Eigentlich interessiere ich mich nicht für Science Fiction

William Gibson, der Chronist des Cyberspace, im Gespräch über seine Bücher, die Gegenwart der multikulturellen Gesellschaft, die Nanotechnologie und seine Vergangenheit im Süden Amerikas

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Es ist nicht leicht, einem Star zu begegnen. Besonders, wenn es einer ist, der in Kanada wohnt, lieber seine Bücher schreibt, denn darüber zu sprechen, was er schreibt, und damit ein ganzes Literaturgenre, die Science Fiction, geprägt hat. Also haben wir Emails geschickt, haben telefoniert, sind einige tausend Kilometer geflogen, haben unser Hotel in Beschlag genommen und unseren Jetlag weggepackt. Doch es kommt, wie so oft im Leben, ganz anders.

Fotos: Stefan Becht

"Rauchen ist bei einer Strafe von mindestens 2000 Cand. $ untersagt", können wir dann in Vancouver an jeder Lokalscheibe lesen. Rauchen im Hotel ist natürlich sowieso verboten. Noch nicht mal an der Bar - der letzten Bastion des blauen Qualms, der selbst in Amerika redlich die Treue gehalten wird - dürfen wir ein schnelles Zigarettchen durchziehen. Also gehen wir, bevor wir unseren ganz persönlichen Star treffen, der inzwischen zum Großvater des Cyberpunk geworden ist, noch einmal schnell hinaus vor die Hotelhalle.

Auf der anderen Seite der Strasse steht da ein großer, hagerer Mann, in eine schlichte schwarzen Jacke gehüllt, der durch seine Brille den Hoteleingang fixiert und beinahe heimlich an seiner Zigarette zieht. "Das ist er!", dämmert es uns, und wir winken William Gibson über die Strasse hinweg zu. Es ist, wie schon gesagt, nicht leicht einem Star zu begegnen. Doch wenn er Raucher ist, teilen wir wenigstens mit ihm ein Laster!

Und so behandeln die ersten Sätze, die wir mit ihm wechseln und die wir so lange geübt haben, auch nicht die Frage nach seiner Blutgruppe, sondern es geht schlicht und ergreifend um das Schicksal der Raucher in einer gesundheitsfanatischen Gesellschaft.

William Gibson wurde am 17. März 1948 in Conway, Süd Carolina, geboren. Mit 19 Jahren floh er vor der Einberufung ins Militär, das ihn sofort in den Vietnam Krieg geschickt hätte, nach Kanada. 1981 erfand er in seiner Erzählung "Burning Chrome" den Begriff des "Cyberspace". Ein unendlicher, digitaler Raum, in den sich die Menschen über die Direktverbindung zu einen Computer einlocken, sozusagen der Datenraum hinter dem Bildschirm, global vernetzt. Ganz ähnlich dem, was wir heute als "Internet" bezeichnen.

Doch erst 1984, mit dem "Neuromancer" gelang Gibson der internationale Durchbruch. Gleichzeitig wurde er damit zum Begründer eines neuen Lebensgefühls, das, aus der Musik kommend, durch ihn zu einem eigenständigen literarischen Genre wurde: Dem Cyberpunk. 1986 legte Gibson mit dem Buch "Count Zero"/"Biochips" nach und vervollständigte 1988 mit "Mona Lisa Overdrive" die so entstandene "Neuromancer"-Triologie. Erst 5 Jahre später, 1993 erschien wieder ein Roman von ihm: "Virtual Light"/"Virtuelles Licht" mit der Idee der "Autonomen Zone", die Gibson auf der Oakland Bay Bridge in San Francisco ansiedelte.

Wurde im "Virtuellen Licht" digitalen Daten mit Hilfe einer Brille Körperlichkeit verliehen, so ist die "Idoru" (1986) mit dem schönen Namen Rei Toei, die digitale Schöpfung per se. Geboren im Netz, ist sie die "Wunschmaschine", ... ein Aggregat subjektiven Begehrens ... kein Fleisch; .. eine Antarktis von Informationen, ..." Spätestens mit "Idoru" war Gibson in der Gegenwart angekommen. Denn gleichzeitig mit dem Erscheinen des Buches in den USA stellte die japanische Modelagentur HoriPro den ersten digitalen, nur im Computer erschaffenen Menschen der Welt vor: Kyoko Date.

In dem Buch "All Tomorrow's Parties"/"Futurematic" schreibt Gibson das Schicksal der "Idoru" und seines begnadeten Netzläufers Laney fort und führt seine Figuren dort wieder zusammen, wo die ganze Geschichte begann: Auf der Oakland Bay Bridge.

William Gibsons Bücher erscheinen in Deutschland im Verlag Rogner & Bernhard (bei Zweitausendeins) und im Heyne Verlag.

Das Gespräch

Waterfront Centre Hotel, Vancouver, William Gibson, Stefan Becht, Markus Friedrich

Wir haben Ihnen die deutsche Ausgabe Ihres Buches mitgebracht. In Deutschland heißt "All Tomorrow's Parties": "Futurematic".

William Gibson: Ah, das ist sehr schön, danke. Deutschland ist das einzige Land, in dem das Buch ein Lesebändchen hat. Ich mag das sehr.

In diesem Fall brauchen Sie das Lesebändchen auch, weil das Buch keinen Schmutztitel hat, dessen Klappen Sie zwischen die Buchseiten klemmen könnten. Um zu markieren, bis wohin Sie schon gelesen haben ...

William Gibson:... oh ja, das stimmt. An diesen praktischen Aspekt habe ich noch nie gedacht.

Die kommende Kultur ist hybrid

Wissen Sie, wieviele Übersetzungen es von "All Tomorrow's Parties" schon gibt?

William Gibson: Von diesem, ist bis jetzt die deutsche Ausgabe die erste... Die Übersetzungen von denen ich bis jetzt sicher weiß, sind Französisch, Italienisch und Japanisch und danach, was auch immer passiert... Eigentlich bin ich sowieso immer wieder überrascht, in wievielen Übersetzungen meine Bücher erscheinen. Das dauert aber immer ein paar Jahre, zum Beispiel 2, 3 Jahre für Ungarisch.

Aber mit einer japanischen Ausgabe ist schon relativ schnell zu rechnen, da sich ja sehr viele Elemente der japanischen, chinesischen, asiatischen Kultur in ihren Büchern finden?

William Gibson: Japan war fast von Anfang an mein drittaktivster Markt, nach den USA und England. Die Japaner mochten meine Geschichten von Anfang an. Es begann mit den sehr populären Science-Fiction-Taschenbüchern und nun erscheinen meine Bücher auch in der hochwertigeren und teuren Hardcover-Version. Ich bin mir nicht sicher, wer sie liest. Ich war nicht mehr in Japan, seit dem ihre aufgeblähte Wirtschaftblase geplatzt ist. Sie konnten es sich nicht mehr leisten mich einzuladen und so hatte ich keine Gelegenheit mehr, die wunderbare Erfahrung weiterzuführen und herauszukriegen, wie die Leser mit meinen Geschichten umgehen und was sie für sie bedeuten. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie es eigentlich ist, Japaner in Japan zu sein und dann eines meiner Bücher zu lesen.

Aber dadurch, dass in Ihren Geschichten so viele unterschiedliche kulturelle Elemente zum Zug kommen, besonders viele asiatische, geben Sie diesen Kulturen doch eine hervorragende Identifikationsmöglichkeit, sich in Ihren Büchern wiederzufinden?

William Gibson: Och, dieser asiatische Einfluss rührt daher, glaube ich, hier in Vancouver zu leben. Ein großer Teil der Geschäfte dieser Stadt wird mit der andern Pazifikseite betrieben. Viel eher als mit dem Rest von Kanada oder Nordamerika. Ich glaube, während der 10 Jahre, bevor Hong Kong an China zurückgegeben wurde, sind nach Vancouver über 4 Milliarden US $ Kapital von dort hierher in Sicherheit gebracht worden.

Hat das die Stadt seit den 80er Jahren nicht auch ziemlich verändert?

William Gibson: Vancouver veränderte sich geradezu drastisch. Und tut's immer noch. In gewissen Sinne sitzen wir hier in diesem Hotel auch auf Hong Kong Geld, denn damit ist es wahrscheinlich gebaut worden. Das hat auch die Wahrnehmung von dem, was "Emigration" eigentlich bedeutet, total verändert, im Vergleich zu anderen Teilen Nordamerikas. Weil die Emigranten, die hierher kamen, Kapital mitbrachten und dadurch für die Stadt sehr lukrativ waren.

