Vom Slum zum Cyberspace

Ein Experiment in Indien zeigt, wie schnell analphabetische Kinder den Umgang mit Computern erlernen.

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Vom Slum zum Cyberspace? Diese Frage scheint eine unwahrscheinlich grosse Kluft aufzuwerfen. Indische Bildungs Experten haben dazu ein Experiment in Auftrag gegeben, welches erstaunliche Ergebnisse über das Erlernen von Computerfähigkeiten analphabetischer Kinder liefert.

Slum-Kinder in Neu Dehli haben sich selbst Computer-Kenntnisse beigebracht. Sie haben es sogar ohne Hilfe eines Lehrers geschafft, rudimentäre Fähigkeiten im Umgang mit Programmen zu entwicken und im Internet zu surfen.

Dieses Experiment basierte auf einem Konzept, das man als "minimalen pädagogischen Eingriff" beschreiben kann. Dieser Ansatz führte zu ebenso wundersamen wie erstaunlichen Erfolgen. Der Versuch beruhte auf einem "Computer-Kiosk", einem inmitten eines Slums in Neu Dehli installiertem Computer. Der Rechner war für Einwohner des Viertels ohne Einschränkungen zugänglich. Zugleich konnte die Firma NIIT, ein indisches Computerunternehmen für Lernsoftware, die Vorgänge auf dem Rechner verfolgen. Das Resultat der Untersuchung wurde kürzlich in einem Journal desselben Unternehmens veröffentlicht.

Stellvertretend für viele Slums in Indien weist auch Neu Dehlis Slumbevölkerung einen hohen Anteil an Kindern auf. Die meisten von ihnen haben noch nie eine Schule besucht, noch sind sie besonders mit der englischen Sprache vertraut.

Nichtsdestotrotz fühlten sich die Kinder vor dem Computer "pudelwohl". Sie begannen sofort mit verschiedenen Anwender-Programmen zu experimentieren und verstanden das Laden von Web-Sites auf anhieb. Die Kinder erfanden ihr eigenes Vokabular, um die verschieden Eingaben und Befehle an den Computer zu beschreiben. Sie benutzten z.B. Begriffe wie "Sui" für den Kursor. "Channels" für Websites und "kaam kar raha hai" (es arbeitet) für das Sanduhr-Symbol. Sie bildeten auch informelle Lerngruppen, um ihre individuellen Fähigkeiten zu steigern und auszutauschen. Gelernte Fahigkeiten steigerten sich von Suchen/Finden über das Anlegen und Kopieren von Dateien bis hin zur Kommunikation durch kurze Memos via MS Word ohne Eingabe über Tastatur.

Anfangs war den älteren Slumbewohnern absolut nicht klar, wozu der in eine Mauer eingebaute Computer-Kiosk gut sein sollte. "Ich denke nicht, dass sie verstanden, was wir vorhatten. Aber solange es ihnen keinen Platz wegnahm, kümmerten sie sich nicht darum." Bei einer Umfrage äusserten sich die Frauen der Umgebung skeptisch: "Wird uns das Essen bringen?", fragten sie. Versuche die Frauen zu überzeugen, den Computer zu benutzen, prallten gegen eine Mauer.

Anders bei den Kindern: "Sobald der Computer-Kiosk zur Verfügung, stand wurde er von Kindern zwischen 5 und 16 Jahren benutzt", bemerkten Sugata Mitra und Vivek Rana vom Forschungszentrum für Lernsoftware von NITT. Bald waren die Kinder absolut gegen die Idee, dass der Computer wieder entfernt werden sollte. Die Eltern konnten mit dem Kiosk zwar nichts anfangen und verstanden auch nicht, wozu er gebraucht werden sollte, doch zumindest sahen sie ein, dass er gut für die Kinder war. Für die Forscher ist mit den Resultaten ein klares Argument für die Einrichtung öffentlicher Terminals in Indien gegeben. Es müssten zwar noch weitere Forschungen betrieben werden, bevor weitreichendere Schlussfolgerungen gezogen werden könnten, doch sei damit bewiesen, dass man PC-Kiosks unter freiem Himmel in einem tropischem Klima betreiben könne.