Europa: (ver)fassungslos?

Jürgen Habermas plädiert für eine europäische Verfassung

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Jürgen Habermas, Chefdenker einer debattierenden Öffentlichkeit und vom Kritiker des Spätkapitalismus zum Verfassungspatrioten gereifter Soziologe, fragt diesmal, warum Europa eine Verfassung braucht. Die Antwort beinhaltet bereits der Untertitel der achten "Hamburg Lecture" vom 26.06. 2001: "Nur als politisches Gemeinwesen kann der Kontinent seine in Gefahr geratene Kultur- und Lebensform verteidigen." Es geht also um nichts weniger als eine transnationale Identitätsform, die eine europäische Bürgergesellschaft, eine europaweite politische Öffentlichkeit und eine von allen EU-Bürgern geteilte politische Kultur voraussetze. Habermas, der mit der Losung des Verfassungspatriotismus die Rationalität des Verfassungsdiskurses als politisch-emotionale Bindungsmasse von Nationalstaaten anempfahl, formuliert das nun auch für die europäische Ebene.

Anderenfalls drohe die Einverleibung durch das "Weltwirtschaftsregime", das Menschen in Unternehmer verwandele, Gleichheit demontiere, den Staat zum Dienstleistungsunternehmen für Kunden umfunktioniere und Politik nur noch als Autoadministration des Bestehenden verstehe. Der Neoliberalismus als dunkler Schatten der Globalisierung darf sich nach Habermas nicht über das normative Selbstverständnis der Europäer legen. So ist dieser Gegner also schnell bezeichnet. Aber ob das Remedium einer politisierten Europaöffentlichkeit auch ins Werk zu setzen wäre, leuchtet vor allem einem Politikverständnis ein, das das "Europa der Französischen Revolution" mit dem "ideologischen Wettbewerb zwischen politischen Parteien" hochhält.

Auch jenseits der geläufigen Kritik an einer Parteiendemokratie, die den politischen Diskurs als selbstreferentielles Machtspiel beeinträchtigt, regen sich Zweifel an der politischen Lebensform "Europa". Habermas sieht eine postnationale Demokratie, die auf "gegenseitiger Anerkennung der Differenzen zwischen stolzen Nationalkulturen" beruht. Selbst wenn die "stolzen Nationalkulturen" von Habermas mit moderat ironischem Unterton formuliert sein mögen, stört an dieser Vision ihr pastoraler, fast weltenthobener Klang jenseits der brisanten Konfliktlinien. An Stelle der gegenseitigen Anerkennung von Differenzen ist längst ein wechselseitig einvernehmliches Desinteresse getreten. Überdies werden die heterogenen Kulturen nicht nur auf dem Unterhaltungssektor von Medienindustrien inzwischen global gleichgeschaltet - mit der Folge, dass nationale Besonderheiten auch der politischen Kultur immer weiter einschrumpfen.

Aber auch die relative Homogenität europäischer Konstitutionen in ihrem Bekenntnis zu Menschenwürde und Bürgerrechten vermittelt wenig von "einer über Jahrhunderte zurückreichenden, attraktiv erneuerten Kultur", die Habermas so angelegen ist. Gerade der von Habermas hervorgehobene Nato-Kosovo-Einsatz, der auf Seiten der kontinentalen Staaten die Konturen eines künftigen Weltbürgerrechts erkennen ließe, legitimierte sich jenseits einer Verfassung. Zudem wurde hier deutlich, dass das Verfassungen übergreifende Menschenwürdeprinzip von seinen Sachwaltern je nach Opportunität unterschiedlich gehandhabt wird. Menschenrechtsverletzungen in Afrika, von Chinas himmlischem Frieden bis zu Russlands Tschetschenien-Krieg ganz zu schweigen, müssen Nato-Korrektive nicht befürchten - ob nun mit oder ohne Verfassung.

Freilich ist Habermas zuzugeben, dass die "blasse Abstraktion" von Verwaltung und Expertokratie nicht zur Begründung einer politischen Kultur Europas ausreicht. Aber die politische Kultur und gesamteuropäischen Lebensformen sind selbst blass bis anämisch geworden, weil die Ideale etwa der französischen Revolution und ihrer gemäßigten Fassungen in den Konstitutionen Europas längst nicht mehr ausreichen, den politisch flüchtigen Bürger zu mobilisieren. Der Attraktivitätsverlust einer partizipatorischen Öffentlichkeit, eines gesamteuropäischen Debattierzirkels, dem zudem die politischen Mittel zur Seite gestellt würden, die Interessen des Gemeinwesens auch effektiv zu verwirklichen, kann nicht allein an der Unlust von Intellektuellen und Politikern festgemacht werden, die die europäische Bevölkerung noch nicht für die transnationale Bürgergesellschaft reif gemacht hätten.

