Eine neue Rolle der Vergangenheit für die Zukunft?

MEMORIA FUTURA - Symposion des Wissenschaftsfestivals der Region Rhein-Sieg in der GMD Schloss Birlinghoven bei Bonn

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Ende der 1970er Jahre war die aus London stammende Künstlergruppe APG (Artist Placement Group) mehrfach zu Besuch in Bonn, unter anderem auch im damaligen Ministerium für Wissenschaft und Forschung. Dessen Staatssekretär Reimut Jochimsen - kürzlich verstorbener Chef der WestLB und auch dort starker Kunstförderer - bat einige Male zum Gespräch, weil die britisch-europäische Gruppe eine mögliche Form der Umsetzung des Weißbuchs 'Zur Nutzung künstlerischen Sachverstandes bei der Erfüllung von Ressortaufgaben' versprach, das das Zentrum für Kulturforschung 1976 erarbeitet hatte.

Die APG organisierte, nach einer Zeit-Basis-Theorie von John Latham1, projektorientierte Zusammenkünfte und Formen der Zusammenarbeit zwischen Künstlern unterschiedlicher Medien und Administrationen; in der Gruppe arbeiteten auf mehr oder weniger fester Basis Künstler wie der Literat Ian Breakwell, der Performer Stuart Brisley, der Musiker Hugh Davies und der Multimedia-Inszenator Jeffrey Shaw mit. Die Menschen in der Ministerialbürokratie waren von der Gruppe hellauf begeistert, setzten deren Ideen reihenweise um - aber ohne Copyright und ohne ein einziges APG-Projekt zu finanzieren.2

Das Spiel wiederholte sich in Wien, wo 1979 eine mehrstündige Debatte zwischen Künstlern und Ministerialen live im Fernsehen übertragen wurde - auch dort viel Interesse an der Idee und keine direkte Folge. Inzwischen ist APG vergessen. Einige der britischen Protagonisten leben von der Sozialhilfe und eher dürftigen Zuschüssen ihrer Galeristen, die auf ein besseres Geschäft mit den toten Künstlern hoffen; manche sind Wissenschaftler geworden, andere Lehrer an Akademien, viele haben die Integration von Kunst und Gesellschaft bereits völlig vergessen.

Das Prinzip hat sich jedoch so weit durchgesetzt, dass gelegentlich an die Pflanzer gedacht werden muss; und eine der Saaten konnte an einem Wochenende Mitte Dezember 1999 besichtigt oder gehört werden. Äußerer Anlass dieser Erinnerung waren zwei Details am Rande des Symposions, anscheinend nicht weiter beachtenswert: Zum einen war die Veranstaltung Teil eines Programms namens CAT (Communication, Art & Technology Network), das wiederum ein Teil von MARS (Media Arts and Research Studies) ist - im Erfinden von Akronymen waren wir schon damals groß -; zum anderen saß im Auditorium wie zeitweise auf dem Plenum einer der Ministerialbürokraten und ließ sich bevorzugt mit Wortmeldungen hören, die von kaum einer Sachkenntnis getrübt waren - dieselben Herren auf denselben Stühlen zwanzig Jahre danach. Andreas Wiesand, Gründer und Direktor des eingangs genannten Zentrums für Kulturforschung, beschränkte sich an diesem Wochenende aufs digitale Photographieren aus dem Publikum heraus.

Die GMD (Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung) betreibt seit längerem ein Programm zur Integration von Kunst, Computern und gesellschaftlichen Zusammenhängen, das seine Existenz den geschilderten Ursprüngen verdankt und das zunehmend von Geldern des Bonn-Berliner Umzugskontingents abhängig ist, die in die Förderung der so genannten Wissenschaftsregion Rhein/Sieg fließen. Da die Universität Bonn einen Schwerpunkt im Austausch mit Italien hat, bot sich an, mehrere Ebenen von Wissenschaft und Kunst miteinander zu verschränken - den Einsatz von Computern und Netzen in der Präsentation von Museen und Kulturdenkmälern, die Nutzung der Geschichte durch multimediale Künstler und schließlich die grundsätzliche Frage nach der Perspektive der Vergangenheit für die computerisierte und vernetzte Zukunft. Mihai Nadin konnte die Verschiebung dieser Bedeutung an mehreren Beispielen plastisch beschreiben, aber zu ihrer Klärung trugen seine Worte ebenso wenig bei wie das Programm der Tagung insgesamt.

Sie nutzte den Begriff 'Cultural Heritage' im Titel wie inflationär auf der einführenden Homepage, ohne den Hauch einer Umrisslinie. Das mag ein Grund gewesen sein, warum die Bonner Geisteswissenschaftler/innen, die sonst den Italien-Schwerpunkt so lieben, weil er schöne Dienstreisen und nette Besäufnisse (Symposien) garantiert, sich auf der Veranstaltung so rar machten. Dennoch war ein solider Teil des langen Wochenendes nichts Anderem gewidmet. Eine Ausstellungseröffnung, gefolgt von einer CD-ROM-Präsentation, dazu einige Statements über die sinnvolle Nutzung neuer Technologien in der Vermittlung etablierter, alter, linguistisch, also konventionalisierter Kunst machen in ihrer Gesamtheit bereits eine ordentliche Veranstaltung aus. Da störte es weniger, wenn die Ausführungen von Künstlerinnen und Kuratorinnen zur Netzkunst eher vage blieben und die Hörerschaft mit dem Gefühl allein ließen, dass ihre MUD- und Dungeon-spielenden Kinder zu Hause oder bei der LAN-Party doch kulturell und sozial innovativer erscheinen als die vorgeführten Arbeiten.

Obendrein machte sich an dieser Stelle die lokale Monopolstellung der Kölner Kunsthochschule für Medien unangenehm bemerkbar - was von dort kam, war wie immer perfekt programmiert, aber künstlerisch wie geschmacklich mindestens fragwürdig, wenn nicht im traurigsten Sinn des Wortes akademisch. Warum das Karlsruher ZKM entgegen der vorherigen Ankündigung nicht präsent, warum Mihai Nadins Wuppertaler Computational Design nur als Hintergrund seines Vortrags anwesend, warum die Hochschulen in Braunschweig und Berlin offensichtlich nicht eingeladen waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Der umfassende Anspruch der Veranstaltung war damit jedenfalls ebenso in Frage gestellt wie durch die Auswahl der internet-museal interaktiven Präsentationen, für die es auch andere mindestens gleicher Qualität gegeben hätte.

Kernstück und Höhepunkt des langen Wochenendes war ein Nachmittag voll Theorie - live im Fernsehen übertragen und mit allerlei Begleitung im Netz. Die gut gemeinte Erweiterung des Publikums war gleichzeitig Einschränkung des Symposions im Wortsinn. Die Moderation holperte von Einlassung zu Einlassung, die Übertragung verhinderte jede ernsthafte Diskussion außerhalb des dicht gepackten Programms, und die 70 Sekunden Zeitverzögerung zwischen den Rednern am Pult und ihren Gesten im Internet-Live-Bildchen waren nach einigen Minuten eher lästig denn für den Vergangenheitsbegriff der Veranstaltung metaphorisch. Der auf der Leinwand mitlaufende Chat-Room offenbarte trotz eingeladener Experten in erster Linie seinen medienimmanenten Verbal-Durchfall - "How glad I am to be here" war wohl die wichtigste Meldung des Tages. Und wenn ein anwesender Netzguru einem Anderen sein "Hi Derrick" nicht nur per Händedruck, sondern per Email mitten in den Vortrag hinein senden musste, ließ sich die Assoziation von "Harry, hol' schon 'mal den Wagen" kaum mehr vermeiden. Bestätigt wurden derlei mediale Vorbehalte noch während der ohnehin zu knapp bemessenen Diskussionszeiten: Neben VIPs und ausgewählten Prominenten kamen nur noch die Chatter zu Wort, Meldungen aus dem Publikum wurden geflissentlich übersehen. Der Qualität einzelner Vorträge tat dies alles glücklicherweise keinen Abbruch.

