Theorie der Müdigkeit - Theoriemüdigkeit

Wir sind erschöpft von der Akkordarbeit am Projekt der Moderne. Und angesichts dessen ist es geradezu eine Frage der Selbstbehauptung, diese Erschöpfung ins Positive umzudeuten. Aber wie könnte Müdigkeit als Happy End aussehen?

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Buridans Esel hatte es noch leicht - zwischen zwei gleichgroßen Heuhaufen zu wählen. Im Zeitalter der 100 Fernsehprogramme und 1000 Urlaubsziele widerspricht die Fülle der Optionen unserer begrenzten Lebenszeit. Permanent tobt der Kampf um die knappste Ressource: Aufmerksamkeit. Und es kostet Kraft, ständig nein zu sagen zum Möglichen. Ja, mehr noch: zu vielen Optionen kann man eigentlich gar nicht nein sagen; sie sind "musts", gesellschaftliche Verbindlichkeiten. Man denke nur an den sozialen Anschlußzwang der neuen Medien - in jedem Wohnzimmer ein Fernseher, auf jedem Schreibtisch ein Computer; und heute gilt: Man kann nicht nicht emailen. Wer hier nein sagt, überfordert sich, und wer mitmacht, ist gestresst.

Doch unser Thema ist ambivalent. Es gibt eben auch die wohltätige Ermattung. Müde ist man nach großen Anstrengungen - aber eben auch nach dem Orgasmus oder einer Partie Tennis. Ermüdet läßt man locker, die Zensur gibt nach. Doch daß die Vernunft hier die Zügel schleifen läßt, heißt eben nicht, daß hier nichts zu lernen wäre - im Gegenteil. Ermüdung und Erschöpfung lassen den "Gegenwillen" in Aktion treten: die, wie Freud sagt, nur "mühsam unterdrückten Vorstellungsreihen". Müdigkeit nähert uns also dem Verdrängten. Versuchen wir einmal, Beobachter der eigenen Müdigkeit zu sein.

Ursachen der Müdigkeit

Die Müdigkeit, nach der das Symposion fragt, ist natürlich nicht physiologisch sondern metaphorisch gemeint - man will damit die geistige oder wenigstens die Seelenlage der Zeit charakterisieren; also etwa so wie ein Kapitel in Thomas Manns "Zauberberg" "Der große Stumpfsinn" heißt.

Für diese Müdigkeit der Köpfe und Herzen gibt es subjektive wie objektiven Ursachen. Die wichtigste der subjektiven Ursachen nennt der Titel meines Vortrags: Theoriemüdigkeit - genauer: die Theoriemüdigkeit des kritischen Bewußtseins. Es ist heute nicht mehr kontrovers, daß der Zusammenbruch der realsozialistischen Utopie das Ende der Großen Erzählungen gebracht hat. Und schlimmer noch: Die Beobachtung von Jugendszenen hat in uns den Verdacht genährt, daß die Revolte immer schon ein Marketingeffekt war und daß unsere Kultur von einem Konformismus des Andersseins geprägt wird; formelhaft gesagt: Subversion als Mainstream.

Die wichtigste objektive Ursache der großen Müdigkeit kann man auf die Begriffe Blasiertheit und Posthistoire bringen. Was ist damit gemeint? Die moderne Gesellschaft überfordert ihre Individuen durch den Dauerstress der allzuviele Beziehungen. Die Netzwerke werden immer dichter (crowding), man hat zu viele "Bekannte" und damit Verpflichtungen - und das führt zur "Ermüdung aller sozialen Reaktionen" [Konrad Lorenz, Böse].

Georg Simmel hat das schon vor fast hundert Jahren als "Blasiertheit" beschrieben - als typischen Seelenzustand des modernen Großstädters. Blasiertheit ist die Folge davon, daß wir nicht genug Eigenkomplexität haben, um auf die Komplexität der modernen Welt angemessen zu reagieren. Zur Abwehr der Weltreize müssen die Großstädter "ihre letzte Kraftreserve hergeben"; die spezifisch moderne "Anpassungserscheinung der Blasiertheit" sichert also die Selbsterhaltung durch Weltentwertung, durch eine Art Training des Nichtreagierens. Der Mensch, das "Unterschiedswesen", paßt sich der modernen Welt also gerade durch eine "Abstumpfung gegen die Unterschiede" an [Georg Simmel, Brücke und Tür]. Die Differenzen werden noch wahrgenommen, aber nicht mehr mit Affekten markiert. Liebe und Haß sind einfach zu anstrengend. Auf der Suche nach dem neuen Reiz hält die Neophilie des Blasierten das Marktgeschehen in Gang. Man sucht ständig neue Reize, Events, Erlebnisse - aber dann, um Helmut Qualtinger zu zitieren: dann is uns faaaad.

