Gott ist androgyn

Gespräch mit Hans-Georg Ziebertz, Professor für praktische Theologie an der Universität Würzburg

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Untersuchungen haben gezeigt, dass die Menschen offenbar keineswegs ihren Glauben verlieren. Zwar stehen die Kirchen unter Druck, doch haben die Menschen, so Hans-Georg Ziebertz, weiterhin Weltbilder, in denen religiöse Fragen ihren Platz haben. Auch die Gottesvorstellung wandelt sich. Gott wird von Jugendlichen meist als androgyn oder geschlechtlich undifferenziert betrachtet. Und natürlich spielen auch die Medien gegenüber dem Buch und der Kirche eine größere Rolle

Herr Ziebertz, Sie haben Anfang Dezember an Ihrem Institut eine wissenschaftliche Tagung über Gottesvorstellungen veranstaltet. Gab es dafür einen besonderen Anlass?

Hans-Georg Ziebertz: Wir versuchen, in einem regelmäßigen Turnus von ein bis zwei Jahren Wissenschaftler zu uns einzuladen, die an empirischen Forschungen zu theologisch-religiösen Fragen der Gegenwart interessiert sind. Im vergangenen Jahr haben wir uns mit dem Formenwechsel von Religiosität in Westeuropa beschäftigt. Das wollten wir diesmal stärker auf die Frage nach Gott fokussieren.

Was erforschen Sie da?

Hans-Georg Ziebertz: Ein Projekt beschäftigt sich zum Beispiel mit der Frage, inwieweit Menschen Natur und Umwelt heute noch als etwas Geschöpftes wahrnehmen. Mit anderen Worten: Kommt Gott im Zusammenhang mit Natur und Umwelt noch vor? Gibt es noch so etwas wie eine Erstursache, die man Gott oder einer höheren Macht zuschreibt? Gibt es einen größeren Referenzrahmen, von dem her man begründet, warum die Natur erhalten werden soll? In einem anderen Projekt beschäftigen wir uns mit Gott im Zusammenhang mit der Gender-Thematik. Beeinflusst durch die feministische Bewegung wird innerhalb der Theologie verstärkt die Frage diskutiert, wie Frauen sich eigentlich Gott vorstellen können, wo die Kirche dafür doch fast ausschließlich maskuline Terminologien verwendet. In einem dritten Projekt haben wir Tiefeninterviews mit Jugendlichen durchgeführt, in denen wir sie nach ihren Gottesvorstellungen gefragt haben.

Feministinnen haben den Satz geprägt: "Als Gott Adam schuf, übte sie nur." Haben Sie bei Ihren Forschungen viele Menschen getroffen, die sich Gott als Frau vorstellen?

Hans-Georg Ziebertz: Bei der Gender-Problematik geht es nicht nur um die biologischen Geschlechter, sondern vor allem um die Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die sowohl bei Männern als auch bei Frauen auf vielfältige Weisen ausgeprägt sein können. Vor diesem Hintergrund ist das Gottesverständnis nicht auf die Pole männlich oder weiblich beschränkt. Gott kann vielmehr auch androgyn sein, also beide Geschlechter in sich vereinen, oder undifferenziert sein, ohne weibliche oder männliche Anteile. Tatsächlich haben in unseren Umfragen sowohl Mädchen als auch Jungen zu etwa 42 Prozent Gott als androgyn angesehen. Die zweithäufigste Aussage erklärte Gott als geschlechtlich undifferenziert. Das waren bei den Jungen 30 Prozent, bei den Mädchen 28 Prozent. Dann gab es noch diejenigen, die Gott ein Geschlecht zuordneten: Bei 17 Prozent der Mädchen und 11 Prozent der Jungen war das weiblich, bei 13 Prozent der Mädchen und 17 Prozent der Jungen männlich.

Gibt es Vergleichsdaten von früher, die man diesen Erhebungen gegenüberstellen könnte?

Hans-Georg Ziebertz: Wir haben danach gesucht, aber nichts gefunden. Die bisherigen Arbeiten in dieser Richtung haben zumeist das biologische Geschlecht zugrunde gelegt.

Hat das Bild von Gott als altem Mann mit weißem Rauschebart demnach ausgedient?

Hans-Georg Ziebertz: Dieses Bild gibt es noch, aber es ist weit abgeschlagen. Was dagegen bei Jugendlich ganz oben steht, sind Aussagen wie: "Es gibt eine höhere Macht, die wir aber nicht in Worte fassen können." - "Es gibt etwas Höheres, das in allen Religionen zur Sprache kommt. Die Religionen sind nur unterschiedliche Wege, es zur Sprache zu bringen." - "Es gibt das größere Ganze, von dem wir ein Teil sind."

