Wer regiert den Cyberspace?

Code meint Larry Lessig in seinem Buch

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Lawrence Lessig ist Berkman Professor für "Cyberlaw" an der Harvard Universität. Dort hat er das Berkman Center für Internet & Gesellschaft aufgebaut. Im Gespräch mit "Telepolis" stellt er die wichtigsten Thesen seines Buches Code and other Laws of Cyberspace vor.

Lessig ist der Meinung, dass Code - technische Standards, die Hardware und der Softwarecode - die Verfassung des Cyberspace seien. Pessimistisch blickt er in die Zukunft des Cyberspace, da die unsichtbare Hand des Marktes die technische Struktur des Internet so verändern könnte, dass es mit der Freiheit in der digitalen Welt ein Ende haben wird. Lessig, der als führender Rechtsexperte für Internetfragen gilt, hat die US-Regierung bei ihrer Klage gegen Microsoft beraten und wiederholt vor dem amerikanischen Kongress über Internet-Regulation ausgesagt. Zur Zeit ist er Fellow am renommierten Wissenschaftskolleg zu Berlin.

"Es ist ein weitverbreiteter Glaube, dass der Cyberspace nicht reguliert werden kann, weil seine Grundstruktur immun gegen die Kontrolle von Regierungen sei." Lawrence Lessig, Autor des Buches "Code and Other Laws of Cyberspace", argumentiert dagegen. "Dieser Glaube ist falsch. Es liegt nicht in der Natur des Cyberspace unregulierbar zu sein, weil der Cyberspace keine Natur habe. Er besteht nur aus Code - die Software und Hardware macht den Cyberspace zu dem, was er ist. Und die kann man natürlich verändern."

Lessig der eigentlich Verfassungrechtler ist, sagt: "Der Cyberspace hat eine Art Verfassung - nicht wie die amerikanische Verfassung, die aus Gesetzestexten besteht, sondern eine Architektur, die bestimme Werte und Normen enthält." Im Gespräch macht er deutlich, warum ihn als Verfassungsexperte der Cyberspace interessiert: "Eigentlich liegt zwar meine hauptsächliche Expertise im Verfassungsrecht und im internationalen Vergleich des Verfassungsrechts. Aus meiner Sicht ist das aber genau das, was "Cyberlaw" ist."

Larry Lessig ist fasziniert von den Möglichkeiten des Cyberspace. Als Experte für Grundrechte verweist er immer wieder auf die Grundwerte des digitalen Raumes, welche die Gründungsväter, die Architekten des Netzes, in diesen eingebaut hätten. Nicht weil es die Technik vorschreibt, sondern weil sie es so wollten - "Design by Choice": Offenheit, Transparenz und Freiheit sind die Grundwerte des Netzes, die er beschützen will.

Ziel seines Buches ist, seine Leser wachzurütteln. Er ist der Meinung, dass sich der Cyberspace von einer relative freien Welt zu einer Welt, die relativ perfekt kontrolliert wird, verwandelt. Und er fügt hinzu: "Perfekter als die reale!"

Entgegen dem neoliberalen Mainstream bedauert er, dass Regierungen in diesem Spiel nur Zuschauer sind. Nicht sie regulieren das Internet. Er sieht viel eher die Kräfte der Wirtschaft als die neuen und dominanten Architekten des Cyberspace, die natürlich den Cyberspace nach ihrem Gusto - und zwar kommerzorientierten - umbauen werden. Anhand einer der schwierigsten Fragen im Netz, dem Schutz des geistigen Eigentums, warnt er vor den ungezügelten Kräften des Kapitals. In der gegenwärtigen Architektur des Netzes kann "geistiges Eigentum" nur schwer beschützt werden. Aber er ist sich sicher und betont, "dass in Zukunft Code, der geistiges Eigentum beschützt, sehr effizient weiterentwickelt wird - und zwar ohne das Mitwirken von Regierungen. Softwareentwickler werden Code herstellen, der geistiges Eigentum perfekt schützt, besser als das jemals mit Gesetzen möglich wäre. Von einem rechtlichen Standpunkt aus gesehen, ist das sehr besorgniserregend. Zuviel Schutz war noch nie gut, deshalb sollten wir die Macht von Code limitieren."

Seine Forderung ist simpel und doch in einer Zeit überraschend, in der "government bashing" auch unter Amerikas Intellektuellen ein Modesport geworden ist: "Wenn die Wirtschaft die entstehende Architektur des Cyberspace definiert, ist es dann nicht die Aufgabe der Regierung, unsere Werte, die nicht im Interesse der Wirtschaft sind, auch im Cyberspace einzubauen?"