Wissen Sie, wieviele Menschen aus Hong Kong hier in Vancouver leben?

William Gibson: Nein, nicht genau. Ich lebe am Rand von Vancouvers Pendant zu L.A.'s Beverley Hills. Vor 20 Jahren war das eine Gegend in der wohlhabende weiße Kanadier lebten. Jetzt ist die Mehrheit Chinesisch, weil es in diesem traditionell englischen Stil erbauten Viertel die besten Immobilien gab. 75% meiner Nachbarn sind heute chinesischer Abstammung.

Aber da gibt es doch sehr viel mehr in Ihren Geschichten, von diesem asiatischen Spirit, wie zum Beispiel ...

William Gibson: ... der taoistische Killer?

Nein, nicht der aus "Futurematic". Eher wie die jungen Leute in "Idoru", die die Fan-Web-Site des Musikers Rez betreiben, oder dem Jungen aus der Netz-Gemeinschaft der "Ummauerten Stadt" mit seinem Würfel-Computer. Sie alle sind auf ihre Art Trendsetter, Teil einer neuen Kultur, die erst noch im Entstehen ist. Haben Sie Freunde in Singapur oder Hong Kong, die ihnen Einblick in die lokale Szene geben?

William Gibson: Neeeein. Ich hab das vom Zugucken ...

Na, Sie haben wohl einen japanischen Fernsehkanal?

William Gibson: Nein, ich sehe es schon hier und an anderen Stellen und Orten, teilweise in Europa. Wissen Sie, die kommende Kultur ist hybrid. Sie ist Ost und West, verwoben auf eine Art und Weise, die früher ganz unmöglich war und jemanden meines Alters ohnehin Außen vorlässt. Was ich meine: Ich sehe es bei ganz jungen Kids, die machen einfach keinen Unterschied zwischen "chinesischen", "japanischen" und "kanadischen" Kindern - für sie ist das ganz alltäglich. Meine Tochter ist 17 Jahre alt und die meisten ihrer Mitschülerinnen sind Chinesen. Und das einzige, was sie auf Chinesisch sagen kann, das kann sie allerdings ziemlich gut, ist: "Fuck off, bitch!" Ich weiß nicht mehr, ob sie's auf Mandarin oder in einer anderen chinesischen Sprache sagt, aber sie kriegt's gut hin. Für sie gibt es überhaupt keine "Rassenunterschiede", sie bemerkt es gar nicht, es ist, als ob sie zu einer neuen gehören würde. Dieses kulturelle Gefühl, dass Nationalitäten sich nahtlos miteinander verweben, das gerade erst im Wachsen ist und aus dem Neues entsteht, nehme ich hier wahr, überzeichne es, dehne es, stretche es etwas und kreiere meine eigene Welt, meine eigenen Geschichten daraus. Diese kulturelle Veränderungen finde ich sehr attraktiv, nicht bedrohlich, und vielleicht geben sie uns einige der Antworten, auf die wir schon lange gewartet haben.

Sie haben mal gesagt, als Science Fiction Autor müsste man grundsätzlich Pessimist sein. Stehen Sie dieser kulturelle Veränderung, diesem Neuen, nun eher optimistisch oder pessimistisch gegenüber?

William Gibson: Ganz pragmatisch. Mein Eindruck ist, dass die jungen Menschen weder leichtfertig optimistisch noch leichtfertig pessimistisch sind. Es ist eher ein gewisser Realismus an ihnen, der mir aus meiner eigenen Jugend nicht bekannt ist. Die hatte mehr mit einer Art Idealismus zu tun. Ich nehme an, heute gibt es eher die Tendenz, sich über eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit zu identifizieren. Von jemanden der Nachbar oder Freund zu sein oder eben dem gleichem "Tribe" anzugehören. Ich beobachte das generell bei jungen Leuten, rund um die Welt, Freundschaft wird ernster genommen, als in meiner Jugend. Es ist wichtiger, mit wem du befreundet bist, als was du tust. Ich finde, das ist ziemlich gut.

Auf der Suche nach den Stellen im richtigen Leben, an denen Wandel erkennbar wird

Sie haben ein Interview mit Kyoko Date, dem ersten virtuellen Menschen, einem japanischen Model, gemacht und sie nach ihrer Blutgruppe gefragt. Was war die Antwort?

William Gibson: Ach, ich hab vergessen, was sie sagte. Ich habe eine kleine Liste von, wie ich dachte, amüsanten und provokativen Fragen rübergeschickt. Und die Antworten, als sie endlich kamen, naja, wenn sie noch ein bisschen langweiliger gewesen wären, wären sie schon wieder gut gewesen. Aber sie waren nur langweilig und ich dachte in dem Moment, "Oh, dear!". Sie ist nicht angemessen ausgestattet. Es sollte ein wirklich intelligentes Mädchen irgendwo sitzen, dessen Job es ist, sich nur gute Antworten auszudenken. Das letzte Gerücht, das ich über sie gehört habe, ist, dass sie von einer großen japanischen Firma gekauft wurde. Ich nehme an, dass sie sie aufrüsten und gesprächiger und vielleicht etwas unterhaltsamer machen werden.

Das haben wir auch gehört. Okay, was meinen Sie, welche Blutgruppe hat ihre Hauptfigur, Colin Laney, der Netzläufer?

William Gibson: Ich kann die unterschiedlichen Blutgruppen und ihre Bedeutung sowieso nie auseinanderhalten. Ich glaube, es gibt 2 Haupttypen und dann noch einen dritten. Der eine ist analytisch und vorsichtig und der andere ist intuitiv und impulsiv. Laney ist wahrscheinlich eher analytisch und vorsichtig.

Laney ist eine sehr starke und beeindruckende Figur. Allein seine Fähigkeit all die Informationen aus dem Netz in Bilder und Geschichten zu übersetzen ...

William Gibson: ... wahrscheinlich erfand ich ihn aus dem Bedürfnis heraus, mir die Frage zu beantworten, was es ist, was ich da im Grunde tue. Im Gegensatz zu meiner traditionellen Rolle als SF-Autor, die mir nie angenehm war. Und als Colin Laney die Doktrin der Knotenpunkte entdeckt, war es für mich die richtige Metapher dafür, wie sich das anfühlt, was ich ursächlich tue. Weil das ja kein sehr bewusster Vorgang ist, und ich glaube nicht, dass es viel mit SF-Literatur zu tun hat, wie sie üblicherweise gemacht wird.

Sie fühlen sich also gar nicht als SF-Autor?

William Gibson: Ich bin sicher, man kann jede Menge SF-Autoren findet, die heftig bestreiten würden, dass ich ein SF-Autor bin. Die würden sagen: "Ich weiß nicht, was der macht, aber Science Fiction ist das nicht. Er hat keine Ahnung von Wissenschaft und er bricht ständig die Regeln der SF-Literatur." Aber natürlich wusste ich, dass ich etwas machte, auf das die Leute reagieren. Laneys Job-Beschreibung beantwortete das für mich. Zum Glück habe ich nicht alle seine anderen Probleme. Doch wir sind uns ähnlich: Beide suchen wir nach Knotenpunkten und ich verwende sie dann für meine Geschichten.

Also stehen Sie eher in der Tradition von Tolkiens Geschichtenerzähler Gandalf im "Herr der Ringe"? Der etwas voraussehen kann, die alten Mythen und Weisen kennt und die Punkte erahnt, an denen das Schicksal und die Geschicke sich wenden werden? Spielen Sie in dieser Kategorie?

William Gibson: Vielleicht. Für mich fühlt sich das, was ich eigentlich tue an, wie eine Suche nach den Stellen im richtigen Leben, an denen Wandel erkennbar wird und in einer interessanten Weise darauf hinzuweisen. Und wenn die Menschen das dann sehen und sie den Wandel wahrnehmen, dann kriegen sie Angst oder freuen sich. Das ist jedoch ihre Sache. Mein Job ist es lediglich auf die Stellen hinzuweisen, an denen der Wandel stattfindet: "Schau, das passiert ja längst". Ich habe es in meinen letzten Büchern so gehandhabt, dass das, worüber ich eigentlich schreibe, die Gegenwart ist. Ich schreibe darüber, was wir im Moment erleben und nicht darüber, was wir mal erleben könnten. Die Gegenwart ist so instabil und unberechenbar geworden in den letzten 50 Jahren, unsere Lebensbedingungen sind einem noch nie dagewesen, radikalen, schnellen Wandel unterworfen - darüber schreibe ich.

Dann würden Sie sich also viel eher als zeitgenössischen Schriftsteller denn als SF-Autor bezeichnen?