Die politische Motivationsschwächen der Gegenwart resultieren aus dem grassierenden Unglauben an eine politische Öffentlichkeit, die noch den Enthusiasmus besitzt, die mehr oder minder dräuenden Probleme der Gegenwart aus dem Geist einer lebendigen Tradition diskursiv entscheiden zu können. Der klassische Konstitutionalismus hatte es weiland erheblich einfacher, die Machtfrage im Antagonismus von Feudalismus, Klerus und Bürgertum zu formulieren. Auch diese Diskurse waren freilich keine reinen Selbstreflektionen einer Vernunft, auch wenn sie als solche gefeiert oder pervertiert wurden, sondern zuvörderst argumentative Vehikel, denen Dezisionen oder Waffen vorausgingen oder folgten. Die gegenwärtigen Problemlagen politischer Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen sind ungleich komplexer, weil sie sich nicht mehr allein auf die vormaligen Machtbalancen innerhalb von Gesellschaften und zwischen Staaten bescheiden können. Die Position des Menschen jenseits seiner Selbstvergewisserung als "zoon politikon" ist in unabsehbare Bewegung geraten. Gentechnologie, digitale Vernetzung und menschliche Autoritätseinbußen gegenüber Medien und Computern scheinen eine Resistenz gegenüber ihrer klassischen Politisierung in einer freien und egalitären Bürgergesellschaft zu besitzen.

Die - schlecht so bezeichnete - Generation @ erlebt eine vernetzte Öffentlichkeit anders als eine komplizierten Regeln folgende Diskussion repräsentierter Interessen. Direkt, instantan, theorie- und schicksalslos will sich diese Öffentlichkeit entfalten. Ihre Ideologieverluste sind nicht so sehr Zeichen einer bürgerlichen Emanzipation über radikale Gesellschaftsentwürfe, sondern einer Müdigkeit gegenüber dem klassischen politischen Diskurs selbst. Die vernetzte postbürgerliche Öffentlichkeit begreift sich nicht als Ausdruck einer Demokratie, die sich im Rahmen einer Verfassung reflektiert, sondern jenseits des Kanons politischer Regeln als heterogene Kommunikationsgesellschaft, die wohl kaum zu einer politischen Kultur klassischer Bürgergesellschaften zurückkehren wird. Das Öffentlichkeitsmodell von Nationalverfassungen, das nunmehr von Habermas auf eine zu schöpfende Verfassung Europas bezogen wird, leidet weniger an fehlendem "Volk der Europäer", sondern an der Antiquiertheit des zu Grunde liegenden Menschenbilds und Politikmodells.

Der Citoyen hat seine Pflicht und Schuldigkeit in politischen Milieus geleistet, die sich in (geschriebenen) Verfassungen ihre erkämpften Rechte stolz garantierten, im säkularen Kanon dieser Verfassungstexte ausreichend Identitätsstoff für die gesellschaftliche Selbstreproduktion fanden und vor allem: vom Elan ihres historischen Kampfs noch zehren konnten. Das alles ist längst spannungslos geworden. Schon der Verfassungspatriotismus wollte nicht so recht funktionieren. Mehr als eine Abgrenzungsidentität gegen faschistoide Bedrohungen gesellschaftlichen Friedens war offensichtlich daraus nicht zu gewinnen, wie nun Habermas auch - beispielsschwach - die Tatsache, dass die Todesstrafe andernorts noch praktiziert wird, als spezifischen Zug unseres eigenen normativen Bewusstseins benennt. Viel mehr spendet auch nicht der nimmermüde proklamierte "egalitäre und individualistische Universalismus", der eben alteuropäischer Menschenrechtsbestand ist - deswegen fraglos nicht gering zu achten, aber als politisch-emotionale Bindungsmasse kaum ausreichend, eine Öffentlichkeit zu mobilisieren.

Zahlreiche Provokationen des Politischen sind globaler Natur, nicht allein weil der böse Neoliberalismus auch das zusammenschweißt, was nicht zusammengehört, sondern weil die menschliche Verfassung selbst in unabsehbare Bewegung geraten ist. Gentechnologie ist kein nationalstaatlich oder europäisches Phänomen, sondern die Herausforderung des Menschenbilds selbst. Der politische Apparat, auch wenn er gesamteuropäisch mit dieser Fragestellung beschwert würde, ist auf diese Provokation nicht vorbereitet und vermutlich auch nicht in der Lage, sie zu lösen. Auch eine europäische Verfassung, die nicht mehr leisten kann als die Fixierung der wohlbekannten Formelkataloge zwischen Menschenwürde und Grundrechten, wäre keine substanzielle Antwort auf solche Provokationen der menschlichen Verfassung.

So mag eine europäische Politik in guter Tradition ihres Selbstverständnisses weiterhin ihre Allzuständigkeit reklamieren. Aber ist die Entscheidungsprärogative des Politischen nicht längst eine Chimäre, die hinter den gesellschaftlichen Entwicklungen und ihren wirklichen Entscheidungsträgern hinterherhinkt? Das von Habermas beklagte Phänomen einer Politik, "die sich selbst abwickelt", erklärt sich nicht aus der Schwäche von Politikern oder fehlenden Verfassungen, schon gar nicht aus fehlenden Visionen, die immer schon so wohlfeil waren, sodass sie an jeder Ecke des politischen Diskurses aufleuchteten. Der politische Diskurs in seiner Selbstabsicherung durch Verfassungen hat vornehmlich seine Funktion als Machtzügelungs- wie Ausgleichsinstrument erwiesen.