Posthistoire - ermüdet vom Projekt der Moderne

Wie gesagt, die Diagnose ist nicht neu. Schon in Nietzsches "Zarathustra" tritt ein Wahrsager als "Verkündiger der großen Müdigkeit" auf; seine Botschaft lautet: "Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt." Das trifft ja zu. Doch was kann man daraus lernen?

Nietzsche führt eine frühe Inkarnation der Theoriemüdigkeit vor: den Skeptiker Pyrrho in seinem unaufgeregten Protest gegen den Sokratismus. Seine Haltung bestimmt Nietzsche als "weise Müdigkeit". Der Skeptiker unterbietet, er hängt niedriger, er ist der Gegenpol des Meisterdenkers. Der Skeptiker ist "spät gekommen; ermüdet" und er begnügt sich damit zu "glauben, was alle glauben". Pyrrho steht für den "Protest des Müden gegen den Eifer der Dialektiker" - Odo Marquard gegen Habermas, wenn man will.

Kein Mißverständnis bitte: Ich werbe hier nicht für Pyrrho, Zarathustras Wahrsager oder Odo Marquard, sondern ich möchte die Weisheit ihrer Müdigkeit herauspräparieren: sie sind des Sokrates, der Geschichtsphilosophie und der sozialistischen Heilsversprechen müde; und sie weigern sich, auf dem Arbeitsmarkt der Begriffe als Projektleiter der Moderne tätig zu werden. Wahrheit, Menschheit, Moderne - das haben sie hinter sich.

Postmoderne, Posthistoire, Postindustrielle Gesellschaft, postmaterielle Werte, Postfeminismus, posthumane Kunst - die Komposita mit "post-" haben Konjunktur. Welcher Wunsch meldet sich hier? Und wie sieht die Zeit aus, die sich selbst als "post", d.h. ja als "danach" erfährt? Hier lohnt es sich, einen Blick zurück auf die Soziologie des 19.Jahrhunderts zu werfen. Antoine Cournot hat erstmals das Bild einer zivilisatorischen Phase entworfen, die man dann Posthistoire, also Nachgeschichte, nennen wird: die Zeit nach dem Ende der Geschichte. Die Leidenschaften des politischen Lebens haben sich beruhigt; alle Interessen haben als gemeinsamen Nenner die Aufrechterhaltung des Status quo. Das Gesellschaftssystem stellt sich auf Dauer, indem es alle politischen Kräfte neutralisiert; dadurch werden alle Lebensenergien abgespannt. Und das bedeutet eben schon für Antoine Cournot: Die Geschichte löst sich auf wie ein Strom, der in tausend Bewässerungskanäle einfließt.

Blickt man vom Posthistoire zurück auf die Geschichte, so erscheint sie nur noch als ein flüchtiges Zwischenspiel. Und dieses kurze Zwischenspiel, das wir Geschichte genannt haben, endet, sobald sich die Gesellschaft wissenschaftlich fixiert hat. Die neue, nachgeschichtliche Welt stabilisiert sich im Faktenwissen. Das Organische wird vom Organisatorischen aufgesaugt. Absehbar wird ein Endzustand absoluter Kristallisation, in dem die Menschen wie Termiten ein Gehäuse endloser Routinen und Ereignisfolgen bewohnen. Dieses statische Zeitalter der Nachgeschichte hat dann wieder die Stabilität der Vorgeschichte erreicht. Es entwickelt sich ohne Krise, ohne Bewußtsein und ohne Freiheit. Und das heißt letztlich: ohne den humanistischen Menschen. So das düstere Bild von Cournot.

Dieses Bild zeichnet in dramatischer Verkürzung einen wesentlichen gesellschaftlichen Prozeß der letzten zweihundert Jahre nach, aber es ist nicht facettenreich genug. Denn unsere Zeit des "Post-" ist Entlastung und Verlust zugleich. Was wir Moderne nennen - also die Zeit zwischen der europäischen Aufklärung und dem Ersten Weltkrieg - hat uns mit idealistischen Zumutungen überlastet und mit humanistischen Idealen geködert. Deshalb haben wir heute eine ambivalente Einstellung zur Moderne: sie ist Utopie und Alptraum zugleich. