Auch beim diesjährigen Chaos Communication Congress spukt Tron weiter

Der CCC und die Eltern des Berliner Starhackers werfen der Polizei Versagen beim Ermittlungsverfahren vor und weisen auf zahlreiche Ungereimtheiten hin

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Seit über einem Jahr beschäftigt die deutsche Hackerszene der mysteriöse Tod von Boris F., dem Berliner Superhacker, der mit dem Chaos Computer Club lose verbunden war. Der besser unter seinem Pseudonym Tron bekannte Computerfreak war im Frühsommer 1998 maßgeblich am Klonen von GSM-Karten für D2 sowie im Jahr zuvor am Knacken der Chipkarten für die Verschlüsselung des Pay-TV-Senders Premiere beteiligt gewesen. Mitte Oktober 1998 wurde er von Spaziergängern an einem Strick aufgeknüpft tot in einem Waldstück am südlichen Stadtrand Berlins aufgefunden, nachdem er gut vier Tage als vermisst gegolten hatte. Mord- und Verschwörungstheorien hatten daraufhin den CCC-Congress des vergangenen Jahres überschattet. Selbst das Gerücht, dass Tron von Industriellen oder der Mafia entführt worden sei und eine Puppe im Sarg liege, machte damals die Runde.

Auch dieses Jahr spukt der Geist von Tron wieder durch die Hallen des Hauses am Köllnischen Park in Berlin Mitte, wo der Chaos Communication Congress noch bis zum Mittwoch tagt. Den Tod des Starhackers zweifelt nach zwei Obduktionen zwar keiner mehr an, die Selbstmordthese von Polizei und Staatsanwalt steht dagegen stärker im Schussfeuer der Kritik des CCC, der Eltern von Tron sowie ihrem Anwalt als je zuvor. "Eine Fremdeinwirkung war unerlässlich", bringt Chaos-Sprecher Andy Müller-Maguhn die Meinung der Vertreter der Mordtheorie nach der genauen Analyse des offiziellen Obduktionsberichts sowie der staatlichen Ermittlungsakten auf den Punkt.

Was Müller-Maguhn am Montag Abend vor gut 200 Congressbesuchern vortrug, mag sich zunächst bizarr anhören. Zumindest steht es im vollkommenen Gegensatz zu den Verlautbarungen des Landeskriminalamts Berlin und den Theorien, die Burkhard Schröder in seinem vor kurzem erschienenen Buch über den Fall Tron herausgefunden haben will: Darin ist nachzulesen, dass es den 26-jährigen Hacker gewurmt hatte, dass seine Crackersoftware für die d-box im Internet auftauchte. Und zwar anscheinend so sehr, dass er sich mit dem Leben nicht mehr abfinden wollte.

Der CCC-Sprecher geht dagegen den "technischen Ablauf" des Todesfalls unter Berücksichtigung des offiziellen Obduktionsergebnisses noch einmal genau durch. Er berichtet von dem Mittagessen, dass Tron am Samstag vor seinem Tode gegen 13.00 Uhr zu sich genommen hat: Spaghetti mit Zutaten à la Mama. Nach dem Essen geht er "kurz weg", wie er seiner Mutter sagte, hebt noch 500 Mark an einem Geldautomaten für den Geburtstag von Oma ab - und kommt am Abend nicht mehr nach Hause. Fünf Tage später wird seine Leiche gefunden. Die Polizei ermittelt nach Alarmierung durch die Eltern und den CCC zu der Zeit bereits in dem Fall, allerdings nicht gegen Unbekannt, sondern gegen Tron selbst wegen Computerkriminalität. Einige Computer aus dem Zimmer des Hackers hat die Polizei deswegen beschlagnahmt - und erst vor kurzem zurückgegeben. Allerdings ohne die Festplatten, über deren Inhalte und Aufenthaltsort dem Landeskriminalamt angeblich keinerlei Erkenntnisse vorliegen.

Anwalt vermisst Jagdinstinkt bei den Ermittlern

Die Ungereimtheiten, die Müller-Maguhn gestern präsentierte, kreisen vor allem um den Obduktionsbericht: So hat der zuständige Mediziner beispielsweise anhand von Magenresten herausgefunden, dass der Todeszeitpunkt etwa drei Stunden nach Einnahme einer Spaghetti-Mahlzeit erfolgte. "Für uns steht fest, dass es sich dabei um das Mittagessen vom Samstag handelt", so der CCC-Sprecher. Trons Mutter habe sich für den Beweis dieser Behauptung sogar bereit erklärt, eine Vergleichsmahlzeit mit den von ihr verwendeten Zutaten zu kochen. Folgt man dieser These, so wäre Tron am Samstag bereits gegen 17 Uhr tot gewesen.

