Was machen die Bilder mit uns und der Welt?

"Imagineering" - Ein neuer Reader zur visuellen Kultur analysiert die "Politik der Sichtbarkeit"

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"Imagineers" - dieses Kompositum aus "image" und "engineering" bezeichnete ursprünglich "die Tätigkeit jener Ingenieure, Architekten, Designer und Multimedia-Spezialisten, die Disneyland und Disneyworld entworfen haben", bemerkt Herausgeber Tom Holert im Vorwort zu "Imagineering - Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit".

Doch weil die "Bildingenieure" längst nicht mehr nur in Freizeit-Themenparks am Werke sind, wird der Begriff des "Imagineering" in dem Reader auf verschiedenste Phänomene angewendet: Netzkunst, den Jugoslawienkrieg, Überwachungstechnologien, Fotografie, die Repräsentation von Homosexualität usw. Die "Gemachtheit der Bilder, die das Produkt technischer Planung und gestalterischer Kompetenzen sind" (Holert) steht im Mittelpunkt der 16 Aufsätze und E-Mail-Interviews. Internationale AutorInnen untersuchen in dem soeben beim Kölner Oktagon Verlag erschienenen Sammelband die in der Welt der technischen Bilder wirksamen Machtverhältnisse und Ideologien.

Unverhohlen orientiert sich das Buch dabei an den anglo-amerikanischen Visual Studies und kontert so die an deutschen Unis lancierte "Bildwissenschaft". Gegen deren ontologische Frage nach einem angemessenen Bildbegriff, gegen die Beschäftigung mit dem "Was" des Bildes, setzt "Imagineering" die politische Frage nach dem "Wie". Statt abstrakt und geschichtslos zu spekulieren, geht es den Autoren von "Imagineering" darum, die kontextabhängigen Funktionsweisen von Bildern zu bestimmen. Denn: "Ständig redefinieren die Gebrauchsweisen und Instrumentalisierungen von Bildern die Verhältnisse der Sichtbarkeit", wie Tom Holert in seinem Einführungstext "Bildfähigkeiten" schreibt. Die Sehnsucht nach einer allgemeingültigen Wesensbestimmung des Bildes muss angesichts dieser Diagnose ein Wunschtraum bleiben.

Gleichwohl teilen die Autoren die gängige akademische These vom "pictorial turn", also der gestiegenen praktischen und theoretischen Relevanz der "gemachten" Bilder. Der zu beobachtende "Sichtbarkeitsdruck" (Holert) ist jedoch eine seltsame Angelegenheit, schließlich hat sich längst eine Art Vulgärkonstruktivismus durchgesetzt: Seit dem letzten Golfkrieg glaubt selbst der naivste Medienuser nicht mehr an einen authentischen Wahrheitsgehalt der (Bildschirm-)Bilder."

Der Widerspruch zwischen einer Abwertung des visuellen Bildes als nicht länger glaubwürdiger, weil manipulierbarer Instanz und der gleichzeitig wachsenden Bedeutung einer allgemeinen Medien- und Bilderkultur, die von Triumph zu Triumph eilt und das Reale verdrängt, ist offensichtlich,

so Holert. Wenn aber der subjektive Manipulationsverdacht Teil der alltäglichen Bildrezeption geworden ist - wie können dann die technischen Bilder überhaupt ihre unbestrittene Wirkung auf Sein und Bewusstsein entfalten? Woraus speist sich ihre widersprüchliche Evidenz?

Eine Antwort entwickelt John Rajchman in seinem luziden Aufsatz über "Foucaults Kunst des Sehens", der als "methodischer Leitfaden" des Buches dient. Sichtbarkeiten, so Rajchman, sind immer in bestimmte "Praktiken der Verräumlichung" eingebunden, die sich im Sinne Michel Foucaults als Macht-Wissen-Dispositive begreifen lassen. Durch sie "visualisiert" sich das Seiende (Menschen, Dinge, Ideen usw.) nach je bestimmten Effizienzregeln, wobei die Voraussetzungen der Visualisierung selbst verborgen bleiben. Rajchman entdeckt in Foucaults Texten eine "Archäologie des Visuellen", die diese ungesehenen "Sehmodalitäten" - also die Bedingungen der Möglichkeit im Sinne Kants - aufdeckt. Der eingeübte Generalverdacht gegen die Bilder, so lässt sich aus Rajchmans Überlegungen folgern, kann dieses "Ungesehene" nicht erkennen, weil er zu allgemein und unpräzise bleibt.

