Ohne Descartes keine wissenschaftliche und keine politische Zukunft

Florian Rötzer im Gespräch mit dem Chaosforscher Otto E. Rössler

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Nach vierhundert Jahren cartesianischer Wissenschaftsgeschichte ist Descartes umstrittener denn je. Der Chaosforscher, Entdecker des Rössler-Attraktors und Befürworter der Endophysik Otto E. Rössler, der Theoretische Chemie an der Universität Tübingen lehrt, zeigt in einem Gespräch, daß man Descartes und die Wissenschaft aus einer moralischen Perspektive würdigen müsse. Dadurch eröffnen sich ganz neue Perspektiven.

Descartesim Netz

Beispiel für eine postcartesianische Wissenschaft

Flucht aus dem Gefängnis

Am 31.3.1596 wurde René Descartes geboren. Er gilt als Gründer der modernen Philosophie und Wissenschaft, als Heros des Rationalismus und des Individualismus, gleichzeitig aber erscheint er auch als der große Schurke, der mit seinem Rationalismus nicht nur gescheitert ist, sondern uns viele Übel beschert hat, die man eben mit dem rationalistischen Programm verbindet. Sie sehen Descartes aus einer anderen Perspektive, aus der sich der cartesianische Rationalismus ganz anders als bisher bewerten ließe.

RÖSSLER: Ich finde ihn vor allem in moralischer Hinsicht bedeutsam. Man muß Philosophen und Wissenschaftler eigentlich nach moralischen Kategorien beurteilen, weil das Leben so kurz ist und anderes eigentlich keine Rolle spielt.

Descartes hat relativ wenig über Moral geschrieben, sondern eher ein Wissenschafts- oder Erkenntnisprogramm formuliert. Wie verbindet sich dieses Programm mit einer Ethik?

RÖSSLER: Ich sehe Descartes vor allem durch die Brille von Levinas. Eigentlich müßte ich es umgekehrt sagen, denn ich hatte zuerst Descartes gelesen und dann festgestellt, daß Levinas genau dasselbe sagt, was ich schon bei Descartes gefunden hatte. Es geht um die Macht des Menschen und um seine unendliche Verantwortung. Das steht im Hintergrund der ganzen Untersuchungen von Descartes. Er möchte dem Gefängnis entrinnen, das er in seinem schecklichen Traum 1619 erlebt hatte. Dort stand er vor der Frage, ob er nicht jemand sei, der von einem persönlichen bösen und allmächtigen Engel gegeißelt wird. Er hat gemerkt, daß man als Mensch, was man normalerweise verdrängt, immer so sklavenhaft lebt. Das ist uns heute im Computerzeitalter deutlicher vor Augen, wenn wir zum Beispiel an Rainer Werner Faßbinders Film "Welt am Draht" von 1973 denken, wo die programmierten Identitätseinheiten ihre wahre Lage erkennen. Er wollte dieser sklavenhaften Situation entkommen, denn er war ein leidenschaftlicher Anhänger der Freiheit. Bei seinem Programm geht es um die Frage der Emanzipation - der Entsklavung -, die er mutig vertreten hat. Man muß ja daran denken, was Giordano Bruno und Galieo Galilei kurz zuvor widerfahren ist.