Der Große Bruder macht den Kleinen Brüdern Platz

Reg Whitakers Buch "Das Ende der Privatheit"

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Kein Freiraum, weder privat noch in der Öffentlichkeit, in dem die Bewohner des utopischen Staates Oceana nicht von den aufdringlichen Blicken des Großen Bruders aufgespürt werden konnten: In George Orwells Klassiker "1984" verfügte der totalitäre Staatsapparat über eine Datenbank, die alles enthielt, was man über jeden einzelnen Bürger wissen musste. Den heutigen Staaten stehen dank der technologischen Entwicklung weit umfassendere Möglichkeiten der Überwachung zur Verfügung, als sich Orwell je hätte träumen lassen.

Obwohl einige Aspekte des Großen Bruders längst Wirklichkeit geworden sind, so ist es die unüberschaubare Zahl der "Kleinen Brüder", der kommerziellen Datenhändler, die heute jeden Winkel des Lebens aushorchen: Welche Seife eine Frau benutzt und welches Auto ihr Ehemann fährt, sind Informationen, die entweder freiwillig gegeben oder stillschweigend und unbemerkt, ohne Wissen des Betroffenen, gesammelt werden. In seinem Buch "Das Ende der Privatheit" geht der kanadische Politologe Reg Whitaker der Frage nach, wie und durch wen Macht in der "informativen Gesellschaft" ausgeübt wird. Und er stellt fest: Nicht der Große Bruder - die vielen Kleinen Brüder haben die moderne Gesellschaft zu Überwachungsgesellschaften verändert.

Orwells Schreckensvision musste in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder herhalten, wenn es darum ging, vor Volkszählungen, Überwachungskameras, Kreditkarten oder Scannerkassen in den Supermärkten zu warnen. Doch heute müssen wir uns der Frage stellen, ob uns vielleicht so sehr daran gelegen war, einen totalitären Großen Bruder im Orwellschen Sinne zu verhindern, dass wir "die Ankunft von Millionen geschwätziger Wichtigtuer gar nicht bemerkt haben".

Der Tankstellenbesitzer filmt seinen Kassenraum, die Bank überwacht ihre Geldautomaten, Adressenhändler nehmen jedes Haus in Großstädten auf: Über 300.000 Überwachungskameras werfen allein in Deutschland mehr als nur ein Auge auf die Menschen. Dadurch wird eine immer größere Anzahl von Tätigkeiten in Informationsverarbeitung umgewandelt. Dieser Befund ist mittlerweile ein Allgemeinplatz, doch Reg Whitaker stellt die Frage, wie individuell dagegen anzukommen ist. Reicht es, sein Online-Bankkonto zu sperren, die Kreditkarten wegzuwerfen und keine Garantiescheine mehr auszufüllen?

Eine alles erschöpfende Antwort hat auch der Politologe aus Toronto nicht parat: Lesern, die sich seit Jahren mit der Materie befassen, kann er nur wenig Neues bieten. "Das Ende der Privatheit" ist ein Buch, das sich um das große Publikum bemüht, das den Zuwachs an Möglichkeiten, den das Internet bietet, begeistert begrüßt hat, ohne dabei die Schattenseiten des Mediums zu erkennen. Reg Whitaker führt vor, wie vielfältig die Einflussmöglichkeiten sind, die sich zum Beispiel schon daraus ergeben, dass allein in Deutschland über 1.300 registrierte Adressenhändler daran arbeiten, eine digitale Karte der Konsumgesellschaft im Maßstab eins zu eins zu entwerfen.

Das Modell, an das sich Reg Whitaker bei der Konstitution von Macht in der Überwachungsgesellschaft hält, geht zurück auf den englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832). Lange vor Orwell stellte Bentham seine Idee für einen Gefängnisneubau vor, dessen Grundprinzip darin bestand, dass jeder Gefangene allzeit das Gefühl haben musste, von seinen Wärtern beobachtet zu werden. Die Folge: Wohlverhalten unter psychischem Druck.

Benthams Modell des "Panopticons" überträgt Whitaker auf die Jetzt-Zeit. Auch in der modernen Info-Gesellschaft müssen die Menschen damit rechnen, jederzeit überwacht zu werden, und dabei in Kauf nehmen, dass ihre persönlichen Daten in kommerziellen und behördlichen Datenbanken gespeichert und ausgewertet werden. Die Stärke des "neuen Panopticons" beruht im Gegensatz zum alten darauf, dass die Menschen dazu neigen, freiwillig Teil dieses Systems zu werden, da dies in ihren Augen Vorteile mit sich bringt. Weniger wahrscheinlich ist, dass auch die Nachteile und Bedrohungen ausreichend wahrgenommen werden.

Reg Whitaker, eigentlich Spezialist für Nachrichtendienste, beschreibt in groben Umrissen den Übergang zur Überwachungsgesellschaft. Durch ihre dezentrale Struktur verkörpert sie ein andersartiges Machtgefüge als die herkömmliche Gesellschaft und wirkt sich nachhaltig auf Autorität, Kultur und Politik aus. Leider beendet Reg Whitaker mit diesem Befund seine Untersuchung, ohne noch einen Schritt weiter zu gehen. "Das Ende der Privatheit" erklärt umfassend und kompetent die gesellschaftliche Entwicklung im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart, einen Blick in das Machtgefüge des nächsten Jahrhundert wirft der Autor leider nur sporadisch.

Reg Whitaker: Das Ende der Privatheit. Überwachung, Macht und soziale Kontrolle im Informationszeitalter. Verlag Antje Kunstmann, München 1999, 260 Seiten, DM 39,80