William Gibson: Ja, obwohl ich nicht ganz ehrlich dabei bin, denn ich werde ja noch als SF-Autor vermarktet ...

... und das klappt ja ganz gut...

William Gibson: ...ja, weil es ein großer Markt mit klaren Marketing-Spielregeln ist. Ansonsten kämen die Leute auch ganz durcheinander. Momentan spiele ich mit der Idee, meinem nächsten Buch einen Untertitel zu geben, um zu verdeutlichen, dass es nicht von der Zukunft handelt: "Eine Novelle des 21. Jahrhunderts".

"Ich will meinen Kuchen essen und ihn zugleich behalten."

Im Original heißt Ihr neues Buch "All Tomorrow's Parties" nach einem Lied der Gruppe Velvet Undergorund. Warum haben Sie es in Deutschland "Futurematic" genannt (Die Zukunft als Flohmarkt)?

William Gibson: Das war die Idee des Verlegers, nicht meine. Der richtige Titel "All Tomorrow's Parties" ist nicht zu übersetzen. Und schon während meiner Lesereise zu dem Buch in den USA, wurde ich ständig nach der Bedeutung des Titels gefragt. Das konnte ich nie beantworten, weil ich auch nicht genau weiß, was der Titel mit meinem Buch zu tun hatte. Ich mochte den Titel einfach, er war einfach da.

Aber Sie kennen doch das Lied von Velvet Underground?

William Gibson: Ja, ja, natürlich. Ich dachte für das Buch ist das der richtige Titel und ich bin auch zufrieden damit. Aber er hat nicht funktioniert. Nur die Leute, die auch den Song kennen, haben kapiert, um was es geht. Andere haben gedacht, er wäre eine politische oder gesellschaftskritische Andeutung. "Futurematic", den Titel, finde ich sehr passend. Den hätte ich auch für die Originalausgabe verwendet, wenn ich nur darauf gekommen wäre.

Wir haben uns den Originaltext des Liedes von 1967 herausgesucht. Man hat das Gefühl, als ob Velvet Underground, besonders wenn Nico da singt, aus der Zukunft kommend im Jahr 1967 gelandet wären ...

William Gibson: Oh, ja sehr ...

Ich glaube, wir haben die Schlüsselstelle im Buch gefunden, die auch den Titel (schlüssig) erklären dürfte. Mr. Harwood sagt da zu Laney: "Ich will, dass meine Welt verwandelt wird, aber ich möchte auch, dass mein Platz in dieser Welt dem entspricht, den ich gegenwärtig einnehme. Ich will meinen Kuchen essen und ihn zugleich behalten. Ich will einen kostenlosen Lunch."

William Gibson: Ja, gut gesehen, gelesen ... den Kuchen essen und ihn trotzdem behalten, ja.

Das ist die identische Situation, wie sie im Lied beschrieben wird: Ich gehe auf eine Party, schon in der Gewissheit, dass der Kick, den ich mir wünsche fehlt und es eigentlich nur um die Party des nächsten Tages geht, von der ich genauso enttäuscht zurückkehre. Die gleiche Lage. Wie bekomme ich das gehandhabt: Den Kuchen aufzuessen und ihn trotzdem gleichzeitig zu behalten.

Autonome Zonen und Brücken

William Gibson: Ja, genau. Ah, hier auf dem deutschen Cover des Buchs stimmt auch die Brücke: Die Oakland Bay Brücke. In San Francisco musste ich den Leuten nicht nur den Titel erklären, sondern auch, dass aus Versehen die Golden Gate Brücke und nicht die Oakland Bay Brücke abgebildet wurde.

Auf dem Cover ist die falsche Brücke drauf? Spielt das denn eine Rolle?

William Gibson: Ja, in San Francisco schon. Da hab ich mich, zusammen mit dem Buch, auch nicht fotografieren lassen. Denn es geht darum, wohin die Brücken führen! Die Oakland Bay führt direkt in ein politisch radikales Gebiet und einen großen schwarzen Slum. Die Golden Gate mündet auf der anderen Seite in einer reichen Gegend. Für die Geschichte würde der Unterschied bedeuten, dass die Brücke nicht von "Autonomen", sondern von schwerreichen "Yuppies" bewohnt wäre.

Schön, dass wir bei den Brücken gelandet sind. Was bedeuten Brücken für Sie? Können Sie uns das ein bisschen genauer erklären, auch was sie mit den Begriff der "Autonomen Zone" meinen? In Deutschland gab es jahrelang, mitten in der Großstadt Hamburg, eine Gegend mit besetzten Häusern, die Hafenstraße. Die Bewohner, die Stadt, die Polizei duldeten das irgendwie. Ist so etwas für Sie eine "Autonome Zone"?

William Gibson: Bei uns gibt es solche "Autonomen Zonen", im Gegensatz zu Europa, nicht. Das finde ich bemerkenswert, wir haben keine Hausbesetzer-Szene in Nordamerika. Ich finde es sehr interessant, dass europäische industrielle Gesellschaften so einen hohen Grad an Toleranz demonstrieren. Das ist sehr smart und Ausdruck der Flexibilität einer Gesellschaft, damit sie nicht aus den Fugen gerät. Man weiß nie, was dort geschieht und welchen Gesetzen die Evolution dort unterliegt. Aber es kann gut sein, dass letztendlich die gesamte Gesellschaft davon profitieren wird.

Warum haben Sie Ihre "Autonome Zone" nicht auf das Festland sondern in der Form der Brücke über dem Wasser angesiedelt?

William Gibson: Ah, das ist so eine dieser großartigen ...

... Späße?

William Gibson: ... ausgezeichneten ...

... Ideen?

William Gibson: ... Glücksfälle! Also, ich kam darauf, als ich in einem Hotel in San Francisco wohnte. Direkt aus meinen Fenster schaute ich auf die Brücke. Und eines Morgens war alles voller Nebel. Nur die Spitze eines Brückenpfeilers kroch oben etwas auf dem Nebel heraus. Mensch, dachte ich, da könnte man doch wohnen, ein kleines Haus darauf bauen und hätte einen herrlichen Blick über die ganze Bucht. Ein paar Wochen später rief jemand vom San Francisco Museum of Modern Art an und fragte mich, ob ich eine SF-Kurzgeschichte schreiben könnte. Sie sollte Teil einer Ausstellung sein und auch die Zukunft der Stadt beschreiben. Das erste, was mir in den Sinn kam, war dieser Brückenpfeiler und von dort aus entfaltete sich für mich das gesamte Leben und Treiben auf der Brücke. Wie sie dann letztendlich geworden ist, welche Menschen da leben, in welchen Beziehungen sie zueinander stehen, was die Brücke alles symbolisieren kann, das hat sich in den drei folgenden Büchern erst entwickelt. Bis zum Ende dieses Buch, schließlich, in dem ich die Brücke halb niederbrenne, um endlich damit aufzuhören, um diese starke Metapher loszuwerden.

Ist das nun das Ende der Brücke?

William Gibson: Die Magie der Brücke wird tatsächlich schon dort aufgelöst, wo Chevette erfährt, dass es mittlerweile für große Unternehmen schick geworden ist, sich auf der Brücke einzumieten, um dort Geschäfte zu machen.

Eine von 8800 Englischlehrinnen, die gerade wegen eines Kongresses die Stadt bevölkern, kommt an unserem Tisch vorbei, entdeckt das Buch auf dem Tisch.
Sie: Oh, ist das der neue William Gibson? Ist es gut? Ist es so gut wie das letzte Buch?
Im ersten Moment sind wir alle etwas verblüfft.
Schließlich sagt Gibson: Wir hoffen es!
Sie: Oh, ich bin ein großer Fan von seinen Büchern. Sie geht weiter, an einen der Nebentische.

Das war eine Englischlehrerin von wo auch immer ...

William Gibson: (lachend) Das war doch wirklich lustig!
(Sie nachahmend:) "Ist es so gut wie das letzte Buch?"
(herumalbernd) Nein! Es ist totaler Mist! Der kann nicht mehr schreiben!

Es gibt keine Verstecke mehr für die Boheme, wie wir sie noch im letzten Jahrhundert kannten

Kommen wir noch mal auf die Brücke, die "Autonome Zone" zurück, da, wo, wie Sie sagen, eine eigene Evolution stattfindet. Sie markieren das Ende dieser Evolution und der dortigen Subkultur mit dem Auftauchen der Grossunternehmen. Meinen Sie damit: Immer wenn eine Subkultur eine starke Anziehungskraft ausstrahlt, möchten große Firmen daran partizipieren und führen somit auch das Ende dieser Kultur herbei?