Zwar ist er in seinem Buch eher mit der Diagnose des Problems - der gerechten Regulation des Cyberspace - beschäftigt, als dass er Lösungen anbietet, doch er will zumindest seine Leser aufwecken und zum Denken bringen.

Mit fast missionarischem Eifer unterstreicht er immer wieder: "Wir müssen über Regulation anders denken: Nicht jede Art von Regulation muss von der Regierung ausgehen. Regulationstheorien sagen: Gesetze regulieren dich ein wenig, der Markt reguliert dich ziemlich effizient und sozialen Normen regulieren dich natürlich auch. Mein Punkt ist, das Internet bringt einen vierten, sehr effizienten Regulator hervor - die Architektur des Cyberspace. Diese ermöglicht ein bestimmtes Verhalten, oder schränkt bestimmte Arten von Interaktionen ein".

Gesetze sind für den Juristen Lessig nur eine Art von Regulation. Gesetze können dazu benutzt werden, soziale Normen zu ändern, Marktverhalten zu beeinflussen, aber auch die Architektur des Netzes zu verändern. Regierungen können also Schritte unternehmen, diese Architektur mittels Gesetzgebung entsprechend ihrer Vorstellungen zu verändern, also den Cyberspace in einen regulierbaren Raum umzubauen. Wichtiger Punkt ist ihm immer wieder, Gesetze nicht unabhängig von der Architektur zu sehen, sondern deren Verbindung zu verstehen. Offen bleibt jedoch, wie Regierungen diese Werte in den Cyberspace einbauen sollen, der doch immer noch ein gordischer Knoten - global und grenzüberschreitend - für geographisch gebundenes Regierungshandeln bleibt..

Hier wird sein Buch auch zu einem rechtsphilosophischen. Lessig grenzt sich ab von den desillusionierten Regulierungstheoretikern, die das Ende des Nationalstaates beschwören oder alten Theoriegebäuden nachhängen, in denen der Staat immer noch der souveräne Alleinherrscher sei. Er verabschiedet sich von langweiliger Schwarz-Weiß Dialektik nach dem Motto: entweder Kontrolle oder Anarchie: "Perfekte Kontrolle hat es in der realen Welt nie gegeben." Wenn er von Regulierung spricht, dann in vergleichender Perspektive, nicht in einem absoluten Sinne. "An einem gegebenen Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt, wird ein bestimmtes Verhalten eher regulierbar sein als an einem anderen Zeitpunkt oder einem andern Ort." Für das Internet bedeutet dies, dass es zwar keine perfekte Kontrolle gibt, doch wie genau ein Raum reguliert wird, hat stets Auswirkungen darauf, wie dieser Raum genutzt werden kann. Der Harvardprofessor will, dass Regierungen ihre Macht anders definieren. Nicht mehr auf Grund der gerade in den USA allmächtigen "Constitution" und den Schriften der unantastbaren "founders" - den in jedem Zusammenhang zitierten Gründungsvätern des modernen Amerikas. Sie konnten sich weder den Cyberspace vorstellen noch seine Auswirkungen auf die geheiligte "free speech". Nach Lessig kreiert das Netz haufenweise "latent ambiguities", latente Zweideutigkeiten, die von den Gerichten nicht gelöst werden können: "Daher müssen wir uns auf andere Institutionen stützen." Welche das sein sollen, weiß er allerdings auch nicht und schreibt: "My claim, a dark one, is that we donŽt have such institutions. If our ways donŽt change, our constitution in cyberspace will be thinner and thinner regime."

Hier stellt sich nun die naheliegende Frage, warum er auf die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers nicht eingegangen ist. Das Berkman Center, welches er leitet, war immerhin einer der führenden Akteure bei der Gründung dieser Organisation. ICANN wurde letztes Jahr als Non-Profit Organisation von der US-Regierung gegründet. Als weltweit operierende Organisation soll sie ab September 2000 das DNS-System (Namensvergabe-System) im Internet koordinieren, die Vergabe der IP-Adressen neu regeln, neue Standards für Internetprotokolle entwickeln und das Root-Server System im Netz organisieren. Es handelt sich auf den ersten Blick zwar um zutiefst technische Fragen, doch haben diese sehr viel mit Politik und Recht zu tun, die exakt in Lessigs Argumentationsschema passen würden. Jeder Computer der über das Internet kommuniziert, benötigt eine eigene IP-Adresse. Wer die Kontrolle über die Vergabe dieser im Netz lebenswichtigen Adressen hat, hat auch die Kontrolle über das, was Menschen im Netz machen und wer Zugang zum virtuellen Raum hat. ICANN hat also vielleicht das Potential, zu einer Institution zu werden, die als Architekturbüro des Netzes fungiert und die Werte im Code beeinflusst. Lessig meint dazu - aus deutscher Sicht schwer verständlich: "Mich haben die nicht so offensichtlichen Akteure in diesem Zusammenhang interessiert." Ohne Zweifel ist Lessigs Analyse detailliert und eröffnet neue Perspektiven, doch fehlt gerade hier der zweite Schritt, um wirkliche Lösungen für das Regulierungsvakuum im Cyberspace zu füllen. Wie ICANN den Code des Netzes regulieren wird, gehört eindeutig zu den Fragen, mit denen er sich auseinandersetzt. Bleibt zu hoffen, dass an Lessigs Analyse andere anknüpfen und sich mit ICANN beschäftigen.