Will man die versteckten Voraussetzungen dessen, was überhaupt gesehen werden kann, ausgraben, muss man genauer hinsehen. Die regulative Idee des in "Imagineering" praktizierten Tiefenblicks ist dabei die Annahme, dass ein anderes Sehen auch ein anderes Denken und Handeln hervorbringen kann. Denn das, was uns als evident erscheint, birgt mehr Handlungsspielräume als wir denken, wie Rajchman betont: "Sichtbarkeit ist Sache eines positiven, materiellen, namenlosen Körpers von Praktiken. Ihre Existenz zeigt, dass wir in allem, was wir sehen, weit weniger frei sind als wir glauben, denn wir sehen nicht die Zwänge des Denkens in dem, was wir sehen können. Es zeigt jedoch auch, dass wir in viel höherem Maße frei sind als wir glauben, da das Element Sichtbarkeit auch etwas ist, was das Sehen auf historischen Wandel oder Veränderung öffnet." Das Buch ist in diesem Sinne der Versuch, die Kontingenz des vorgeblich Evidenten aufzuweisen und ein kritisches "Gegen-Sehen" zu entwerfen.

Jedoch kann sich dieses Vorgehen nicht in einer vorangetriebenen Sichtbarmachung des Verborgenen erschöpfen. Die slowenische Philosophin Renata Salecl weist in ihrem Text "Die Künste des Krieges und der Krieg der Künste" mit Recht darauf hin, dass dies der alles anderen als befreienden Logik der Transparenz in die Hände spielen würde: "Heute ist alles offen sichtbar - es gibt keine Geheimnisse mehr. Allerdings hat dieses Offenlegen des Inneren und Zurschaustellen des Alltags nichts Subversives, sondern trifft genau die vorherrschende Ideologie. In unserer Gesellschaft finden sich zahlreiche Beispiele für diese Logik des 'Es-gibt-kein-Geheimnis-mehr'." Hinter diesem Sichtbarkeitsimperativ erkennt Salecl eine Angst vor dem Mangel an Bildern - die Bilderflut sei demnach ein Narkotikum, mit dem die Angst vor der Leere betäubt wird. Jedoch schürt dies nur weitere Ängste: "Während uns die Ideologie vorgaukelt, unsere Gesellschaft sei wie ein offenes Buch, können sich die Menschen des Eindrucks nicht erwehren, dass jemand hinter ihrem Rücken die Fäden zieht, oder dass sich irgendwo ein Feind verbirgt, den es aufzuspüren und zu vernichten gilt."

Den Hype um den Millenium-Bug liest Salecl als Symptom für diese Angst vor dem "großen Anderen", die von den allgegenwärtigen Techno-Bildern niemals endgültig verdrängt werden kann. Daran anknüpfend weist Mark Terkessidis in einer Analyse der medialen Repräsentation des Jugoslawien-Krieges und dessen individuellen Traumata darauf hin, dass Transparenz selten absolut ist. "Tatsächlich darf die 'Fotografie' Trauma gar nicht alles zeigen. Jede vollständige Transparenz würde wohl zur Differenzierung zwingen. Gerade der unsichtbare Raum ist der Raum der Wunde", so der Kölner Psychologe.

Wenn sich nun - wie in "Imagineering" wiederholt betont wird - die professionelle Produktion künstlicher Bilder auf verschiedenste Felder ausgeweitet hat - welche Rolle kommt dann der Kunst zu? Hat sie überhaupt noch einen spezifischen Ort, von dem aus sie gegen die Bilderwelten von Werbung, Webdesign etc. angehen könnte? Diese und andere Fragen sind das Thema von Diedrich Diederichsens Aufsatz zu "Visual Culture, Netzkunst und die Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst". Dort schlägt er vor, Kunst von Nichtkunst durch ihr besonderes Maß an "ästhetischer Gerechtigkeit" abzugrenzen, wobei er darunter "die genauestmögliche Anwendung formal begründeter Verfahren auf einen nicht formalen Sachverhalt" versteht. Im Gegensatz zu "anderen kulturellen Medienangeboten" entziehe sich Kunst tendenziell dem Transparenzgebot, weil sie ihre Funktion nicht automatisch mitbenenne. "Dieser Effekt des Willkürlichen, die Suspension von unmittelbaren Verwertungs- und Utilitätsdruck", so Diederichsen, "prägt weiterhin Konstellationen der Kunst." Und - so lässt sich ergänzen - Kunst verwehrt sich damit tendenziell gegen die zynische Behauptung, dass wir alle "immer schon" total vom Kapitalismus korrumpiert seien...

Auch in anderer Hinsicht dient "Imagineering" als Gegengift zum grassierenden (Medien-)zynismus und dessen vereinfachende, längst auch in Mainstream-Medien geäußerte "Phantasievermutung" (Terkessidis), derzufolge jedes Medienbild ohnehin immer schon perfide Erfindung und Inszenierung ist. Jedoch kann es, auch das machen diese instruktiven Texte deutlich, nicht darum gehen, eine "hinter" den Bildern verborgene authentische und unversehrte Wahrheit ans Tageslicht zu zerren - damit würde nur "das Gespenst der Transparenz" (so der Titel eines der acht "Themenmodule" des Readers) weiter gefüttert. Die Wahrheit liegt in den "gemachten Bildern" selbst, nämlich in dem, was sich in ihnen zeigt, ohne evident zu sein. Es sind dies die gesellschaftlichen Verhältnisse von Macht und Wissen - und nur ein kritischer Blick kann sie sehen.