William Gibson: Das ist etwas, was wir in den letzten Jahren öfters beobachten konnten. Ich bin wirklich fasziniert von dieser neuen Sorte der Marketingresearch. Da versuchen große Unternehmen die hippsten Konsumenten aufzuspüren und schicken diese als Trendscouts in Nischenmärkte, damit sie dort neue Tendenzen entdecken. Wenn Sie überlegen, wie eine Laufschuhfirma wie Adidas versucht, ein neues Produkt zu finden: Die gehen wirklich auf die Strasse und versuchen rauszukriegen, was die Kids als nächstes kaufen würden. Unglücklicherweise entsteht dadurch ein Art Rückkopplung, die im Ergebnis die Quelle der Idee austrocknet.

Wie meinen Sie das?

William Gibson: Es ist wie ein ökologische Problem, diese Art des Marketings. Denn es geht viel zu nah an die Stelle, an der noch spontane neue Ideen entstehen, und erntet diese zu früh und zu häufig ab. Zurück bleibt eine unfruchtbare, verkarstete Landschaft. Wie soll dort noch etwas Neues wachsen? Es geht ja soweit, dass geographische Grenzen überhaupt keine Rolle mehr spielen. Marketing-Researcher können heute den ganzen Planeten überblicken.

Und dadurch blitzschnell und weltweit reagieren?

William Gibson: Es gibt keine Verstecke mehr für die Boheme, wie wir sie noch im letzten Jahrhundert kannten. Wo würde eine neue Form der Musik heute herkommen? Das ist doch überhaupt die große Frage: Woher kommt etwas Neues? Es wird nicht von einem Platz kommen, auf den niemand achtet. Weil es den heute gar nicht mehr gibt. Es ist halt eine Welt.

Andererseits wird doch für die Menschen vieles dezentralisierter. So dass sie mehr Wert legen auf kleinere und private Kontexte. Sie suchen und finden ihresgleichen heute über das Internet, egal wo in der Welt sie sind.

William Gibson: Ja, so ist es. Die neue Nachbarschaft ist virtuell und die neuen Tribes und die neue Boheme sind in einem gewissen Maß virtuelle Konstrukte und unsichtbar.

Viel schwerer aufzuspüren?

William Gibson: Ja, viel, viel schwerer aufzuspüren. Genau. Seit vielen Jahren habe ich mich öffentlich besorgt über das Verschwinden der Boheme geäußert. Aber vielleicht hat die neue Boheme nur eine viel bessere Verschlüsselung, vielleicht ist sie kryptischer? Wir können nicht einfach irgendwo reingehen und nachsehen, welcher Schuhstil gerade angesagt ist. Die Boheme ist nicht entzifferbar. Ein versiegeltes Universum. Aber wenn es im Cyberspace passiert, ist es sowieso egal, da brauchen sie ja keine Schuhe zu tragen.

Danach war alles anders ....

Können Sie uns die Bedeutung, die das Jahr 1911 für Sie hat erklären? Sie spielen damit im Buch herum, ohne es näher zu benennen?

William Gibson: Oh, hm, der Leser soll das nicht wissen und ich tue auch nur so, als ob da etwas wäre. Laney weiß aus einem fast magischen Grund, dass im Jahr 1911 das letzte Mal ein totaler Wandel stattgefunden hat. Er erklärt nie genauer was da passiert ist, er liefert so ein paar kleinere Referenzen ab, wie die, dass Frau Curies Mann von einem Karren angefahren wurde. Eine meiner Ideen zu Laneys Knotenpunkten ist, dass sie nicht mit traditionellen Kausalitäten der herkömmlichen Geschichtsschreibung zu erklären sind. Es ist etwas anderes, es ist über entstehende Systeme. Eigentlich bin ich auf das Jahr 1911 gekommen, als ich einen Essay von Virgina Woolf las. In dem sie, nicht ganz im Ernst, behauptet, dass die Moderne an einem bestimmten Wochenende im Jahr 1911 begann. Das war es.

Alles hat sich an diesem Wochenende schlagartig verändert?

William Gibson: Ja. Danach war alles anders. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es nicht so ganz ernst meinte. Aber 1911 ist eine gute Wahl, um diese Zeit herum sind viele Sachen passiert. Da gab es noch keine Passkontrollen, keine Waffenkontrolle, es gab keine Drogengesetze. Viele der Dinge, die wir heute für ganz selbstverständlich nehmen, als Eckpfeiler der westlichen Kultur verinnerlicht haben, die gab es noch gar nicht. In den ersten 15 Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich unheimlich viele Lebensumstände total schnell verändert.

Beispielsweise durften die Frauen noch nicht wählen...

William Gibson: Ja, Frauenwahlen, Radio. Da gab es große Veränderungen. Die Menschen waren regelrecht aus dem Häuschen, die Futuristen in Italien sind komplett durchgeknallt. Mit gutem Grund.

Die digitale Welt hat unsere Fiktionen eingeholt und sich in die physikalische Welt verwandelt

Die Message ihres Buches ist also die Prophezeiung: Der Wandel wird kommen? Oder lautet sie vielmehr: Der Wandel ist schon längst da? Nur dadurch, dass nun der Prototyp, das einmalige, digitale Wesen der Idoru, diese unphysikalische Identität, beliebig oft kopierbar wird, tritt er in das Stadium des Massenmarktes?

William Gibson: Ja, aber sie ist natürlich physikalisch vorhanden ...

...vorher nur Projektion...

William Gibson: ... ja, freilich ...

... und nun das erste Mal nackt ...

William Gibson: ... ja, eben körperlich vorhanden. Aber das Entscheidende ist in dieser Szene versteckt: Als der Junge Bomzilla sie aus dieser Nanotechmaschine heraussteigen sieht, da geht die Idoru zur Tür des Lucky Dragon und öffnet sie!

So ein Lucky Dragon Laden entspricht wohl dem typisch amerikanischen 7 Eleven Shop, wie es ihn an jeder Ecke gibt?

William Gibson: Ja, ja. Wenn also die Idoru die Tür öffnet, in diesem Augenblick ändert sich alles, geschieht der Wandel. Denn in all diesen Nanotechmaschinen, die es auf der Welt gibt, ist sie zusammengefügt worden zu einem physikalischen Wesen. An diesem Punkt hat die digitale Welt unsere Fiktionen eingeholt und in die physikalische, richtige Welt verwandelt. Es ist, als ob der Cyberspace körperlich wird. Cyberspace und die richtige Welt unterscheiden sich nicht mehr. Und an diesem Punkt, an dem sie da aus der Maschine steigt, verändert sich das ganze Universum des Buches, entsteht eine ganz neue Welt. Für die Charaktere im Buch stellt es keine sofort spürbare Veränderung ihrer Welt dar, aber es ist einfach alles anders.

Der Moment, in dem die Idoru entsteht, das ist der Knotenpunkt und das Ende der Welt, wie wir sie bisher kannten. Danach entfernt es sich weiter und weiter von dem, was wir Realität nennen und wird etwas anderes, etwas Neues. Das ist ein schwieriges Ende für einige Leser, das kann ich mir schon vorstellen. Denn die Erwartungen an das Ende einer solchen Geschichte sind ja riesig. So mit einem großen Knall am Ende, wie bei einer Broadway-Produktion, und das fehlt. Doch ich wollte meinem Verständnis darüber, wie so etwas geschieht, treu bleiben.

So wie es uns auch passiert durch die gesamte Vernetzung, das Web, in dem ich eine Bestellung, digital, aufgebe und bald darauf klingelt es an der Tür und ich bekomme eine echte, heiß dampfende Pizza in die Hand gedrückt?

William Gibson: Ja, das ist schon wieder Alltag.

Wollen Sie das Thema, nach der nun eher zufällig entstandenen Triologie "Virtuelles Licht", "Idoru" und "All Tomorrow's Parties" weiterführen?

William Gibson: Nein, ich kann nicht über die Singularität hinausgehen. Was am Ende von "All Tormorrows Parties" geschieht, ist eine technologische Singularität, eine Art historisches, schwarzes Loch. Die Geschichte der 3 Bücher läuft mit solcher Kraft auf dieses Ende hinaus, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie sie überhaupt noch weitergehen sollte. Ich habe keine Ahnung, wohin die Synergie zwischen dem Digitalen und der Nanotechnologie uns führen wird. Aber ich kann sagen, wir werden es erleben und dabei wahrscheinlich weiterhin als menschliche Wesen erkennbar bleiben.