Mihai Nadin leitete den Nachmittag mit nahezu Flusserscher Präsenz und Showmanship ein; seine Kaskaden von freien Assoziationen überdeckten die Schwächen eines Ansatzes, der einerseits auf kunsttheoretischen Positionen der 1970er Jahre beruhte - nämlich der antizipatorischen Qualität von Kunst [quod erat demonstrandum, siehe Einleitung] - und andererseits einem Design das Wort redete, das in seiner restlosen, sterilen, technischen Qualität eher traurig stimmte. Es ehrte ihn, das ihn dieselbe Trauer ergriff, die dann auch den letzten Redner bestimmte und somit den Tag rahmte. Nadia Magnenat-Thalmann lieferte die fröhliche Antithese, von der alle Politiker/innen träumen: Wissenschaft in schneller Anwendung und flottem Verbrauch von Energie und Manpower (Der künstliche Mensch muss auch ästhetisch schön sein). Nadia Magnenat-Thalmanns künstliche Menschen dienen nicht nur der Medizin - bestechend die Version eines virtuellen Klons jeden Individuums, an dem jedwede Operation exakt vorbestimmt und vor allem übend simuliert werden kann -, sondern auch der Mode, dem Design, der Industrie und damit letztlich der Politik. Manch eine/r im Publikum schauderte, wie sie vollkommen unbefangen schilderte, dass sie ihre größten Erfolge im chinesischen Hongkong feiere, wo es halt ein wenig mit den Menschenrechten hapert; und mehr als merkwürdig mag anwesenden Frauen vorgekommen sein, dass Weiblichkeit bei ihr mit der Figur Marilyn identisch war - warum mag das Klon-Schaf nur Dolly geheißen haben?

Hinderk Emrich rückte die Schieflagen medialer Erotik jedoch schnell wieder zurecht; sein dichter Vortrag belegte aus psychoanalytischer Sicht ein Mal mehr den seit Kracauers und Arnheims Filmtheorien vermuteten Ersatz des mimetischen Gegenübers durch die Gesamtheit der Medien. Sein mediales 'Isolations-Paranoid' verdient eine Karriere als pädagogisches Schlagwort, auch wenn sich, wie in der Debatte klargestellt wurde, daraus kein ethisches Postulat gewinnen lässt.

Christina von Braun schlug den großen Bogen von der Verschriftlichung des Denkens als Grundlage einer Suche nach Innovation, die zur Sucht der Zukunftsorientierung wurde, bis zur Verschiebung der Lebenssäfte aus dem Blut über die Nerven zu den Datenströmen. Selbst wer ihr nicht immer auf allen Wegen folgen wollte, musste ihr mindestens bei der Beobachtung zustimmen, dass jede neue Berechenbarkeit eine ihr übergeordnete Unberechenbarkeit evoziert - deutsches Denken nach dem Holocaust in höchster Differenzierung. Im allerletzten Satz kehrte sie dann zu ihrem ureigenen Thema zurück, indem sie die Façettierung des Körpers angesichts des Internets als consecutiv beschrieb, während die Anwesenheit im realen Raum synchron, simultan, integral bleibe.