Mit den von einer unheimlichen Wissenschaft vom Menschen - und vielleicht auch gegen den Menschen - entwickelten Ausblicken wird dieser Politikbegriff eines restriktiven Machtgebrauchs völlig überlastet. Paradigmatisch gilt, dass diese Machtfrage jenseits von Völkern und Parteien nicht mehr in Kabinetten oder Parlamenten entschieden, sondern von Potenzen geleitet wird, die man im Labor verorten mag, die allein deshalb aber noch lange nicht politikfähig sind, wenn man sie denn überhaupt bezeichnen kann. Die von Habermas ermittelte europäische Errungenschaft, "eine reflexive Einstellungen gegenüber eigenen Überlieferungen einzunehmen", reicht als Rationalitätsmodell gegenüber fundamentalen Traditionsbrüchen wie Diskontinuitäten einer unbändigen Wissenschaft längst nicht mehr aus.

Auch dem politischen Diskurs könnte mithin beschieden sein, auf sein nationales oder europäisches Altenteil verwiesen zu werden. Dieses Ende hält zuletzt eine europäische Verfassung auf, die nicht mehr vermag, als eine alte Emanzipationsgeschichte mit notwendig allgemeinsten Formeln zu rekapitulieren. Wer darüber politische Öffentlichkeit herstellen will, nimmt den "Strukturwandel" des Öffentlichen, seine Demontage zu Gunsten eines fluktuierenden, wenn nicht schlingernden Menschenbilds nicht zur Kenntnis. Vergegenwärtigt man sich zudem, dass auch die Wissenschaften selbst nicht in der Lage sind, ein gesellschaftliches Verwaltungsmodell ihrer kühnen Ausblicke zu schaffen, stellt sich die Frage nach einer neuen Verfassung Europas bzw. der Weltgesellschaft ganz anders.

Diese Verfassung wäre nicht mehr der selbstgewisse Voluntarismus, Rechte zu bescheinigen, sondern Ausdruck von Technologien, Medien, mithin Dynamiken, die - etwa mit Friedrich Kittler gesprochen - unsere Lage bestimmen. Hier mag sich Politik anmaßen, die Schnittstellen machtorientiert zu besetzen, aber die Schnittstellen zwischen Subjekten und technologischen wie medialen Machtkomplexen besitzen selbst nur geringe Halbwertszeiten. Was belegt das besser als eine hochnotpeinliche Diskursgesellschaft, die ihre gesamte ethische Munition auf die Biowissenschaft verschießt - und mitten in diesen seltsamen Schleifen ins moralische Nirgendwo werden dann von der NRW-Regierung transnationale Achsen geschmiedet, die diesen Diskurs im banalsten Pragmatismus versenken?

Reichen nicht mal nationale Verfassungen aus, öffentliche Diskurse auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen, wie viel weniger könnte das eine europäische Verfassung leisten, die außer Blankettformeln und Rücksichtnahmen auf neue Machtkomplexe keinen effizienten Rahmen einer freiheitlichen Gesellschaft begründen könnte. Verfassungen sind Rhetorik. Mitunter gute Rhetorik, wenn der Wille zum Geist der Verfassung vorhanden ist - oder aber folgenlose Rhetorik, wenn machtstrategisches Kalkül einen Schafspelz benötigt. Die Textfassung dieser verschiedenen Arten von Rhetorik reicht allemal nicht aus, das politische Leben einer Gesellschaft zu formen. Allein die zahlreichen, mitunter verunglückten Revisionen des Grundgesetzes lassen eher vermuten, dass sich der Verfassungswandel jenseits begrifflich unscharfer Verfassungstexte vollzieht.

Habermas verweist auf Jospin, der klar gemacht habe, dass institutionelle und prozedurale Reformen nicht erfolgreich sein können, solange nicht der Inhalt des Verfassungsprojekts klarere Konturen annimmt. Aber daran ist gar nichts klar außer dem Desiderat, die in Dynamik geratenen Kräfte, die auf keinen Zauberlehrling warten, in das Prokrustesbett einer europäischen Verfassung zu bannen. Was man aus der Geschichte lernen konnte, haben die Verfassungen Europas verinnerlicht, was aber die Gegenwart - immer massiver aus der Richtung der Zukunft behelligt - lernen muss, entzieht sich diesem historischen Verfassungstypus. Wir brauchen keine europäische Verfassung, wir leben in einer globalen Verfassung, die weitgehend von Fassungslosigkeit gezeichnet ist und der die Worte fehlen, die sie wohl letztlich auch nicht braucht, um auf antiquierte Diskurse der Frankfurter Schule noch diskursiv zu antworten.