Alles Wissen und alles Geld der Welt scheitern am Ende an einem einsamen Talent

Rydell ist neben Yamasaki, dem Student der existentiellen Soziologie, die einzige Figur, die in allen drei Büchern auftaucht. Und Rydell kommt, genau wie Sie aus dem Süden der USA ...

William Gibson: ... ja ...

... aus Süd Carolina. Rydell ist Ihnen also von seinem Wesen her am nächsten?

William Gibson: Mhm, hmm, ... Rydell ist mein innerer Redneck. Ja, er ist der Teil von mir, der ganz aus dieser Kultur stammt. Für mich ist es signifikant, aus dem Süden von Amerika zu stammen. Als ich geboren wurde, war der Süden wie ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben war. Weil der Süden in den 50iger und zu Beginn der 60iger Jahre so war, als würde man in den 40iger oder 30iger Jahren leben, oder noch früher, am Ende des letzten Jahrhundert, 1890. Gleichzeitig konnten wir im Fernsehen zusehen, was sich in den 50igern auf der Welt alles ereignete. Doch das Leben dort war damals so zurück geblieben.

Heute hat sich das geändert. Die Medien und die Wirtschaft haben die gesamte Region drastisch verändert. Es war wirklich merkwürdig. Könnte ich meine Erinnerungen an 1959 für Sie auf einen Bildschirm bringen, würden Sie glauben, was Sie da sehen spielt sich im Jahr 1930 ab. Die ganze Region litt unter der ökonomischen Depression und politisch betrachtet immer noch unter den Folgen des Bürgerkriegs. Wie sich die Region im Laufe meines Lebens zu etwas komplett anderem entwickelt hat, neu geboren wurde, begreife ich bis heute nicht. Und Rydell lebt auf seine Art ebenfalls in einer ganz falschen Zeit. Als ein Bewohner der nahen Zukunft, hat er doch die Seele des schlichten, einfachen Typs aus dem Süden der 50iger Jahre.

Ja, aber für den Leser ist es natürlich einfacher sich mit Rydell zu identifizieren denn mit Laney ...

William Gibson: ... Ja...

... Der Leser stellt die gleichen Fragen, wie sie Rydell an Laney richtet: "He, was passiert hier eigentlich und was soll ich machen?" Und Laney ist so cool zu sagen: "Ich weiß es auch nicht, aber tu's einfach!"

William Gibson: Die große Sache an Rydell ist, weil er Rydell ist, dass er geradezu ahnungslos ist. Er begibt sich andauernd in Situationen, die er überhaupt nicht kapiert, und dadurch hat er die Lizenz dumme Fragen zu stellen. So muss der Leser sich nicht blöd vorkommen, denn Rydell erledigt das für ihn. Das ist sehr bequem. Außerdem ist seine grundsätzliche Unfähigkeit, etwas richtig zu machen, sehr nützlich für den Autor, da er die Geschichte am Laufen hält. Denn wenn nichts passiert, wird Rydell es schon wieder vermasseln und sofort gibt es eine neue Komplikation.

Wie verhält es sich mit Silenco, dem stummen Jungen? Was befähig ihn, Dinge zu tun, die die Alten, Laney und Harwood, nur aufgrund des Drogenexperimentes hinkriegen?

William Gibson: Nun, der Junge ist ein Autist. Das wird nur nie deutlich gesagt. Die Reinheit seiner Obsession zieht ihn dahin, wo ihn seine Obsession hinlockt. Er wäre nicht fähig Harwood oder irgendeinen Anderen im Cyberspace aufzuspüren. Er findet Harwood nur, weil der die Armbanduhr, die Futurematic, bei sich hat. Die sucht Silencio eigentlich. Er startet durch und verfolgt Harwood in dieses unmögliche Loch im Cyberspace. Ich mochte die Idee, dass Harwoods fieser Plan am Ende am Talent eines behinderten Jungen scheitert. Alles Wissen und all das Geld der Welt kommen am Ende nicht gegen diesen kranken Jungen, gegen ein einsames Talent an.

Für einen SF-Autor bin ich geradezu unproduktiv

Warum spielen die Uhren und die Zeit so eine wichtige Rolle in dem Buch?

William Gibson: Die Uhren sind mechanisch, vordigital, und ihr Mechanismus, der Mechanismus jeder mechanischen Uhr, das ist sehr wichtig, hat sich seit Jahrhunderten nicht verändert. Nichts hat sich an Uhren wirklich geändert, mit Ausnahme der Form, die ausgefallener ist, und der etwas besseren Verpackung. Ein wirklich bemerkenswertes Stück Technologie. Eine mittelalterliche Uhr hat im Grunde den gleichen Mechanismus wie eine heutige Rollex. In einem gewissen Sinn sind wir mit der Rollex am Ende einer Entwicklungslinie angekommen. Letztendlich ist sie doch nur ein Gebrauchsgegenstand. Keiner braucht wirklich eine Rollex, sie funktioniert auch nicht besser als eine 5 Dollar Quarz-Uhr. Sie ist zu einem lebenden Fossil geworden. Und das hat für mich funktioniert, weil ich das Buch am Ende des Jahrtausends schrieb, als Millennium-Geste. Es ist mein Y2K Buch. Die Uhren und das Bild der vergehenden Zeit gaben mir ein gutes Gefühl. Zeit vergeht, aber das Leben geht weiter. Ich weiß auch nicht genau, auf die symbolischen Aspekte dieser Dinge kann ich erst nach den Fakten schauen, genau wie alle anderen Leser, die sie interpretieren.

Wir haben gehört, dass Sie ein sehr konzentrierter, fleißiger Schreiber sein sollen. Jeden Morgen ziehen Sie sich an ihren Schreibtisch zurück und schreiben kontinuierlich 2 oder 3 Stunden, jeden Tag, ...

William Gibson: ... ja, aber nur wenn ich arbeite ... (allgemeines Gelächter)

... ach, nur wenn Sie arbeiten?

William Gibson: Ja. Wenn ich nicht arbeite, hab ich nicht das Gefühl ein fleißiger Autor zu sein. Wenn ich mich an den traditionellen Standards für SF-Autoren in den USA orientierte, müsste ich sagen: Ich bin geradezu unproduktiv!

Im Ernst?

William Gibson: Wirklich. Schauen sie, die ersten SF-Autoren, die ich traf, als ich mit Science Fiction begann, schrieben 2 oder 3 Bücher pro Jahr! Das mussten die! Das war eine Frage des Überlebens. Und meine Selbsteinschätzung geht eher in die Richtung, dass ich ein bisschen faul und sehr, sehr langsam bin. Das Gute in meiner Position ist der Luxus, ein Jahr Zeit zu haben, um ein Buch zu schreiben. Für mich ist es schwierig, es in kürzerer Zeit hinzukriegen. Aber immer wenn ich mit einem Buch beginne und dann nicht konsequent 5 Tage die Woche von morgens um 9.00 Uhr bis nachmittags um 5.00 Uhr schreiben würde, hätte ich das Gefühl, niemals zu Ende zu kommen. Und es wird nicht einfacher!

Die Reste für die Website

In der Zeitschrift Wired war ein Foto von Ihnen abgebildet, auf dem man im Hintergrund ein Flip-Chart mit ziemlich vielen Zettel darauf erkennen konnte. Entwerfen Sie Ihre Geschichten und die Handlungsstränge zuerst an der Tafel eines Flip-Charts?

William Gibson: Mhm, ich bin jetzt nicht ganz sicher, was Sie meinen. Normalerweise hängt da alles rum, was so rein kommt. Ich bin nicht so gut im Notieren von Einfällen, deshalb klebe ich mir Bildchen auf die Wand, dann kann ich sie sehen. Ich habe einen Freund, er ist Filmregisseur, der sagt zu dieser Pin-Wand "Mood-Board" (Stimmungstafel/wand). Und wenn er anfängt, ein neues Video zu drehen, dann beginnt er mit einem solchen "Mood-Board". Er fängt irgendwo an der Wand an, Bilder hinzukleben. Anfangs versteht er den Kontext noch nicht, aber er fügt weiter Bilder hinzu, um die Stimmung heranwachsen zu lassen. So entsteht der Look seiner Videos. Das ist so ähnlich, wie ich es auch mache. Wobei ich das eher in meinem Kopf tue, als an der Wand. Zu Beginn ist es kein rationaler, nicht mal ein verbaler Prozess.

Von der Idoru wurden drei Kapitel, die nicht im Buch sind, auf einer eigenen Web-Site publiziert. Warum findet sich nun fast gar nichts über "All Tomorrow's Parties" im Web?

William Gibson: War das bei der deutschen Ausgabe der Iduro? Naja, das hat wohl was mit diesem ganzen Marketing für das Buch zu tun, von dem ich wenig Ahnung habe. Ich weiß der amerikanische Verleger hat damals wegen der Idoru angefragt ...

... die Idoru-Site war überhaupt eine sehr schöne Site, eine feine Idee, die drei Kapitel, die das Buch nicht enthielt, mit dem herrlichen Lesestück drin: "Blackwells Mum" online zu stellen ...

William Gibson: ... ja, ja, jetzt weiß ich, was Sie meinen, klar. Dass es diesmal nichts gibt, hat einfach damit zu tun, dass es keine Reste gab.

Reste? Bei Ihnen gibt es Reste?

William Gibson: Wenn ich anfange, ein Buch zu schreiben, lege ich mir einen Ordner auf den Schreibtisch, den Bildschirm meines Rechners, mit dem Namen: "Stuff".

Den hat ja wohl jeder irgendwo rumliegen...

William Gibson: ... ja...

... und jemand hat Ihnen den Ordner gelöscht?

William Gibson: Nicht doch... Wenn ich also beim Schreiben oder Lesen merke, diese Sequenz passt jetzt nicht oder ist nicht so, wie ich sie gerne hätte, schmeiß ich sie in "Stuff". Um sie nicht gleich löschen zu müssen. Normalerweise, wenn ich mit einem Buch fertig bin, ist da in "Stuff" nicht mehr viel drin. Aber am Ende der Idoru, als ich mit dem Buch durch war, fanden sich da plötzlich noch diese 3 Stücke drin. Ich erklärte mich damit einverstanden, sie auf dem Web, auf der Site zu dem Buch, zu publizieren.

Und bei "All Tomorrwos Parties" ist ...

William Gibson: ... ist einfach nichts übrig geblieben. Ich habe gut gearbeitet! Für die Website zum Buch habe ich in New York ein Interview mit meinem Freund Jack Womack geführt. Ich wollte nach der Fertigstellung des Buches nichts hinterher schreiben, das finde ich nicht gut. Aber "Blackwells Mum", ja, das ist schon gut ...

... ja, es ist toll. Wie schon gesagt, wir sind sehr verwundert, dass es nicht ins Buch gekommen ist. Weil es die Figur und auch seine Situation so gut verständlich macht ...

William Gibson: Ich hab es aus dem Buch gelassen, weil Blackwells Charakter sehr stark auf der Autobiografie eines australischen Berufskriminellen beruht. Ganz so deutlich wollte ich nicht werden.

Copyright, eBooks und die Zukunft des Buchs

Was denken Sie über das Copyright im Web? Ist das nicht gerade für einen Autor, wie sie, der in der ganzen Welt publiziert wird und von seinen Tantiemen lebt, äußerst schwierig?

William Gibson: Das ist schon kompliziert, aber für mich ist es nicht unmittelbar bedrohlich. Wenn ich Pop-Musiker wäre, müsste ich wirklich darüber nachdenken, wie ich mich in die neuen Gegebenheiten einpasse. Das Großartige an erzähltem Text, der in ein Buch gepackt ist, ist doch, dass er viel beweglicher und leichter zugänglich ist, als alles, was man aus einem Download produzieren könnte. Wenn ich den ganzen Text ins Web stellte, könnte das jemand herunterladen und einen Ausdruck davon machen. Aber so ein Ausdruck ist schon ziemlich primitiv. Jemand anderes könnte sich den Text herunterladen, sich wirklich die Mühe machen, ihn typografisch zu gestalten und das Buch so herzustellen, wie es jetzt vor uns liegt. So schwierig ist das ja auch nicht. Doch dazu braucht er wieder das Papier, die Farbe und dann viel zu viel Zeit. Das ist doch unsinnig, wenn er das Buch für ein paar Dollar fix und fertig in einem Buchladen kaufen kann. Also, warum sich darüber Sorgen machen?

Das sehen aber viele Verlage und Autoren ganz anders!

William Gibson: Autoren müssen sich, zumindest zur Zeit, darüber noch keine großen Gedanken machen. Weil Text sich, das ist seit dem 16. Jahrhundert so, am besten in einem Buch verpacken lässt. Das ist die Natur des Mediums. Also, ist die einfachste Form an etwas Lesbares zu kommen, ein aus Holz und Tinte produziertes Buch in einem Buchladen zu kaufen. Den Text aus einem Buch zu kopieren, ist sehr einfach, aber wenn du das ganze Buch nachmachst, dann hast du ein ganzes Buch, ein Medium, geklaut. Das ist schon etwas anderes, das ist eine Raubkopie und das steht schon seit dem 19. Jahrhundert unter Strafe. Wenn es jemanden wirklich nur darum geht einen Text zu lesen, dann kann er ihn auch umsonst kriegen. Das finde ich auch ok, das kümmert mich nicht.

Und Sie hätten nichts dagegen wenn Ihre Texte im Web herumgeistert würden?

William Gibson: Wenn ich entdeckte, dass es eine unautorisierte chinesische Übersetzung eines meiner Werke gäbe, die in China in Buchform verkauft würden, würde ich sofort dagegen vorgehen. Gäbe es die gleiche Übersetzung im Web, würde ich nichts dagegen unternehmen. Ich würde denken: Hey, das ist cool, das ist eine feine Sache.

Aber Sie denken nicht über "Publishing on demand" oder darüber nach Ihre Geschichten erst im Web und anschließend als Buch zu publizieren?

William Gibson: Ein klein wenig. Nun, ich wäre da sofort dabei, wenn ich da wirklich einen Markt sähe. Verglichen mit den herkömmlichen Bedingungen des Verlegens sind das natürlich alles höchst experimentelle Dinge, die da gerade geschehen. Ich weiß, die Verleger beobachten diese Märkte, das Web, print on demand, das eBook usw. mit Argusaugen.

Gab es von der Idoru nicht auch eine Version für das eBook, diesem etwas unbeliebten Lesegerät?

William Gibson: Ja, von der Iduro. Deshalb haben die mir auch so ein eBook geschenkt. Ich hab es mit nach Hause genommen und, weil ich nicht genau wusste, was ich damit anstellen sollte, meiner Tochter geschenkt. Sie sagte: "Hey, cool und Danke!" Und wissen Sie, was sie damit gemacht hat?

Nein.

William Gibson: Sie hat es als Türstopper verwendet!

Als Türstopper?! Wie ist sie denn auf die Idee gekommen?

William Gibson: Weil's so schön schwer und klein ist, hat sie gesagt.

Wirklich?

William Gibson: Ja!

Aber das eBook muss sich doch sinnvoller einsetzen lassen?

William Gibson: Klar, wenn man in einer Raumstation oder in einer Forschungsstation in der Antarktis leben würde, wäre es ideal. Einfach in den Computer stecken und soviel auf das Lesegerät herunterladen, wie und was man lesen möchte. Ich denke, die Richtung, in die es sich entwickelt, die stimmt schon. Wir können ja nicht ewig damit weitermachen, Bäume zu fällen, nur um daraus ein Buch zu machen.

Das ist eigentlich schon ein bisschen verrückt, das stimmt ...

William Gibson: ... ja, es ist absurd, weil Holz keine unerschöpflich erneuerbare Ressource ist.

Wie könnte die Zukunft des Buches denn aussehen?

William Gibson: Also, wenn es nach mir ginge, hätte dann jeder nur noch ein einziges Buch. Ein sehr schönes, praktisches Buch, das sich anfühlt und riecht wie ein richtiges Buch. Und das könnte jeden beliebigen Text enthalten, für den sie die Nutzungsgebühr bezahlt haben. Sie kriegen das Buch und es ist etwas von Borgese oder Mark Twain drin, das hängt davon ab. Es wird so eine Art digitales, nanotechnologisches Gerät sein, und wenn Sie es öffnen, wird es den gewünschten Text enthalten. Jedenfalls müsste es den gewohnten haptischen Aspekt eines Buches haben. Das wäre eine gute Richtung. Das ist noch nicht einmal Science Fiction. Im Gegenteil: Ich habe vor einiger Zeit dieses Plastikpapier gesehen, das beliebig oft programmiert werden kann, auf dem man eine Zeitung lesen kann.

Sie meinen die digitale Tinte, die am MIT MediaLab entwickelt wurde?

