Keine Angst vor 0 und 1

Künstlerinnen erobern das Netz

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Seitdem das Internet allgemein zugänglich wurde, beschäftigen sich Netzkünstlerinnen mal spielerisch und sinnlich, mal kritisch und politisch mit diesem Medium. Wie Frankenstein schaffen sie bizarre Databodys, kleiden schmunzelnd ihre Fans in "Netz"-Bikinis und führen gediegene Museumskuratoren aufs virtuelle Glatteis. Einige ihrer frühen Arbeiten zählen heute bereits zu den weltweit bedeutendsten der Netzkunst. Und so gehören Frauen wie Vera Frenkel, Eva Grubinger, Kathy Rae Huffman, Olia Lialina, Julia Scher, Cornelia Sollfrank, Victoria Vesna, Ana Voog und Eva Wohlgemuth zu den renommiertesten Künstlern des Internets. Von diesen Pionierinnen und von ihrer richtungsweisenden Arbeit handelt der folgende Artikel.

Titelbild von "Bodyscan", Eva Wohlgemuth

Kaum stand das erste Netzkunstwerk im Web, machten sich auch die Frauen auf, um zwischen 0 und 1, zwischen Bits und Bytes nach einer neuen Form der Kunst zu schürfen. Bewaffnet mit Computer, Internetanschluss und Software-Handbuch brachten sie sich das Programmieren bei, konzipierten net.art, diskutierten auf Symposien und strickten fortan eifrig mit am Regelwerk der internationalen Netzkultur. Ihnen ist es mit zu verdanken, dass net.art heute selbst von skeptischen Traditionalisten als Kunstform anerkannt und obendrein in den wichtigsten Museen der Welt präsentiert wird.

Mit net.art sind jene künstlerischen Werke gemeint, die extra für das Internet gemacht werden und obendrein dessen besondere Möglichkeiten nutzen oder kommentieren, beispielsweise die Interaktivität im virtuellen Raum. Oft spiegeln sie wider, was unsere Informationsgesellschaft bewegt in Zeiten von globaler Ortlosigkeit, digitaler Bilderlüge und der so raschen wie fragwürdigen Veränderung von Ethik und Moral. Mit scharfem Blick und noch mehr Humor bewegen sich Net.artistinnen durch die weitgehend noch regellose Welt des binären Codes. Unkonventionell und abseits von festgetretenen Kunstpfaden stricken sie mit am globalen Netzstaat und spiegeln - mehr oder weniger politisch korrekt - das Chaos im virtuellen Raum. Nicht ohne Grund schmunzelt der berühmteste Web-Witz: Im Internet weiß schließlich keiner, ob Du Mensch bist oder Hund.

Eigentlich fing es mit der Netzkunst recht harmlos an. Man könne doch, so überlegten ein paar Konzeptualisten, die eigene Kunst irgendwie für das Internet kompatibel machen. So auch Jenny Holzer. Die renommierte Amerikanerin, die für ihre "Truisms" und "Beliefs" bekannt ist - also für jene Wahrheiten und Glaubenssätze, die normalerweise als digitale Leuchtschrift auf Museumswänden flackern - bastelte im Mai 1995 ihre erste Website. Bei "Please Change Beliefs" dürfen sich die Kunstbetrachter wie sonst gewohnt einmal nicht nur visuell an den Binsenweisheiten erfreuen. Hier, im virtuellen Raum, werden sie zum Akteur. Sie sollen die Kunst verändern oder verbessern, dürfen ihr Wertpunkte verleihen - oder sogar etwas löschen, wenn es ihnen nicht gefällt. Die Interaktion, also das dialogische Spiel zwischen Werk und Kunstbetrachter, war es wohl, was die Künstlerin am meisten reizte bei ihrem Ausflug ins Internet.

Übrigens ist es keinesfalls so, dass die typische Net.artistin auch in ihrem Leben davor eine Bildende Künstlerin gewesen ist. Gerade hier gibt es viele Autodidakten. Logisch eigentlich, denn bis heute wird an den Kunstakademien nur selten das notwendige Handwerk gelehrt. Einige kommen aus fremden Berufsfeldern und landen eher per Zufall in der net.art-Szene. Und manche sind jung genug, um als ein Wesen der Internetgeneration mit großer Selbstverständlichkeit in die neue Materie zu rutschen.

