom Buch zum Bildschirm

Angesichts des Siegeszuges von Computer, Internet und elektronischem Publizieren wurde schon mehrfach das Ende des Buches prophezeit. Auch wenn Norbert Bolz das Buch als "Engpaß menschlicher Kommunikation" (Bolz 1994, 118) bezeichnet, setzt er das "Ende der Gutenberg-Galaxis" (1993) jedoch nicht mit dem "Verlust der Sprachkultur" (Sanders 1998/94) gleich. Während Sanders pessimistisch den Bruch der kommenden Generationen mit den Kulturtechniken des Lesens und Schreibens bedauert, ist für Bolz der Wandel der Kommunikationsverhältnisse die Konsequenz der medialen Durchdringung unserer Gesellschaft, die zur Ablösung des Buches als gesellschaftlichem Leitmedium führt. Wie zur Bestätigung konstatierte im Frühjahr 1999 die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft:

"Früher konnte man Jugendliche nicht dazu bewegen, einmal im Jahr eine Karte an die Tante zu schicken. Heute schreiben sie am Computer wie die Weltmeister" (Freyermuth 1999).

Im Zuge der globalen Computerisierung und insbesondere der Ausbreitung von Online-Kommunikation findet Jugendliteratur nun ihre Fortsetzung mit anderen Medien. Ein präziserer Blick auf das Internet zeigt, daß nicht nur dessen Inhalte, sondern auch die Grundstrukturen dieses "Netzwerknetzwerks" in hohem Maße textorientiert begriffen werden können. Online-Kommunikation gestaltet sich derzeit als ein Konglomerat verschiedener Kommunikationsmodi, die in einem mehrere mediale Ebenen (bisher Text, Ton, Bild) umfassenden Kommunikationsraum ablaufen, der aus der Verbindung einzelner "kommunikativer Artefakte" wie HTML-Seiten, Newsgroups oder Online-Archiven entsteht. Die stets vorhandene Möglichkeit der direkten Verbindung von Dokumenten durch Querverweise ("Hyperlinks") hebt die Isolation einzelner Kommunikationsbeiträge auf - so wird eine neue mediale Erscheinungsform erzeugt, die mit dem Begriff des Hypertextes umschrieben werden kann. Die Möglichkeit, auf eine andere Position im Datenraum zu verweisen, löst ein begrenztes Nebeneinander kommunikativer Artefakte auf und führt zu einem komplexen Miteinander im hypertextuellen Datenuniversum. Dabei verwischen zusehends die Grenzen zwischen Autor und Leser (vgl. Snyder 1998, 126).

Dieses aus literaturwissenschaftlicher Perspektive noch selten untersuchte Ordnungsprinzip des Hypertextes (vgl. Helbig 1998, 81) läßt sich als Fortführung des Konzeptes der Intertextualität mit den Mitteln digitaler Medien begreifen. Spätestens seit dem auf Julia Kristeva zurückgehenden "weitgefaßten Intertextualitätsbegriff" gelten Texte als Bestandteil eines "Mosaiks" (vgl. Kristeva 1969, 146) 6, das auch auf die "Texthaftigkeit" anderer Medien hinweist: textuelle Strukturen finden sich auch in Musik, Film, Video und Fernsehen. Die Vermutung einer Verbindung von Texten, Gemälden oder Musikstücken kann als Vorläufer für Verbindungen zwischen literarischen Texten und audiovisuellen Textformen verstanden werden (vgl. Genette 1993). In dieses Kontinuum ist das Modell des Hypertextes als zeitgemäße, den medialen Wandel berücksichtigende Entwicklungsstufe einzugliedern.

Gerade diese aktuellen "medialen Texte" weisen nun einen ungleich stärkeren Bezug zu jugendkulturellen Stilen, Szenen und Identitäten auf. An diesem Punkt stellt ein Umkehrschluß die Verbindung textbezogener Medien zur Jugendkultur her - nahezu alle medialen Erzeugnisse, die in jugendkulturellen Zusammenhängen eine Rolle spielen, sind hochgradig von Verweisen auf andere Texte und Textsorten durchsetzt, beziehen dabei in immer stärkeren Maß das Internet ein und konstruieren so eine Art "jugendkulturellen Hypertext". Die Verweise finden ihre Grenze aber weder in den Themen, die aufgriffen werden, noch in den Medien, die dazu verwendet werden. Die Publikation von kulturellen Produkten findet gegenwärtig in der Regel in einem Medienverbund statt, d.h. derselbe Inhalt wird analog zu den Präferenzen und Fertigkeiten der Nutzer in verschiedenen Medienformaten aufbereitet und so über eine Vielzahl von Kanälen verbreitet: Buch zum Film, Zeitschrift zur TV-Serie, Comic zum Videospiel und Homepages zu fast allem. So schreibt beispielsweise der PC-Spielehersteller Eidos in einer Pressemitteilung:

Deutschland liest - nach wie vor. Der Computer hat den Konsum von Gedrucktem in den Privathaushalten nicht verdrängt, nur der Lesestoff scheint sich zu erweitern: Lösungsbücher für PC-Spiele sind bei Eidos Interactive [...] der neue Renner. Allein das Lösungsbuch zu "Tomb Raider III - Adventures of Lara Croft" wurde seit seinem Erscheinen im letzten Herbst 450.000 mal verkauft und reiht sich damit in die Reihe der Top-Bestseller der Bundesrepublik ein, die im Schnitt einen Absatz von 300.000 bis 800.000 Exemplaren haben7.

Die neue "Schreibwut" Jugendlicher an Computertastaturen hat den "Aufstieg" des Computerbildschirms zum neuen Lese-Ort befördert. Dabei ist grundlegend eine Unterscheidung zwischen Online- und Offline-Nutzung digitaler Medien einzuführen: auf der einen Seite sind verschiedene Online-Kommunikationsmodi wie e-mail, chat oder surfen im WWW zu nennen, auf der anderen stehen reichweitenstarke Offline-Nutzungen in Form von CD-ROM-Anwendungen, Computerspielen und Videospiel-Konsolen8.

Für eine grobe Systematisierung neuer Lese-Orte im Internet erscheint zunächst eine Differenzierung entlang des "Gebrauchskontextes" von Online-Textsorten hilfreich, wenngleich eine trennscharfe Untergliederung aufgrund der zahlreichen medialen Mischformen der digitalen Kommunikationsumgebung ex ante ausgeschlossen werden muß9. In eher privaten Nutzungszusammenhängen gelten die elektronische Post als zeitgemäße Aktualisierung traditionellen Briefverkehrs sowie der Aufenthalt in chat-Umgebungen als bevorzugten Kommunikationsformen (vgl. Opaschowski 1999). Diese neuen Varianten lese- und schreibintensiver Alltagskommunikation können zwar nicht unmittelbar als Spielarten einer jugendspezifischen "Online-Literatur" gefaßt werden, allerdings dienen sie der Erprobung und Festigung neuer Kommunikationstechniken und tragen massiv zur "Mediensozialisation" bei. Ganz ähnliche Funktionen scheinen auch die zahlreichen privaten Homepages zu übernehmen, die einerseits der persönlichen Inszenierung und Außendarstellung dienen, gleichzeitig jedoch auch eine "mediale Selbstvergewisserung" ermöglichen10.

Dem aus dem privaten Kontext heraus erzeugten Kommunikationsbeiträgen stehen explizit für den öffentlichen Gebrauch bestimmte Texte gegenüber, für die sich bereits einschlägige Online-Publikationsorte etabliert haben. Aus der spezifischen Beschaffenheit des Internet als hypertextueller Medienumgebung folgt, daß die Teilhabe an vielen Kommunikationsprozessen eine gewisses Maß an Eigenaktivität erfordert: um Mitmachen zu können, ist das Lesen fremder Beiträge ebenso notwendig wie das Schreiben eigener Texte. Dies wird besonders deutlich anhand jugendorientierter Online-Zeitungen und -Magazine, die längst nicht mehr auf eine Existenz als "top-down"-Medium fixiert sind und oftmals zur Mitarbeit an der Herstellung eines "guten" Produktes aufrufen. Das thematische Spektrum dieser elektronischen Periodika ist weit gefächert und reicht von thematisch oder regional organisierten "Online-Zeitungen" (www.sowieso.de; www.dot.ter.de), über hochspezialisierte und szenenahe "Fanzines" (www.de-bug.de; www.splashpages.de; www.nexo.de/avatar) bis zu explizit literarischen Zeitschriften (www.cyberteens.com).