Doch auch aus anderer Perspektive ist Lessigs Buch empfehlenswert: Als Techniklesebuch und Logiktrainer im ultrakomplizierten Internetzeitalter, in dem alles mit jedem zusammenhängt. Sein klarer und gut strukturierender Stil führt den Leser durch technisch und juristisch komplexe "Sachverhalte". Seine Argumente sind logisch und stringent aufgebaut. Er ist Jurist aus tiefster Überzeugung. Man spürt beim Lesen, dass er seine Leser überzeugen will - "nicht mit rhetorischen Tricks", wie er betont, sondern durch die Kraft logischer Argumente. Er versteht unter "Cyberlaw" nicht die Auslegung verschiedener gerichtlicher Urteile, obwohl er in fundamentaler Weise, die Fehler bestimmter Gesetze des amerikanischen Kongresses kritisiert. Zum Glück für den Leser hatte er gute Lehrer, von dem andere Mitglieder seiner Zunft auch profitiert hätten. Er zitiert einen davon, der ihm beigebracht hat, dass "die meisten Menschen, die das Gesetz verstehen wollen, denken, dass sie einen Katalog von Regeln verstehen müssen. Das ist ein Fehler, da man das Gesetz am besten durch Geschichten versteht, die man später in Regeln zusammenfasst."

Aus diesem Grund erzählt Lessig Geschichten aus dem Cyberspace, die die Struktur des Alltags in der virtuellen Welt erklären sollen, den Unterschied zur realen Welt verständlich machen und das Zusammenspiel von technischen Codes, Gesetzen, dem Markt und sozialen Normen akzentuieren.

Lessig erzählt von der Ambivalenz der elektronischen Welt. In elektronischen Gemeinschaften leben Menschen als Avatare zusammen. In einigen ist es möglich, sich an jeden beliebigen Ort dieser Welt zu teleportieren. Die Begrenzungen der realen Welt sind aufgehoben. Gleichzeitig gibt es dort aber auch Verbrechen - Lessig erzählt die Geschichte einer virtuellen Vergewaltigung: Verbrechen gibt es dort wie in der Realität. Als Folge wurde in dieser Gemeinschaft die Demokratie eingeführt. Nun wird Fehlverhalten von den Bewohnern nicht nur diskutiert, sondern über Regeln und Strafen auch abgestimmt. Er folgert aus dieser Geschichte zweierlei: Erstens, geographische Determinanten sind aufgehoben, weil die Bewohner das so wollten. Wir haben also die Macht, über die Architektur des Raumes zu bestimmen. Zweitens, die Macht können wir auch ausüben und Regeln und Strafen implementieren.

In einer anderen erfundenen Geschichte über Glücksspiel in dem fiktiven Staat Bora wird Glücksspiel auf dem Internet verboten und alle beteiligten Server müssen schließen. Die Anbieter ziehen daraufhin in "safe havens", also in andere Länder um, in denen Glücksspiel legal ist. Der Staat verliert den Einfluss, denn an der Lust am Glücksspiel hat sich in Bora nicht viel verändert. Anhand dieses Beispiels zeigt er, dass Geographie in der Architektur des Cyberspace Nebensache ist und der Staat die Macht verloren hat, einfach "top-down" zu regieren.

Lessigs größte Sorge ist, dass die Freiheit im Cyberspace verloren geht. Er fürchtet, dass die Laissez-faire-Philosophie der Cyberlibertarier, die die neoliberale Politik im Cyberspace bestimmen, dessen ursprünglichen Wert - Offenheit - vernichten könnten. Die Grundfrage, die Lessig bewegt, ist: "Wie können wir sicherstellen, dass der sich verändernde Softwarecode unsere Werte reflektiert?" Die Diagnose ist brillant, doch kennt er leider auch nur die ersten Schritte der Therapie. Allerdings gibt es ohne gute Diagnose auch keine effektive Therapie. Am Besten kann man Lessigs Credo in einem Zitat von Mark Steffig zusammenfassen: "Different Versions of Cyberspace support different kinds of dreams. We choose, wisely or not."

Lawrence Lessig, Code and other laws of cyberspace, New York: Basic Books , p. 297, 30$