Beispielsweise Olia Lialina. Eigentlich war die heute 29jährige Russin eine der bekanntesten Kinokritikerinnen Moskaus. Und drehte selbst zwei Filme, bevor sie die Geschäftsführung des Regime-kritischen Filmclubs Cine Fantom übernahm. Da Russland schon früh ins Netz ging, sollte er eine Homepage bekommen. Im Grunde ohne Vorkenntnisse, bastelte Olia Lialina im Trial and Error-Verfahren daran herum - und erkannt schon bald das große Potential des neuen Mediums für die Kunst.

"Zunächst überlegte ich, wie ich Film im Netz darstellen könnte", erinnert sie sich. "Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass das gar nicht sinnvoll ist. Aber wenn du es schaffst, deine ganz spezielle, filmische Art des Denkens ins Netz zu übertragen, dann erst wird es richtig spannend." 1

Und so war es: 1996 präsentierte sie ihr erstes Netzkunstwerk: "My Boyfriend Came Back from the War" (siehe auch www.teleportacia.org/war/). Aus dem Blickwinkel der Regisseurin, aber mit einer einfachen, Frame-basierten HTML-Technik erzählt Olia Lialina die Geschichte eines modernen Soldatenliebchens. Film gerinnt zu verfremdeten Bildern. Der Dialog abstahiert sich zum geschriebenen Textfetzen, ist kaum mehr als Fragment und Stakkato. Trotz - oder gerade - wegen dieser Lückenhaftigkeit, illustriert die Russin weniger auf dem Screen als im phantasiebegabten Hirn des Users das Liebesdrama. Der klickt sich ganz der persönlichen Neugier folgend durch das Werk, öffnet Frame um Frame - bis nichts mehr bleibt ausser gähnender Leere. Bilder und Texte haben kapituliert, die Liebe auch. Ende des Films.

Olia Lialinas Frühwerk zeigt, dass selbst mit minimalen Programmierkenntnissen ein Netzkunstwerk von Weltruhm entstehen kann.

"Als ich anfing wusste ich absolut gar nichts. Als ich "My boyfriend came back from the war" machte, war das nichts anderes denn ein schlichtes Experiment mit Frames und HTML-Sprache. Es war mir überhaupt nicht klar, was ich da gemacht hatte. Dann hörte ich von den ganzen Theorien, die sich mit meiner Arbeit beschäftigten. Erst da fing ich an wirklich nachzudenken und Stellung zu beziehen."2

Inzwischen zählt die Russin zu den wichtigsten Stimmen der Netzkultur. Die meisten ihrer späteren Arbeiten sind hochpolitisch und beschäftigen sich in erster Linie mit dem Konstituieren des Netzes. Sie machte sich Gedanken zur Freiheit der Links ebenso wie über die Form der Netzkunstarchivierung. Und sie eröffnete "art.teleportacia", die weltweit erste online-Galerie für net.art, verkaufte sogar ein Werk - ein wichtiger Schritt für die Netzkunst.

In den ersten Jahren nämlich dümpelte die etwas haltlos im virtuellen Raum, kaum beachtet außerhalb der Internet-Gesellschaft, ja, sogar regelrecht verschmäht in der Welt der physischen Kunst. Abgesehen von ein paar mutigen und innovativen Leuten wollten viele mächtigen Museumskuratoren und Zeitungskritiker, gediegenen Kunsthistoriker und Galeristen zunächst nichts wissen von dem seltsamen Kram. So war die Netzkunst zwar frei von lästigen Marktmechanismen - aber es fehlte ihr auch an ganz realer Wertschätzung, an Lobby, Struktur und breiter Öffentlichkeit.

Also arbeitete Eva Grubinger von Anfang an mit Marketingstrategien. Schliesslich gibt es sogar ein echtes, anfassbares Label für ihren, naja, vielleicht nicht wirklich modischen, aber immerhin aus dem Internet geladenen "Netz-Bikini" - übrigens ebenfalls eine frühe Arbeit von 1995. Eva Grubinger hat es vor allem der Spass mit der Kunst im Internet angetan, aber auch die Verbindung der virtuellen mit der physischen Welt. Und während die echten Netzfreaks durch das Datenmeer surfen, greifen Grubinger-Fans zu ihrem künstler-gelabelten "Netz-Bikini" und schnorcheln lieber im ganz realen, irdischen Nass. Bei soviel Netzhype, fand sie, sei eben ein bisschen Relaxen angebracht. Dabei könne sich ja "frau" das Internet sozusagen metaphorisch um den Busen schnallen.3