Derrick de Kerkhove präsentierte in ähnlicher Unbefangenheit wie Magnenat-Thalmann die schönen Welten vernetzter Gemeinschaften. Die Qualität seines Vortrags lag in den kleinen, kaum hörbaren Zwischentönen und Nebenbemerkungen, mit denen er beispielsweise die während des Symposions präsentierten Arbeiten in den Orkus des Unbedeutenden beförderte oder die Metapher des vorsätzlich fröhlichen Spielens in den virtuellen Welten verdammte. Vielleicht hätte Joseph Weizenbaum diese Zwischentöne besser wahrnehmen müssen, um sich den Zugang zu seinem Thema zu erleichtern. Seine Mahnung vor einer allzu großen Euphorie der computierten Prothetik war wie üblich mit Hinweisen auf das Wörterbuch des Unmenschen gespickt - dabei saßen weder Sloterdijk noch einer seiner ausgewiesenen Fans im Publikum. Doch er brauchte lange, um seine Form zu finden, und manche mochten da schon nicht mehr mitgehen. Leider war die nachfolgende Debatte weit unter dem Niveau des zuvor Angedeuteten, was eine behutsame und aufmerksame Regie hätte steuern können. Die Politikerrunde am Ende des Tages war der Erwähnung nicht wert - nur sollte Dennis Tsichritzis über die Rückgewinnung der Agora durch das Internet doch lieber noch ein Mal nachdenken. Auch in der Mathematik gibt es Hierarchien und männliche Mythen, die schwer zu überwinden scheinen.

Man tagte im Schloß Birlinghoven bei Bonn, einer kleinen Maison de Plaisance des 18. Jahrhunderts, die um 1900 einer tiefgreifenden Erneuerung anheim gefallen war. Der Raum besteht aus jener prunkvollen Mischung aus erstem und zweitem Barock, die die Kunsthistoriker meiner Generation leicht etwas graust. An den Wänden hängen Dutzende von Bildern, oft in katastrophalem Erhaltungszustand - aber Rahmen und Decken und Wanddekoration sind ganz ordentlich restauriert. Kein Redner verwies auf die Kulisse, kaum ein Besucher sah auf die Bilder, von denen eine ganze Reihe dem Thema durchaus nahe waren. Was hätten die Debatten von der Virtualität heroischer Landschaften - vier komplementäre Stücke hoch oben an den beiden Seitenwänden - profitieren können, was wären die geklonten Menschenbilder vor der Idealisierung barocker Portraits - mindestens fünf in nahezu karikierender Form angemaßter Würde - in digitalen Staub zerfallen. Doch darauf kam niemand. Vielfach wurde Bezug genommen auf die körperliche Anwesenheit derer, die dort miteinander diskutierten oder einander wenigstens zuhörten. Doch auf den Raum, in dem man zusammen gekommen war, nahm keiner Rücksicht.

Mihai Nadin beklagte in seinem Vortrag, dass deutsche Student/innen der 1990er Jahre mit dem Namen Norbert Wiener nichts mehr anfangen konnten, dass Stanford-Student/innen des Jahres 1999 das Wort Kybernetik nicht mehr kannten. Doch er meinte fröhlich, dass diese Menschen dennoch eine Erinnerung, eine Vergangenheit, ein kulturelles Erbe in ihre zukünftigen Gestaltungen einbrächten - auf andere Weise eben. Das genau war ein Teil der Time-Base-Theory von John Latham und Arbeitsbasis der britischen APG, aber die ist ja schließlich auch schon vergessen. Was also bleibt nach einem solchen Wochenende, ist die Beunruhigung darüber, dass selbst die, die 'Cultural Heritage' wie die 'Zukunftsregion' im Schilde führen, darüber nicht mehr reflektieren können. Da kann es einem mit Joseph Weizenbaum ganz schön Angst und Bange werden um den Fortbestand der Menschheit. Er gab uns allen noch fünfzig Jahre auf diesem Planeten und bekräftigte dies mit einem Zitat von Elie Wiesel: "Man muss glauben lernen, dass das Unmögliche möglich ist." Eine Memoria futurae ist per se unmöglich, das Futur memoriae ist ungewiss, und die Memoria futura sind die Möglichkeiten des Unmöglichen. So sei es.