Dann gibt es Aussagen, wonach Gott anthropologisch immanent erfahrbar ist. Zum Beispiel: "Das Göttliche ist tief in jedem Menschen selbst." - "Jeder Mensch hat in seinem tiefsten Selbst einen göttlichen Funken." In einer Antwort wird Gott sogar mit dem menschlichen Gewissen gleichgesetzt.

Für die einen ist Gott also das Ferne, absolut Transzendente, das wir nicht benennen können. Die anderen sehen ihn als das absolut Immanente. Die christlichen Aussagen, die dazwischen eine Brücke zu schlagen versuchen, fallen dagegen doch ziemlich deutlich ab. Also etwa: "Es gibt einen Gott, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat." - "Gott ist für mich der Gott der Bibel." Ebenso in der deutlichen Minderheit sind Aussagen, in denen die Existenz Gottes überhaupt geleugnet wird.

In den sechziger und siebziger Jahren ging man noch von einer unaufhaltsamen Säkularisierung, einem stetig fortschreitenden Bedeutungsverlust von Religionen aus. Was Sie zitieren klingt aber nicht nach Verlust, sondern nach Veränderung der Bedeutung.

Hans-Georg Ziebertz: Das ist richtig. Die Säkularisierungsthese geht davon aus, dass eine sich stetig modernisierende Gesellschaft Religion zwangsläufig überflüssig macht. Prominente Vertreter dieser Religionskritik waren etwa Karl Marx und Sigmund Freud. Wenn wir unseren Verstand nur scharf genug ausbilden, so die Annahme, dann werden wir erkennen, dass wir ein solches Konstrukt wie Gott nicht nötig haben.

An der Säkularisierungsthese ist natürlich auch etwas Wahres. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich das kirchlich vertretene Christentum in Deutschland unter Druck befindet. Doch die Kirchen repräsentieren nur einen Teil der religiösen Praxis. Wenn wir das gesamte Bild betrachten, finden wir, dass Menschen nach wie vor religiös aktiv sind und sich Weltbilder konstruieren, in denen religiöse Fragen ihren Platz haben. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass das religiöse Bewusstsein kein reines Abbild kirchlicher Verkündigungen mehr ist. Es ist aber auch nicht völlig losgelöst von der kirchlichen Präsenz des Christentums in Deutschland. Das ist das eigentlich Neue, was auch den Kirchen Anlass zu mehr Optimismus geben sollte.

Kommt es im Zuge der Globalisierung zu einer stärkeren Konkurrenz der Religionen?

Hans-Georg Ziebertz: Man sollte das nicht überschätzen. Wer sich in Deutschland zu einer Form etwa des Hinduismus oder Buddhismus bekennt, lebt doch mehr oder weniger in einer Subkultur. Das meine ich durchaus nicht negativ. Aber als Christ lebt es sich in Deutschland leichter denn als Hinduist. Da wäre es eher noch bequemer, gar kein Bekenntnis zu haben. Die christlichen Begriffe, Bilder und Symbole, um das Heilige zu thematisieren, sind in unserer Kultur einfach leichter verfügbar als andere. Die Kraft zur gesellschaftlichen Integration, die das Christentum im Mittelalter noch besaß, hat es allerdings heute verloren.

Bei Ihrer Tagung ging es auch um bildhafte Vorstellungen von Gott. Wie verträgt sich das mit dem Bilderverbot in der Bibel, wo es heißt: "Du sollst dir kein Bild von mir machen."?

Hans-Georg Ziebertz: Es ging uns ja nicht darum, ein bestimmtes, adäquates Bild zu definieren. Als empirisch forschende Theologen sind wir vielmehr daran interessiert, diesen Prozess des Sich-ein-Bild-Machens zu verstehen. Denn faktisch versuchen die Menschen natürlich, sich diesen Gott oder das Heilige in irgendeiner Form auch bildhaft vorzustellen.

Bei der Überlieferung von Glaubensinhalten an die nachfolgenden Generationen stützt sich das Christentum seit zwei Jahrtausenden auf das Medium Schrift. Die Schrift ist den Christen im wörtlichen Sinn "heilig". Doch die Schrift hat in den letzten Jahrzehnten immer stärkere Konkurrenz durch audiovisuelle Medien bekommen. Verändert das die Religion?