Model mit "Netzbikini", von Eva Grubinger, 1995

Der Titel der Arbeit "Netzbikini" ist nämlich durchaus wörtlich zu nehmen. Die Österreicherin gibt auf ihrer Site akribisch genaue Anweisungen, wie man sich so ein Stück basteln kann. Da muss zunächst das Schnittmuster für den Bikini downgeloaded werden und mit der Schere ausgeschnitten. Hat man transparenten Netzstoff (sie schlägt die hauseigenen Gardine vor) zurecht geschnippelt und brav zum Bikini genäht, kommt das eigentlich Wichtige: Anziehen soll man das edle Stück und sich fotografieren lassen. Und nur wer Eva Grubinger den aufs Bild gebannten Corpus delicti schickte (einige sind auf der Site zu besichtigen), bekam postwendend das begehrte Künstlerlabel als Belohnung und durfte es sich in sein Netzkunstwerk einnähen.

Aus den vielbeklagten, passiv am Screen klebenden Konsumenten wurden auf diese Weise agierende Produzenten. Statt nur mit den Augen erfuhren die User virtuelle Kunst plötzlich auch mit anderen Sinnen. Und weil Netzbikinis nun einmal nicht allzuviel Haut bedecken, zeigt Eva Grubinger so ganz en passent noch ein paar andere Aspekte des Internets: Beispielsweise dass es doch recht einfach ist - vom heimischen Computer aus und in der anonymen Welt des Webs - seine unkonventionellen, vielleicht gar unmoralischen Ideen auszuleben. Exhibitionismus und Voyeurismus gehören immerhin zu den größten Triebkräften im Web. Und war beides noch unlängst als pervers verschrien, zeigt nun das Internet die nackte Realität: Es ist hoffähig geworden, eine menschliche Regung eben.

Doch hat natürlich nicht jeder soviel Mut, geschweige denn Freude am imperfekten Selbst. Für all jene, die immer schon gern ganz anders ausgesehen hätten, schafft die amerikanische Professorin Victoria Vesna Abhilfe - zumindest im Netz. Dort nämlich kann jeder Frankenstein spielen und sich seinen eigenen Cyberbody zusammensetzen. Die Körpermodelle der virtuellen Firma "Bodies INCorporated" aus dem Jahr 1996 sind dreidimensional - und erheben keinerlei Anspruch auf biologische Richtigkeit. Die Künstlerin erklärt:

"Es gibt 12 Materialien, aus denen man sich einen Körper 'bauen' kann - natürliche und synthetische. Man kann seinen virtuellen Körper aus männlichen, weiblichen und kindlichen Teilen zusammenstellen und in Echtzeit zusehen, wie der Körper entsteht. Alle zwölf Materialien haben eine geheime Bedeutung, die eine Kombination aus alten alchimistischen Texten und modernen Marketingstrategien ist."4

Den Kopf aus Lava, schokoladig das Bein, Arme wie ein Kerl und Brüste von entzückender Weiblichkeit - alles kein Problem. Ob Frau, Kind, Mann oder Hermaphrodit, ganz egal; Cyberbodys sind keine Grenzen gesetzt. Ach, wenn es doch hier auf Erden auch so einfach wäre. Victoria Vesna zeigt mit ihrer Arbeit die unendlichen Möglichkeiten des Internets, den Spaß an der Scheinpersönlichkeit und am hemmungslosen Klonen. Völlig frei von schweißtreibendem Fitness-Hype und schmerzhafter Brustvergrößerung darf hier jeder seinen Körper ganz anders modellieren, als Gott - oder Gene - ihn schuf. Dass die Künstlerin für abgelegte Cyberbodies auch gleich einen Friedhof zur Verfügung stellt, ist mehr als konsequent.

Zudem: Dass sich Victoria Vesna ausgerechnet dem Körper zuwandte, ist sicherlich kein Zufall. Von je her sind es vor allem die Frauen in Kunst und Geisteswissenschaft, die sich intensiv Gedanken machen über Gender und über die Bedeutung des Leibes. Mit "Bodies INCorporated" hat jeder Netzsurfer grundsätzlich die Möglichkeit, zumindest virtuell ins andere Geschlecht zu schlüpfen. Wie dieses Werk überhaupt erst ermöglicht, sich eines Körpers in jener Welt zu versichern, die ja nur aus Daten besteht und doch eigentlich vollkommen körper- und raumlos ist. Auch das sicherlich ein Grund, warum etliche Tausend User bereits das kostenlose Angebot des Kunstprojektes nutzten.

Kathy Rae Huffman und Eva Wohlgemuth finden neue Freunde in Sibirien. Foto aus "Siberian Deal", 1995

Ganz real am eigenen Leib erfuhren Kathy Rae Huffman und Eva Wohlgemuth die Unbill einer Rucksackreise durch Sibirien. "Wir hatten immer angenommen, dass es dort schrecklich wäre", erzählt Huffman über die Grundidee des Projekts "Siberian Deal". "Wir würden die Propaganda überprüfen, mit der man uns gefüttert hatte, die Gehirnwäsche, der man uns unterzog."5 Am 23. September 1995 ging es dann los, bewehrt mit Video- und Polaroid-Kamera, mit Laptop, Modem, Mikrofon, einem Satelliten-Navigations-Instrument und jeder Menge Landkarten. Während der ganzen Reise fütterten die beiden Net.artistinnen ihr online gestelltes Cybertagebuch mit digitalen Schnappschüssen, Videosequenzen und Texten. Und so begleiteten Menschen aus der ganzen Welt ihr Abenteuer zu Taiga, Wodka und Kolchose und machten ihnen per Email Mut. Denn abgesehen von technischen Problemen (ständig brachen die Internetverbindungen zusammen), gab es auch sonst manch Unwägbarkeit zu bewältigen.

Doch eigentlich ging es den Künstlerinnen ja um die Erforschung des Landes und seiner Menschen, und so gerieten sie auf einen recht zweifelhaften Trick aus der Kolonialzeit. "Wir wollten nicht bloß Künstler und Leute aus dem kulturellen Umfeld kennenlernen, sondern mit einer größeren Schicht zusammenkommen. Und beim Reisen war es halt immer schon üblich, dass man über den Austausch von Gastgeschenken in Kontakt kommt", so Eva Wohlgemuth6. Zwar hatten sie keine Glasperlen zum Tausch mitgebracht, aber doch recht vergleichbaren Westler-Tand. Da gab es Kämme, Lippenstifte, Schuhe und sogar einen Walkman: Glaubt man der Kunstsite, wechselte er den Besitzer gegen eine banale Dose Rindfleisch. Es geht eben nichts über die Pflege des guten alten Mythos vom armen Russen, der gierig nach allem aus dem Westen grapscht. Man kann es sich denken: Das Projekt entzündete die Gemüter in Ost und West.

Um eine mindestens ebenso zweifelhafte Art der Warenbeschaffung geht es in dem Projekt "Body Missing". Was die Kanadierin Vera Frenkel zu dieser Arbeit bewegte, ist das seltsame Schweigen über Hitlers Kunstraub-Politik. 1994, als Frenkel das Projekt zunächst als Videoinstallation begann und erst im Jahr darauf zu einer Internet-Version weiterentwickelte, wusste in der Öffentlichkeit kaum einer etwas über Hitlers sogenannten "Sonderauftrag Linz".

Hier, in seiner Geburtsstadt, plante der geltungssüchtige Diktator - der selbst Kunst studieren wollte, aber von der Akademie in Wien abgelehnt wurde - ein gigantisches Museum mit einer Sammlung, größer und vorzüglicher noch als die vom Louvre oder Vatikan. Dafür aber brauchte er entsprechend Kunst. Ein systematischer Beschaffungsplan wurde ausgearbeitet und fortan kostbare Werke aus ganz Europa zusammengeklaubt. Die Gestapo beschlagnahmte jüdischen Familienbesitz oder zwang politisch unliebsame Bürger zum Alibi-Verkauf. Wann immer eine gegnerische Stadt im Krieg fiel, wurden deren Sammlungen als Beutekunst geplündert und ins österreichische Geheimversteck transportiert. Mehr als 6000 Werke gelangten auf diese Weise in eine Salzmine.