William Gibson: Ja, ich glaub damit machen sie das. Sie nehmen dieses Plastikpapier, stecken es mit einen Stecker an ihren Computer und laden sich herunter, was sie möchten. Und es lässt sich jederzeit wieder verändern.

Alle schrubben immer am Rand entlang ...

Wie fühlt es sich für Sie an hier, in Kanada, zu leben?

William Gibson: Hier zu leben ist wie in einer alternativen Realität einer Version der USA zu leben. Es ist schon seltsam: Hier sieht es schon sehr wie in Amerika aus und trotzdem ist es ganz anders. Es ist mehr wie in einer skandinavischen Sozialdemokratie, denn wie in den USA. Dafür gibt es hier auch all die ärgerliche Dinge, die mit einer skandinavischen Sozialdemokratie einhergehen.

Aber Sie fühlen sich auch nicht als Kanadier?

William Gibson: Nein. Ich glaube auch nicht, dass dies möglich ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sich jemand, der hier nicht geboren wurde, als Kanadier fühlen könnte.

Viele der Figuren in Ihren Büchern haben einen kleinen Defekt. Rydell ist ein gescheiterter Polizist, der nicht mal seinen Job als Wachmann hinkriegt. Chevette kommt weder mit Männern, ihrem Leben, geschweige denn mit der Liebe zurecht. Laney hat, auf Grund der medizinschen Drogenexperimente in seiner Kindheit, dieses Wahrnehmungssyndrom, durch das er digitale Daten in Geschichten und Bilder übersetzen kann ...

William Gibson: ... ja ...

... sie alle schrubben ständig am Rand eines Abgrunds entlang, ohne hinunter zu fallen ...

William Gibson: ... oh ja...

... sie bewegen sich stetig in der Blade Runner Situation, existieren im wahrsten Sinn der Worte auf des Messers Schneide. Um was geht es Ihnen dabei? Möchten Sie mit diesen schrägen Charakteren neue Sichtweisen, Wahrnehmungen erschließen? Dinge aufzeigen, die uns sonst verschlossen blieben?

William Gibson: Ich denke, ich weiß, was Sie meinen. Dazu gibt es einiges zu sagen. Es gibt eine Tradition in der amerikanischen Literatur. Es ist die Suche nach dem idiosynkratischen Erzähler. Und es ist ganz üblich, in der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts einen Erzähler zu finden, der fundamental anders ist. Ich bin sicher, darüber, warum das so sein muss, ist eine Menge geschrieben worden. Ich bin nicht der erste Autor, der mit idiosynkratischen Figuren arbeitet. Wenn jemand etwas schreibt, das man als Science Fiction interpretieren kann, ist es für mich sehr nützlich, Charaktere zu benutzen, die anecken. Sie passen nicht exakt in die Welt, in der sie leben. Dadurch geraten sie in extreme Situationen, die das sonst unbegreifbare Potential dieser fiktiven Welt vor Augen führt. Manchmal ist es dann so, dass es einem wie Schuppen von den Augen fällt und wir etwas erkennen, das wir nie für möglich oder vorstellbar gehalten haben.

Aber in Ihren Geschichten gibt es ja ausschließlich, wenn Sie so wollen, derart prägende Charaktere!

William Gibson: Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie im Universum meiner Bücher, überhaupt ein angepasster Charakter aussehen oder sein würde. Aber wenn ich einen hätte, wäre es eine Herausforderung für mich, ihn durch die ganze Handlung zu schleusen. Je mehr Handicaps meine Figuren haben, desto leichter ist es für mich daran eine Geschichte aufzuhängen. Das sind auch die Figuren, mit denen ich mich am einfachsten identifiziere. Wenn ich mich nicht mit ihnen identifizieren kann, komm ich in Schwierigkeiten.

Wieso?

William Gibson: Ich könnte dann gar kein Buch schreiben. Das kommt daher, weil ich - auf eine gewisse Weise - eine traumatische Kindheit hatte. Und dann die Erfahrung, mit 19 Jahren hierher zu kommen, um vor der Einberufung nach Vietnam zu fliehen, auf diese Kultur hier zu treffen, und nie mehr zurückzugehen ... Wäre ich nach Schweden oder Bangkok gegangen, klar, dann hätte mich der Kulturschock noch heftiger getroffen. Trotzdem ist es für einen Amerikaner keine selbstverständliche Erfahrung nach Kanada zu flüchten. Was mir passiert ist, ist diese doppelte Andersartigkeit: Nicht nur dass ich als Amerikaner nicht in Amerika lebe, sondern auch noch als Amerikaner in Kanada. Das reicht mir, um mich mit jeder Andersartigkeit zu identifizieren.

Überhaupt ist das bei mir so: Bei jedem Buch, das ich lese, oder bei jedem Film, den ich sehe, identifiziere ich mich sofort mit den schrägen Typen. Lustigerweise scheint das den meisten Leuten so zu gehen. Das ist wohl der klassische Weg, die Sympathie des Lesers zu gewinnen.

Ja, sicher. Das Interessante an Ihren Bücher ist jedoch, dass Sie kaum Antworten geben. Sie öffnen zwar neue Horizonte, erklären sie aber nicht weiter ...

William Gibson: Ja.

Es ist so, als würden Sie dem Leser einen ersten Anstoß geben, ihm eine Richtung andeuten und nun muss er selbst sehen, wohin ihn der Weg führen wird...

William Gibson: Ja, ja, nun, das kommt von meiner eigenen Erfahrungen als Leser und der Freude am Lesen dieser Art Literatur. Das größte Vergnügen beim Lesen bereitet es mir zu interagieren, mit zu fantasieren. Ich mag Geschichten, die mich einladen, selbst an dem kreativen Prozess teilzunehmen.

Unsere Gegenwart ist reinste Science Fiction

Können Sie uns das etwas genauer erklären?

William Gibson: Lassen Sie mich ihnen ein Gegenbeispiel geben. Was könnte das denn sein? Ja, das ganze Star Trek-Universum, nein, noch besser: Das Gegenteil davon ist die Star Wars Welt. Das ganze Star Wars Universum, mit dem ganzen Franchising und den ganzen Produkten, ist etwas, das sich der Konsument in unterschiedlichen Modulen zusammenkaufen kann. Doch es bleibt kein Raum für irgendetwas Eigenes übrig. Das ist einer der Gründe, warum ich es nicht mag. Das ist mir zu starr. Für den Betrachter bleibt kein Raum übrig, um darin zu interagieren.

Sie meinen, dadurch, dass es alles gibt, bleibt kein Raum mehr für den Leser oder Betrachter um das fiktive Universum mit eigenen Gedanken oder Geschichten zu erweitern oder auszuspinnen?

William Gibson: Genau so. Es gibt alles, jedes Detail der Star Wars Welt ist da und es wird immer detaillierter. Sie können immer mehr Geld ausgeben, um immer neue Module oder sonst etwas zu kaufen. Für mich ist das komplett passiv. Ich selbst mag es agiler, experimenteller, wenn jemand mich einlädt, an seiner Fantasie teilzunehmen.

An was orientieren Sie sich denn dann beim Schreiben?

William Gibson: Meine eigenes Vergnügen als Leser ist die Richtlinie für mein Schreiben. Mein Instinkt sagt mir, wo ich nicht zu fein erzählen oder ausschmücken darf und was ich bis zu einem gewissen Grad dem Leser überlassen muss. Ich bin sicher, einige Leser sind darüber frustriert und denken bestimmt, ich sei faul. Weil sie meinen, ich hätte es nicht bis zum Ende durchgedacht.

Ihre Geschichten sind also eher wie Malbücher, in denen Sie nur die Umrisse vorgeben, die wir dann auspinseln sollen?

William Gibson: Dazu erzähle ich ihnen ein Erlebnis, das ich vor einigen Jahren mit ein paar Jungs von der damals noch jungen Branche der Computer- und Rollenspiele hatte. Sie wollten in genauen Details von mir wissen, wie die Welt meiner Geschichten funktioniert. Die glaubten, ich hätte irgendwo ein riesiges Modell der Welt meiner Bücher gebaut. Ich musste ihnen leider sagen: Das gibt es nicht! So funktioniert es nicht! Sie sahen mich total überrascht an, die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Schließlich fragten sie mich: Meinen Sie damit, dass ihre Welt nicht spielbar ist?

Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, waren meine Geschichten nicht spielbar, weil ich nicht schon ein Modell, wie z.B. Sim City mit festen Regeln usw. erarbeitet hatte. Für einige Science Fiction Leser, das weiß ich, sind diese komplexen, erdachten Welten in den Geschichten das größte Vergnügen. Und ich möchte das hier überhaupt nicht abwerten, aber ich bietet es halt nicht an. Wenn sie das möchten, müssen sie zu jemand anderem gehen. Meine Unsicherheit beim Schreiben besteht darin, immer wieder meine Balance zwischen Andeutung und Ausschmückung zu finden. Immer wieder frage ich mich dann natürlich: Hab ich es jetzt knapp und klar auf den Punkt gebracht oder nur meinem inneren Schweinehund nachgegeben und war faul. Doch ich sage ihnen: Das, dieses Balancieren, ist ganz schön Arbeit!

Ihr Schreiben hat sich seit dem Neuromancer verändert. Wir haben das Gefühl, Ihre Bücher, besonders die letzten beiden, werden immer skelettartiger, konzentrierter auf das Wesentliche. Sie liefern die wichtigsten Anhaltspunkte, verzichten aber vollständig auf die Ausschmückung, schweifen nicht ab, werden, wie man so schön sagt, nicht prosaisch ...

William Gibson: ... ja ...

... hat es damit zu tun, dass Sie nun, nach 20 Jahren im Genre der Science Fiction - Sie sind ja der Großvater des Cyberspace - es müde geworden sind, immer neue Welten, Helden und Visionen zu erfinden?

William Gibson: Nein. Erfunden habe ich das ja sowieso nicht. Ich bin viel mehr dabei gewesen, wie eine neue Technologie entstand, die mich zu meinen Geschichten inspirierte. Das ermöglichte es mir in den späten 70igern über den Cyberspace zu schreiben, bevor es das Internet richtig gab. Das wiederum gab mir die Reputation SF-Autor zu sein. Das war sozusagen ein Unfall. Es war ein Versehen der Geschichte. Wäre ich in der Nacht dabei gewesen, als die Dampfmaschine erfunden wurde und hätte es aufgeschrieben, wäre mir dann die Ehre zu Teil geworden, der Erfinder der Dampfmaschine zu sein?

Einer der Punkte an diesen letzen drei Büchern ist, dass wir nun in der Welt des Neuromancers leben. Natürlich ist die Welt nicht so, wie in dem Buch. Sie ist so, wie wir sie hier sehen. Aber das Heute hat die Technologie, das gesamte Lebensgefühl des Buches längst erreicht. Innerhalb von nur 20 Jahren!

Dann würden Sie sich selbst eher als Gegenwartsautor bezeichnen...

William Gibson: ... ja ...

... der mit den Werkzeugen des SF-Genre arbeitet?

William Gibson: Richtig! Mit den letzten 3 Büchern habe ich eine neue Zeitrechnung begonnen. Und die ist höchstens 5 Jahre entfernt. Alles, was in den Geschichten passiert, das können wir, wenn wir uns ein bisschen anstrengen, von hier aus schon wahrnehmen. Nur der unbefangene Leser glaubt immer noch, dass es Science Fiction ist. Denn ich arbeite ja auch mit den Werkzeugen des Science Fiction, weil sie bestens dafür geeignet sind unsere Gegenwart zu beschreiben und zu verstehen, wie sie wirklich ist. Reinste Science Fiction!

Eigentlich interessiere ich mich nicht für Science Fiction

Kennen Sie Neal Stephensons Buch "Diamond Age"?

William Gibson: Ja, die ganze Welt redet davon.

Mögen Sie es?

William Gibson: Ich habe es nicht gelesen. Ich glaube, es spielt im cyber-viktorianischen Zeitalter - oder?

Es geht um Nanotechnologie, ein komplexes Konzept der Gesellschaft und wie sie durch ein Mädchen revolutioniert wird. Auch um den Weg, eine Gesellschaft in die Freiheit zu führen.

William Gibson: Aha.

Das Mädchen interagiert dazu mit einem Buch, der Fibel einer jungen Dame, wie sie genannt wird. Das Buch gibt dem Mädchen Antworten auf seine Fragen und beide wachsen an- und miteinander, da das Buch durch die Fragen schlauer wird, aber auch voraussetzt, dass das Mädchen immer wissender wird. Eine schöne Idee.

William Gibson: Ja, klingt wirklich gut.

Kennen Sie John Barnes, auch ein Science Fiction Autor?

William Gibson: Nein, wie war der Name noch mal?

Barnes, John Barnes, sein schönstes Buch ist "Mother of Storms".

William Gibson: Nein, das war nach meiner Zeit...

Sicher, sicher, nach Ihrer Zeit, wenn Sie der Großvater des Cyberspace sind ...

William Gibson: Nun, nein, ich interessiere mich eigentlich nicht für Science Fiction, von ein paar Ausnahmen abgesehen.

Was lesen Sie denn gerade? Was liegt auf dem Tisch neben Ihrem Bett?

William Gibson: Ich habe gerade wieder etwas von dem Engländer Iaan Sinclair gelesen.

Ian Sinclair?

William Gibson: Iaan Sinclair, Iaan mit zwei A. Ich mag ihn schon seit Jahren. Er ist hier ganz unbekannt. Er schreibt Fiction, Zwischen-Fiction, Semi-Non-Fiction, immer über die Entwicklung von Städten und der Architektur. Und für mich ist so reichhaltig, um ein ganzes Universum daraus zu bauen. Er tut Dinge mit der Sprache, die sind so unvergleichlich und außerordentlich, dass ich seine Bücher immer irgendwo aufklappen kann und etwas Interessantes auf der Seite finde. Da brauche ich kein Lesebändchen. Ich schlage einfach irgendeine eine Seite auf und lese.

Okay, das war's.

William Gibson: Oh, vielen herzlichen Dank!

Wir danken. Sie haben übermorgen Geburtstag?

William Gibson: Ja.

Dann möchten wir uns ausdrücklich bedanken, dass Sie sich trotzdem die Zeit für das Interview genommen haben.

William Gibson: Oh, das ist okay. Es war mir eine Freude...

... jetzt schummeln Sie aber ganz schön. Wir wissen: Interviews sind Ihnen eigentlich verhasst und außer diesem hier, geben Sie wohl auch keine mehr ...

William Gibson: ... so ganz stimmt das nicht. Nach Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe von "All Tomorrow's Parties" war ich 2 Monate Nonstop für das Buch unterwegs ...

... 2 Monate lang, jeden Tag?

William Gibson: ... jeden Tag! In Kanada, den USA und in England und ich habe täglich Interviews gegeben. Dann hat es mir einfach gereicht, ich hatte keine Lust mehr. Ich meine, 2 Monate für etwas, das für mich schon abgeschlossen und beendet ist, das ist doch wirklich genug. Okay, nun ist die deutsche Ausgabe erschienen und ich weiß schon, da kommen wieder Anfragen, aber ...

Nichts desto Trotz, merkt man Ihnen an: Sie meiden Interviews wie der Teufel das Weihwasser - warum?

William Gibson: Aber wir hatten doch ein sehr gutes Gespräch ...

... das stimmt ...

William Gibson: ... doch Sie haben Recht.

Ach ja?

William Gibson: Schauen Sie, es ist doch so: Den Menschen, oder den Teil des Menschen, der das Buch oder einen Text geschrieben hat, den Autor, den treffen Sie ohnehin nie. Das geht ja auch gar nicht. Und ich weiß, von was ich da rede. Sie begegnen vielleicht einem sehr netten Menschen, einem smarten Kerl, aber nicht dem Autor. Manchmal kommt der Autor vielleicht ein bisschen zum Vorschein, schaut kurz vorbei, aber das war es schon.

Das ist doch ganz normal, wir kennen das.

William Gibson: Wieso?

Zu Beginn einer Geschichte ist das Papier immer weiß, es steht nichts auf dem Bildschirm. Und dann, nach einer gewissen Zeit, kommt immer der Punkt, an dem man sagen muss: Hey, ich muss das Buch oder den Artikel jetzt zu Ende kriegen ...

William Gibson: Yeah, das ist wahr.

... dann gibt es einfach kein zurück mehr. Es wird geschrieben. Man arbeitet 10, 12, 14 Stunden, tags, nachts, egal wann und dann geschieht etwas, und das meinen Sie wohl auch, was man nicht erklären kann: Es steht da plötzlich etwas auf dem Papier, das Sinn ergibt ...

William Gibson: ... ja, so ist es, und man ist selbst verwundert über das, was entstanden ist ...

Und manchmal, wenn man mit einem Autoren spricht, kommt so ein bisschen von diesem Geist, wie ein kleiner Schalk, dabei heraus und gibt sich zu erkennen.

William Gibson: Der ist wohl hier vorbei gekommen.