Der Obduktionsarzt ist sich gleichzeitig aber auch sicher, dass Trons Tod höchstens 24 bis 48 Stunden vor dem Auffinden der Leiche eingetreten sein konnte. Der Hacker müsste also am Dienstag oder Mittwoch erneut seinen Hunger mit einem Spaghetti-Gericht gestillt haben - zumindest glaubt dies die Polizei. Für Müller-Maguhn gibt es für die Zeitlücke zwischen den Nudeln und der Todesstunde dagegen nur eine Erklärung: "Die Leiche muss 72 bis 96 Stunden fachmännisch bei vier Grad Celsius gekühlt worden sein." Sie sei dann in der Nacht zum Mittwoch oder zum Donnerstag zum Fundort "angeliefert" worden.

Die polizeilichen Ermittlungen seien von Anfang an nur an der Selbstmordtheorie aufgehängt worden, klagt Müller-Maguhn. Andere Hinweise seien bewusst ausgeblendet worden. Neben den unverdauten Nudelresten wirft etwa die Vernehmung eines hochgestellten Scotland-Yard-Beamten, der angeblich Verbindungen zur Geheimdienst-Szene haben soll, im Fall Tron zahlreiche Fragen auf: Normalerweise würden Ermittler bei einem Kapitalverbrechen, als das die Polizei auf Grund von Aussagen des Vaters den Fall rasch einstufte, einen gewissen "Jagdinstinkt" an den Tag legen, weiß der Anwalt der Eltern des Hackers.

Bei dem ausländischen Polizeibeamten, der sich freiwillig zum Verhör bereit erklärt hatte, habe man jedoch entgegen aller Regel keineswegs nachgebohrt, sondern nur einen "einseitigen" Bericht aufgenommen. Die Schlussfolgerung des Anwalts ist, dass die deutsche Polizei den Hintergrund des Todes gar nicht aufklären will, um sich Komplikationen zu ersparen. Dadurch erkläre sich auch das "augenfällige Desinteresse" an der Überprüfung des Obduktionsbefunds. Insgesamt spreche aber mehr für ein Kapitalverbrechen als für einen Selbstmord. Ein Skandal sei es daher, dass die Polizei nicht einmal versuche, Licht in das Dunkel zu bringen, und dass die Presse die Aussagen der Staatsanwaltschaft und der Mordkommission des Berliner Landeskriminalamtes einfach schlucke.

Historische Empfindlichkeiten?

Reichlich Anlass zu Spekulationen bietet weiterhin das Job-Angebot eines israelischen Unternehmens, von dem Tron seiner Mutter berichtete. Man sei dort sehr interessiert gewesen an den Fähigkeiten des Chipkartenhackers, habe ihn zu mehreren Gesprächen eingeladen und mit "hochwertigen" Karten getestet, berichtete Müller-Maguhn. Viel Geld, einen Job im Ausland, der Trons anstehendes Bundeswehrproblem hätte lösen können, ein eigenes Labor mit aller Technik, die das Herz eines Hackers höher schlagen lasse, habe man ihm geboten. Doch Tron habe letztlich abgelehnt. "Durch sein 'non serviam', sein 'Ich werde nicht dienen' hat sich Tron als Sicherheitsrisiko entpuppt", glaubt der CCC-Sprecher.

Und dann seien da noch die Verbindungen des Chipkartenfreaks zur organisierten Pay-TV-Cracker-Szene gewesen. So habe sich zumindest einer von Trons angeblichen Freunden inzwischen dazu bekannt, "ein Mann mit zwei Gesichtern" zu sein, der vor allem die Ergebnisse der Arbeit des Hacker-Crackers kommerziell verwerten wollte.

Das Versagen der Polizei, befürchtet Müller-Maguhn wegen der Spuren nach Israel, könne man aber am ehesten noch mit der Angst erklären, "historische Empfindlichkeiten" nicht verletzen zu wollen. Viele Hinweise auf das Desinteresse der Mordkommission fänden sich noch im Ermittlungsbericht, der dem CCC vorliege. Veröffentlichen dürfe der Club ihn aber nicht, da es sich nach wie vor um ein "schwebendes Verfahren" handle. Denn auch wenn die Polizei die Akten im Herbst bereits geschlossen und zum Ausdruck gebracht hat, dass keine Hinweise auf ein Fremdverschulden zu entdecken gewesen seien, will der Staatsanwalt die vom CCC vorgelegte Liste der Ungereimtheiten nun doch noch einmal durchgehen.

Ein Nachspiel wird auch das Buch von Burkhard Schröder haben: Die Eltern hatten bereits das Erscheinen des Buchs verhindern wollen. Nun setzen sie zumindest alles daran, dass es bald aus den Läden verschwinden soll. "Es ist alles gelogen", empörte sich Trons Vater während der Diskussionsveranstaltung beim Chaos Communication Congress. Schröder habe ihn mehrfach falsch zitiert. Der Fall Tron wird also auch im nächsten Jahrtausend noch die Gemüter erhitzen.