Hans-Georg Ziebertz: In der Theologie, der protestantischen wie auch der katholischen, denken wir eigentlich immer noch, dass religiöse Erziehung zuallererst in der Familie geschieht, durch die Schule unterstützt und durch die Kirche flankiert wird. Das sind auch nach wie vor wichtige Säulen. Aber inzwischen haben natürlich die Medien als Sozialisationsagenturen eine immer größere Bedeutung erlangt. Dort wird ja nicht nur bedeutungslose Unterhaltung produziert, sondern es werden Werte und Weltbilder vertreten und Standards geprägt, was man tun und was man nicht tun sollte. Da haben die Kirchen noch einigen Nachholbedarf.

Ob wir das wollen oder nicht: Auch Weltanschauungen werden immer stärker durch Marktgesetze beherrscht. Dagegen wird man auf Dauer kaum bestehen können, indem man sich in den heiligen Raum der Kirche zurück zieht und versucht, ihn rein zu halten. Die Kirchen beschädigen ihre Botschaft nicht, wenn sie Medien wie Fernsehen oder Internet nutzen.

Unser Verhältnis zum Glauben ist ja sehr stark durch die historische Spaltung und das daraus resultierende Misstrauen zwischen Wissenschaft und Kirche geprägt. Etwas Vergleichbares hat es, soweit ich sehe, in anderen Religionen nicht gegeben. Seit einiger Zeit scheinen aber gerade Naturwissenschaftler den Glauben neu zu entdecken. Gibt es da eine Wiederannäherung?

Hans-Georg Ziebertz: Das ist ein interessantes Phänomen. Natürlich sind weite Bereiche der Wirtschaft und Naturwissenschaften auf religiöser Ebene weiterhin unmusikalisch bis abstinent. Aber auf der anderen Seite steht so jemand wie Fritjof Capra mit seinen New-Age-Ideen auch nicht mehr allein und wird nur mit Kopfschütteln bedacht.

Die Idee der Moderne, die Menschen könnten, wenn sie nur ihren rationalen Verstand benutzen, irgendwann die Welt vollständig erklären, ist deutlich beschädigt. Ein Beispiel aus unseren empirischen Studien: Noch vor zwanzig oder dreißig Jahren hätte die Erkenntnis, dass der Glaube auch ein menschliches Konstrukt ist, zwangsläufig dazu geführt, von diesem Glauben Abstand zu nehmen. Das finden Sie heute nicht mehr. Junge Menschen akzeptieren, dass sie selbst ihren Anteil am Glauben haben und sehen darin keinen Grund, gegen Religion zu sein. Es entsteht eine neue Offenheit, etwas zuzulassen, was die empirische, biologische Existenz des Menschen übersteigt.

Der Wissenschaftspublizist Carl Sagan sagte einmal, er glaube nicht an einen Gott, der Wunder vollbringt. Über einen Gott, der die Naturgesetze geschaffen hat, sei er dagegen bereit zu diskutieren.

Hans-Georg Ziebertz: Diese Vorstellung ist durchaus verbreitet. Viele Menschen gehen nicht davon aus, dass Gott nach wie vor die Geschichte begleitet, sondern sehen in ihm eine Erstursache, eine Kraft, die den Urknall hervorgebracht hat und mit menschlichen Maßstäben nicht zu ermessen ist.

Ist der Urknall für Sie ein wissenschaftliches oder ein religiöses Konzept?

Hans-Georg Ziebertz: Soweit ich sehe, scheint es in der Debatte um plausible Erklärungen für den Beginn des Kosmos momentan keine wirklichen Alternativen zu geben. Aber dennoch ist der Urknall natürlich eine Hypothese, ein mathematisches Modell. Und eine Hypothese lebt letztlich von dem Glauben, dass sie stimmen könnte.

Es gibt gerade eine ganz aktuelle Verknüpfung von Wissenschaft und Hochtechnologie mit religiösen Empfindungen: Pünktlich zum Beginn der Adventszeit haben Astronauten an der Internationalen Raumstation ein großes Sonnensegel montiert und damit den ersten künstlichen Weihnachtsstern geschaffen. Was halten Sie davon?

Hans-Georg Ziebertz: Das ist schwer zu bewerten. Es ist natürlich zunächst einmal ein Symbol der Perfektion des menschlichen Geistes. Aber ein Auto kaufen Sie ja auch nicht nur, weil es zehn Jahre nicht rostet und viele Pferdestärken hat, sondern ebenso wegen der Botschaft, die damit verknüpft ist. So mag sich auch im Zusammenhang mit der Raumstation zeigen, dass die Menschen Bedarf haben, ihr Herz an etwas zu hängen, dass höher hinaus geht. Wenn wir die Frage stellen, ob Religion in der aufgeklärten Moderne ihrem Ende entgegen geht, würde ich jedenfalls mit dem amerikanischen Religionssoziologen Peter L. Berger sagen: "Es ist vielleicht in keiner Zeit so viel geglaubt worden, wie in unserer."