Anonymität im Internet

Ein Bericht betrachtet anonyme Kommunikation als Verfassungsrecht

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Diese Wochehat der Spiegel das "Ende des Privaten" durch die immer besseren und umfassenderen Überwachungstechnologien ausgerufen. Allmählich spricht sich herum, daß der Ausbau der Überwachung und die Möglichkeiten, in die Privatsphäre einzudringen, immer mehr zunehmen. Das betrifft in besonderem Maße den Online-Bereich. Die American Association For The Advancement of Science (AAAS) ruft mit der Veröffentlichung eines von der National Science Foundation unterstützten Berichts die Regierungen dazu auf, sich bei der Beschränkung der anonymen Kommunikation im Internet zurückzuhalten.

Eine der Formen des Privatseins ist Anonymität, also ganz einfach unbekannt zu bleiben, selbst wenn man in aller Öffentlichkeit etwas in einem Laden kauft und mit Bargeld bezahlt, welche Zeitungen und welche Artikel man liest oder wann, wo oder mit wem man in ein Restaurant oder in ein Museum geht. Das vielgepriesene Internet hat mit seiner zunehmenden Kommerzialisierung jedoch gezeigt, daß die Gefahr der permanenten Identifizierung und Verfolgung jeder Handlung die man im Datennetz unternimmt, nicht nur vom jeweiligen Großen Bruder, sondern auch von den vielen kleinen Brüdern ausgeht. Und je mehr wir uns aus der vertrauten materiellen Welt entfernen und in die digitale Welt eintauchen, desto kenntlicher werden wir, paradoxerweise eben auch in unseren privaten Räumen, in denen wir im vernetzten Zeitalter stärker an der Öffentlichkeit teilnehmen und in ihr sind, als wenn wir uns in die "alten" öffentliche Räume begeben.

Die Menschen scheint die zunehmende Veröffentlichung des Privatlebens allerdings bislang noch wenig zu stören, zumindest ist nirgendwo eine große Protestbewegung zu bemerken. Aber es ist auch anstrengend, seine Anonymität im Internet zu wahren, auch wenn diese solange noch möglich ist, bevor wahrscheinlich bald andere ID-Verfahren wie Smart Cards, digitale Signaturen, biometrische ID-Verfahren oder andere Identifizierungsmechanismen den Zugang zum Internet regeln werden. Und gerade auch, weil anonymes Geld noch immer nicht vorhanden ist, wird die Überwachungsmaschinerie zum Besten der Internetkunden noch perfekter werden.

Eigentlich ist die Sache ja ganz einfach: Wo die Mittel fehlen oder einfach zu kostspielig wären, jeden Bürger bei jedem seiner Schritte zu verfolgen, gibt es schlicht Löcher im universellen Anspruch der kleinen und großen Brüder, jederzeit über alles informiert zu sein. Wo die Mittel aber vorhanden sind, werden sie auch eingesetzt. Daher die Begehrlichkeit, möglichst alles an persönlichen Daten der Menschen zu sammeln oder zumindest sammeln zu können, wenn dies erforderlich ist oder man dies wünscht. Noch gibt es allerdings zwischen den staatlichen Sicherheitsbehörden und den kommerziellen Interessen einen gewissen Widerspruch, der im Kapitalismus wohl nie ganz verschwinden wird.

Der Bericht der Wissenschaftler kommt jedenfalls zu dem Schluß, daß trotz mancher Mißbräuche der Anonymität die positiven Aspekte weit größer seien. Und sie erinnern alle Politiker, die auf die Wirtschaft und den Ausbau des E-Commerce setzen, daß Einschränkungen die Menschen nicht nur abhalten könnten, ihre (politischen) Meinungen zu äußern oder Rat zu suchen, sondern daß sie auch den E-Commerce und letztlich das WWW behindern würden. Argumente, die auf den Markt und die Mark kommen wohl doch noch immer am besten an. "Die Attraktion des Internet beruht teilweise auf der Möglichkeit, Anonymität zu gewähren ... Anonyme Komunikation stärkt die Internet kommunikation, und das Internet kann die anonyme Kommunikation stärken."

Gesellschaften haben sehr unterschiedliche Formen entwickelt, wie Anonymität und Verantwortlichkeit im Verhältnis zueinander geregelt werden. Beispielsweise müsse man sich in Deutschland polizeilich melden, wenn man umzieht, während man eine solche Verpflichtung in den USA als Verletzung des Verfassungsrechts betrachten würde. Für die Verfasser ist das Recht, anonym zu kommunizieren, jedenfalls eng mit den Verfassungsrechten der Meinungsfreiheit, des Rechts auf Versammlung und auf Privatheit verbunden. In den USA genießt bekanntlich das Recht auf freie Meinungsäußerung einen besonders hohen Schutz. Die Autoren verweisen auf ein Urteil des Obersten Gerichtes, daß das Recht eines Autors, anonym zu bleiben, "ein Aspekt der Meinungsfreiheit ist, die von der Verfassung geschützt wird." Daher sei anonyme Kommunikation im Internet ein "starkes Recht", das Vorrang vor anderen besitzt: "Die 'Voreinstellung' im Intrenet sollte freie Rede sein, und folglich muß es Kanäle für anonyme Kommunikation geben." Einzelne und Organisationen, wozu Online-Foren, Online-Dienste und Internetprovider gehören, sollten die Möglichkeit besitzen, die Bedingungen festzulegen, unter denen sie anonyme Kommunikation gewähren. Nach dem Prinzip der "Transparenz" müssen Internetnutzer deutlich über den Grad der Anonymität und der Vertraulichkeit in den Online-Angeboten informiert werden, die sie benutzen wollen.

Ausführlich wird das Für und Wider anonymer Kommunikation und die Möglichkeiten der Anonymisierung durch Remailer, Kryptographie oder Pseudonyme erörtert. Auf der Negativseite steht, daß Anonymität auch kriminelle Handlungen und Aktionen begünstigt, für die man sich nicht zur Rechenschaft ziehen lassen will: Aussenden von Spam oder "hate mail", Kinderpornographie oder Betrug. Dagegen ist Anonymität etwa beim investigativen Journalismus, zum Schutz der Privatsphäre, bei Beratung und Selbsthilfe, Beschwerden und Hinweisen auf Mißständen, bei politischer Verfolgung sowie für die Arbeits von Menschenrechtsgruppen und selbst für die Strafverfolgung, beispielsweise in Form anonymer Hinweise, wichtig. Anonyme Kommunikation habe die Komplexität, die es in moderen Gesellschaften stets gibt, aber auch ein Mißbrauch der Anonymität schadet der Entwicklung der Internetkommunikation, die vom wechselseitigen Vertrauen abhänge. Wie also läßt sich "gute" Anonymität schützen und unerwünschte vermeiden?

Hier winden sich die Verfasser des Berichts. Sie betonen einerseits die Notwendigkeit der Kryptographie oder die Möglichkeit, über Remailer seine Identität zu wahren, aber andererseits auch die, daß Missetäter identifiziert und bestraft werden sollten. Freilich argumentiert man hier vornehmlich "realistisch", da eine Identifizierung technisch und politisch sowieso auf Schwierigkeiten stoße. Was im einen Land strafbar sein kann, mag in einem anderen gestattet sein. Remailer lassen sich meist von allen benutzen, egal in welchem Land sie sich befinden. Zur Bekämpfung des Mißbrauchs müßte es also interntionale Abkommen geben, allerdings seien gesetzliche Regelungen auch nicht das einzige und schon gar nicht das beste Mittel, um dieses Problem zu lösen. Vorgeschlagen wird, einen Verhaltenscode zu entwickeln und die breite Öffentlichkeit, möglicherweise beginnend in der Schule, besser über die Techniken zur Wahrung der Anonymität zu informieren und sie vor den Risiken anonymer Kommunikation aufzuklären. Aber man weiß, daß dies auch nicht der Weisheit letzter Schluß ist. Die Angelegenheit sei so komplex, daß sie nicht schnell und einfach durch technische Mittel oder politische Entscheidungen gelöst werden könne. Überdies müsse es allen klar sein, daß es eine absoluten Schutz der Anonymität nicht gibt.

Doch nehmen gleichzeitig auch die Möglichkeiten der Überwachung im "wirklichen Leben" zu. Das Grundrecht auf Anonymität mag zwar die Nutzung des Internet und womöglich den E-Commerce stärken, aber es müßte überall geschützt werden. Und wie im Cyberspace würde dies nicht nur rechtliche Regelungen erforderlich machen, sondern auch die Entwicklung technischer Mittel. Bargeldlose Bezahlung, Videokameras, biometrische ID-Verfahren, elektronische Verkehrssysteme, GPS oder Satelliten schränken die Anonymität ein. Die Informationsgesellschaft insgesamt geht in Richtung einer permanenten Ausweiskontrolle und der Einrichtung von immer umfassnderen Datenbanken. So wichtig der Versuch ist, die noch existierenden Freiräume in einem neuen Medium zu wahren, so müßte die Möglichkeit der Anonymität doch in einen breiteren Kontext gestellt werden, um die Dimension der durch technische Mittel ermöglichten Veränderung unserer Gesellschaften im Verhältnis von Anonymität und Identifizierung überhaupt angemessen in den Blick zu bekommen.