Diese literarischen Knotenpunkte im Internet weisen bereits erste Merkmale einer Ausdifferenzierung nach unterschiedlichen Genres auf: neben kurzen Prosatexten ist eine überproportionale Präsenz lyrischer Texte festzustellen, zudem erfreut sich die Rezension als Online-Textsorte großer Beliebtheit. In jugendkulturellen Zusammenhängen eher selten zu finden sind komplexe Hypertextstrukturen mit kollektiver Autorenschaft ("Hyperfiction") - dies könnte ein Hinweis auf eine im Entstehen begriffene "hohe" Form von Online-Literatur verstanden werden (vgl. www.dumontverlag.de/null).

Next Level

In der Grauzone zwischen Offline- und Online-Computernutzung haben sich Video- und Computerspiele längst als fester Bestandteil jugendlichen Medienlebens etabliert11. In den Kontext der Überlegungen zu Jugendkultur und Literatur geraten Computerspiele durch die Annahme, daß dabei in immer stärkerem Maße narrative Strukturen verwendet werden, um komplexe Spielhandlungen zu realisieren und die interaktiven Potentiale digitaler Medienumgebungen auszunutzen. Kein Computerspiel kommt heute mehr ohne Held respektive Heldin aus, ebensowenig kann auf eine möglichst attraktive Rahmenhandlung verzichtet werden und stets weist die Abfolge der einzelnen Spielstufen ("Level") und sogar deren interner Aufbau (allmähliche Steigerung des Schwierigkeitsgrades bis zum "Endgegner") eine ausgeklügelte Dramaturgie auf.

Bei der Präsentation von Texten im World Wide Web und anderen Bereichen des Internet kommt zum Schreiben in phonetischer Schrift die Aufbereitung in einer entsprechenden Programmiersprache (Code) wie etwa HTML (Hypertext Markup Language) hinzu, die Sprachelemente zum Aufbau von Hypertext-Dokumenten definiert. Angesichts der beschriebenen Optionen von Hypertext, verlangt die "Übersetzung" eines zuvor linear konzipierten Textes in einen netzkompatiblen Schriftmodus eine eigene Virtuosität und Literarizität, die die Strukturen für ein alternierendes, abschweifendes, intertextuelles (externe Links) oder intratextuelles (interne Links) Lesen anlegt, das bisher vor allem den Gattungen der wissenschaftlichen Arbeit und dem Lexikon mit ihren Verweistechniken vorbehalten war.

In ähnlicher Weise läßt sich auch das Schreiben von Computerprogrammen charakterisieren, die keinen geschriebenen Text oder literarische Qualitäten wie Erzählung, Dramaturgie und mit Persönlichkeit ausgestattete Charaktere als Identifikationsangebot (wie z.B. in Videospielen) mehr repräsentieren, sondern ihre Literarizität im Vorgang des Programmierens selbst entwickeln.

Wenn man nämlich BASIC als sehr persönliche Geheimsprache betrachtet, ist sie sogar als ausgesprochen "literarische", ja poetische Computersprache zu verstehen, die nicht ausschließlich an der schnellstmöglichen Erreichung eines Ziels, sondern auch an Entdeckungen und sogar Retardierungen auf dem Weg dorthin interessiert ist. BASIC verlangt und fordert einen gehörigen Anteil an Stil. (Seeßlen/Rost 1984, 216)

Wie bei allen Phänomenen, die letztendlich als jugendkulturelle Erscheinungen qualifiziert werden können, steht also auch hier die Stilisierung als ästhetische Überhöhung in Übereinstimmung mit den Dazugehörigen und in Abgrenzung zu Außenstehenden im Mittelpunkt der kulturellen Praxis. Die Fähigkeit, im Modus binärer oder hexadezimaler Codes der Maschinen- und Programmiersprachen lesen, schreiben und denken zu können, avanciert dabei zum hochgradig exklusiven Kriterium der Stilisierung.

Schrift und Literatur mit dem Buch als Leitmedium sind in einer multimedialen Praxis von Jugendkulturen aufgegangen. Gebrauch und Funktion haben sich im Vergleich zur ursprünglichen "Dreifaltigkeit" von Schrift-Literatur-Buch jedoch gewandelt und sind im Medienverbund verstärkter Konkurrenz ausgesetzt, denn auch andere Artefakte werden in ähnlicher Weise wie Literatur rezipiert. In der Diskussion um das Verhältnis von Jugendkultur und Literatur erscheint daher eine Öffnung hin zu einem "post-literaten" Literaturbegriff notwendig.

Christoph Bieber, Eike Hebecker und Erik Meyer sind Mitherausgeber des Kursbuch JugendKultur und Mitglieder der AG Sozialwissenschaftliche Politik-, Kultur- und Kommunikationsforschung.