Eine Menge Material also, um daraus kritische Netzkunst zu machen. Die Sitemap von "Body Missing" verdeutlicht, dass der Künstlerin das reine Abbilden der Tatsachen bei weitem nicht reichte. Vielmehr installierte sie im Netz eine komplizierte Verschränkung auf den Webseiten mit zeitgenössischen Beweisfotos und Dokumenten aus der Nazizeit, erfundenen Biografien, realen Personen und fragmentarischen Erzählungen - und versetzte das Ganze in die Stimmung einer Pianobar. Deren Musik ebenso wie kleine Video- und Tonsequenzen nutzen neben dem theoretischen auch das technische Potiential des Internets. Hier, inmitten der Transit-Bar, umflutet von den schmeichelnden Tönen des Klaviers und berauscht vom Getränk, treffen Stammgäste mit Fremden aufeinander, flüstern und erzählen: Von ihrem Leben und von der Erinnerung an früher, von der Flucht im Krieg und auch von eben jenen ominösen Listen, die das Linzer Diebesgut Adolf Hitlers dokumentieren. Frenkel lässt reale und fiktive Zeitzeugen auftreten. Sie plaudern und legen Briefe über ihre Geschichte vor. Sie diskutieren über Kunstsammeln und Kriegstrophäen, über das angebliche Verschwinden und den tatsächlichen Verlust eines Werkes. Mit Hyperlinks sind die Figuren mit ihren Erinnerungen, aber auch mit den anderen Menschen in der Bar vernetzt. Historisches trifft auf das Heute und verwirrt sich im fließenden Übergang.

Ein Tagebuch hält das Gehörte in seiner ganzen Lückenhaftigkeit fest. Und es sind gerade diese Fehlstellen der Geschichte, diese "Bodys Missing", die voller Aussagekraft sind. Site für Site entsteht eine hochkomplizierte und lückenhafte Historie in einer seltsamen Mixtur aus Realität und Fiktion. Es ist eine Geschichte, die sich ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende auseinandersetzt mit Schicksal, Vertreibung, Beutekunst und den blühenden Phantasiegebilden, die aus öffentlicher Schweigeverordnung entstehen. Dabei übernimmt Vera Frenkel wie zufällig das ethische Format des Internets, also jener Domäne, in der man niemals sicher sein kann, was wahr ist oder falsch. Das Netzkunstprojekt treibt ein hintergründiges Spiel mit dem seltsamen Verhältnis von Gedächtnis, Lücke und Kunst.

Cornelia Sollfrank

Eine regelrechte Eulenspiegelei mit der Internet-Wahrheit trieb die deutsche Netzaktivistin und Künstlerin Cornelia Sollfrank. Als nämlich die Hamburger Kunsthalle im Februar 1997 zur Eröffnung ihres dritten Hauses, der Galerie der Gegenwart, einen net.art-Wettbewerb ausrief, freuten sich die Kuratoren zunächst über die rege Beteiligung. Sie erhielten bald schon 280 Anmeldungen - die meisten von Frauen. Kunsthalle und Presse staunten lautstark über die ungewöhnlich weibliche Dominanz.

Was niemand ahnte: Mehr als zwei Drittel der Bewerbungen kamen von Künstlerinnen, die es gar nicht gibt. Allesamt waren sie ein Produkt von Cornelia Sollfranks frecher Fantasie. Die gnitze Cyberfeministin hatte virtuelle Scheinpersonen erfunden und sie mit fiktiven Namen, Adressen, Telefonnummern und sogar funktionierenden email-Adressen aus gleich sieben verschiedenen Ländern ausgestattet. Deren Bewerbungen mailte sie von Servern aus der ganzen Welt. Keiner schöpfte also Verdacht. Die simulierten Künstlerinnen bekamen das offizielle o.k. und durften loslegen. (siehe auch Programmierte Verführung)

An ihrer Stelle und mit Hilfe entsprechender Software kopierte Cornelia Sollfranks Computer wahllos und rein nach dem Zufallsprinzip massenhaft HTML-Material aus dem Netz. Gleich 127 angebliche "Netzkunst"-Projekte generierte die Maschine automatisch aus dem Datenstoff und schickte sie ein. Die Juroren verzweifelten an der sinnlosen Datenschwemme, die Werk für Werk sich nun wirklich nicht gerade durch ein erkennbares Konzept oder sonstigen Kunstgehalt auszeichneten. Man zuckte ratlos mit den Schultern - und vergab die drei Preise lieber an männliche Bewerber mit verständlicherem Projekt. Als die Künstlerin zur Aufklärung schritt, war man peinlich berührt und musste einsehen, dass Netzkunst eben doch etwas anders ist, als alles was man bisher so kannte. Es steht zu befürchten, dass es den Kuratoren der Hamburger Kunsthalle am notwendigen Humor fehlt: Zumindest lassen sie seither leider und mit großer Konsequenz die just verbrannten Finger von der noch und immer wieder überraschend anderen Kunst aus dem Internet.