Interface Design: Die Kunst des 21. Jahrhunderts?

Steven Johnsons Kulturkritik der Schnittstelle

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Die gotische Kathedrale machte dem mittelalterlichen Publikum die Unendlichkeit vorstellbar. Das moderne Interface tut nichts anderes - so Steven Johnson in 'Interface Culture', einer Kulturkritik der Schnittstelle, die soeben auf deutsch erschienen ist.

Diese und diverse andere Analogien durchziehen Johnsons Arbeit, die detailliert die Geschichte des Interface nachzeichnet, ohne dabei ihre weiteren kulturellen Folgen aus den Augen zu verlieren. Die Textverarbeitung etwa habe unsere Art zu schreiben und zu denken grundlegend verändert, während eine jüngere Innovation wie der intelligente Agent die zunehmende Verschränkung von individuellen Bedürfnissen und Marketing im Internet verkörpert.

Die aktuelle Form der Schnittstelle, die für uns längst zum selbstverständlichen Werkzeug und Medium geworden ist, begann mit einer Präsentation des Amerikaners Doug Engelbart im Jahr 1968. Engelbart stellte ein intuitives Interface vor, das anstelle der vorher üblichen Befehlszeilen mit einer grafischen Oberfläche arbeitete und bereits mit einer Maus aufwartete. Es dauerte Jahrzehnte, bis diese Form des Interfaces in den Labors von Xerox erforscht und durch die Rechner von Apple popularisiert worden war, um schließlich unter dem Namen 'Windows' zum Allgemeingut zu werden.

Die visuelle Metapher des Schreibtischs versetzt den Benutzer in die paradoxe Situation, seinen Computer scheinbar direkt zu manipulieren, obwohl mit dem Schreibtisch in Wirklichkeit eine zusätzliche Ebene der Vermittlung zwischen Mensch und Maschinensprache etabliert wurde. Mit dem Schreibtisch, der das Übereinanderstapeln von Dokumenten und Fenstern ermöglicht, eröffnet sich die Welt der Bits und Bytes als organisierter Datenraum.

Seit dieser Datenraum vom heimischen PC in die Weite des Internet ausgedehnt worden ist, erfüllt Interface Design immer dringender auch die Aufgabe, unwichtige Informationen zu filtern. Interface Design wird nicht nur in den Funktionen von Browsern oder der Organisation von Websites wirksam, sondern erweitert sich golemhaft zu Agenten, die dem Menschen nicht nur Tätigkeiten im Netz abnehmen, sondern seine Vorlieben erforschen. Über die kulturellen Feedbackprozesse der Spiegelung und Antizipation von Benutzerverhalten werden in Zukunft vermutlich merkwürdige Prozesse in Gang gesetzt werden, in deren Verlauf ein für alle mal die "manichäischen Unterschiede" zwischen Mainstream und Underground aufgehoben werden. Spätestens hier, so Johnson, wird der weitreichende Einfluss von Interfaces auf unser Leben deutlich.

Für Johnson übernimmt die digitale Schnittstelle in dieser Situation die Funktion des Romans im 19. Jahrhundert, der die chaotischen Umbrüche der industrialisierten Gesellschaft zu einem verständlichen Bild synthetisierte - und wird so zur veritablen Kunstform des 21. Jahrhunderts. (Das verwundert nicht weiter, denn Johnson schloss sein Studium mit einer Arbeit über Charles Dickens ab.)

Das Chaos des Informationsraums muss also analog zur literarischen Avantgarde mit neuen, fürs erste gar desorientierenden Formen digitaler Umgebungen beantwortet werden, fordert Johnson. Den selbstreferentiellen Arbeiten der Net.Art Avantgardisten, die eben auf dem Weg ins Museum sind, käme damit wohl die Funktion zu, dem Interface Design radikal neue Wege zu eröffnen. Damit liegt Johnson wohl nicht falsch.

Mit einem informierten Blick in die Vergangenheit bedauert Johnson umgekehrt, dass neue Plug-Ins und die zunehmende Entwicklung in Richtung TV die Bedeutung des Hyperlinks als assoziatives und synthetisches Mittel der Navigation immer weiter in den Hintergrund treten lassen. Abgesehen von seiner dichten Historie der Schnittstelle weitet 'Interface Culture' damit den Blick auf die essentielle Frage, wie unsere Kultur mit und nach dem Interface aussehen wird.

Steven Johnson: Interface Culture; Klett-Cotta. DM 39,80