Wie das Web gewebt wurde

In seinem Buch legt "WWW"-Erfinder Tim Berners-Lee seine Visionen dar

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Wenn es einen Nobelpreis in der Informatik gäbe - Tim Berners-Lee hätte ihn verdient. Denn ohne den britischen Programmierer wäre der Zugang zum Internet wohl immer noch das Privileg einer kleinen Kaste von Geeks und Akademikern. Tim Berners-Lee ist der Erfinder des WorldWideWeb. Unter dem etwas öden deutschen Titel "Der Web-Report" und mit einem fürchterlichen Cover versehen liegt nun seine Autobiographie auch auf deutsch vor.

Eine Autobiographie ist das gar nicht - dafür ist Berners-Lee viel zu bescheiden. Der Privatmann kommt in dem Buch nur am Rande vor, im Mittelpunkt steht sein Werk, das WorldWideWeb. Und dessen Entstehung erklärt der heute 45jährige Berners-Lee in so einfacher und einleuchtender Weise, dass auch Laien seinen Schilderungen mühelos folgen können. Man darf wohl seinem Co-Autoren Mark Fishetti für die Klarheit und Verständlichkeit dieses Buches danken, denn wer Berners-Lee einmal im Interview erlebt hat, weiß, dass man es bei ihm mit einem - selbst für Programmiererverhältnisse - nicht gerade besonders artikulierten Menschen zu tun hat.

Wer wissen will, wie das Web gewebt wurde, ist mit diesem Buch hervorragend bedient. "Die Vision, die ich für das Web haben, ist, dass es möglich ist, alles mit allem zu verbinden", heißt es schon im Vorwort des Buches. Und in der Tat kam Berners-Lee die Idee für das Web, als er in dem Schweizer Kernforschungszentrum CERN arbeitete, und nach einer Methode suchte, um "alle Leute, Computer und Projekte in dem Labor miteinander in Verbindung zu setzen." Für Berners-Lee ist die Entwicklung des Webs übrigens keineswegs abgeschlossen, im Gegenteil: im zweiten Teil des Buches beschreibt er seine Zukunftshoffnungen für das WWW. Wenn es nach ihm ginge, soll es möglich sein, dass alle User Websites selbst editieren können; einen entsprechenden Browser hat das WorldWideWeb Consortium, das Berners-Lee heute leitet, bereits programmiert.

Bisher galten zwei Innovationen als die Hauptleistungen von Tim Berners-Lee: erstens entwickelte er mit dem Uniform Resource Identifier, heute besser bekannt als Uniform Resource Locator (URL), das Prinzip, dass jede beliebige Datei im Web, um gefunden werden zu können, eine eigene Adresse haben muß. Und zweitens schuf er mit der Hypertext Mark-Up Language (HTML) eine verhältnismäßig einfach zu schreibende Sprache, mit der alle diese Dokumente codiert werden konnten, und die sich ja erstaunlicherweise in ihren Grundzügen bis heute erhalten hat.

Berners-Lees Buch zeigt aber auch, dass es nicht genügt, eine gute Idee zu haben, sondern dass man diese Idee auch durchsetzen können muss. Was den "Webreport" so spannend macht, sind darum vor allem die Passagen, in denen Berners-Lee schildert, wie er seine Idee bei Konferenzen, in persönlichen Meetings oder bei informellen Treffen in den Büros des O'Reilley Verlags, wie er er bei der Jahresversammlung der Internet Engeneering Task Force (IETF) ebenso für sein Web kämpfte wie bei den Treffen von obskuren Hypertext-Fanclubs. Dass Berners-Lee aus Europa kam und keine mächtige Internet-Institution im Rücken hatte, machte seine Mission dabei nicht gerade leichter.

So erscheint es nach der Lektüre des "Web Reports" seine größte Leistung gewesen zu sein, die Webprotokolle in den Internet-Gremien durchgesetzt zu haben. Diese Vorgänge hinter den Kulissen sind bisher noch nie dokumentiert worden, und darum ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur Geschichtsschreibung des Internets, das da ansetzt, wo das klassische "Where Wizards stay up late" von Katie Hafner und Matthew Lyon endet. Ein Nebeneffekt der Schilderungen von Berners-Lees Ein-Mann-Kampf für das Web ist übrigens, dass einem der Mann als etwas hölzerner, aber herzensguter Nerd während der Lektüre immer sympathischer wird.

Sein Buch ist ein glaubwürdiges Zeugnis dafür, dass Berners-Lee es geschafft hat, so diplomatisch und konziliant zu agieren, um die Eigenschaften des Webs zu erhalten, die zu seinem Erfolg geführt haben: dass es ein offenes System mit offenen Standards ist, die für jeden einsehbar sind und an deren Entwicklung sich theoretisch jeder beteiligen kann. Die Passagen, in denen er erklärt, wieso das so sein muss, formulieren eine Art philosophisches Grundgerüst für das Web als Ganzes.

Dabei betont Berners-Lee immer wieder die entscheidende Rolle, die andere bei der Entwicklung des WWW gespielt haben: "Die Menschen des Internets haben das Web in echter Grasswurzel-Tradition entwickelt", schreibt er. Eine sehr schlechte Figur machen in diesem Zusammenhang übrigens die Mitarbeiter der University of Illinois, die Anfang der 90er Jahre mit Mosaic einen der ersten Browser für das Web schrieben: "Sie stellten sich selbst als diejenigen dar, die das Web entwickelt hatten, und versuchten, das Web in Mosaic umzubennen." (S.155) Zu ihnen gehörte damals auch der junge Marc Andreessen, der später als Gründer von Netscape einer der ersten Internet-Millionäre war. Ihn scheint Berners-Lee übrigens heute noch zu verachten, wie einige bittere Nebensätze verraten. Selbst dass Andreessen sich bei einem der ersten Web-Treffen am MIT weigerte, sich fotografieren zu lassen, vermerkt Berners-Lee penibel.

Tim Berners-Lee selbst hat durch seine Erfindung übrigens nie viel Geld verdient, aber das scheint ihn nicht zu stören: Geld sei für ihn nur das, was man damit tun kann, heißt es in dem Buch, und dann sind wir wieder bei dem, was Berners-Lee viel mehr interessiert: "Das Web ist eher eine soziale denn eine technische Schöpfung. Ich habe es erfunden, damit es soziale Auswirkungen hat, nicht als irgendein technisches Spielzeug." Könnte man diesem Mann nicht eine Briefmarke widmen, solange es noch keinen Nobelpreis für Informatik gibt? Oder wenigstens eine neue Programmiersprache nach ihm benennen? Er hätte es verdient.

Tim Berners-Lee (mit Mark Fishetti): Der Web-Report, 320 Seiten, 49,90 Mark, econ Verlag, München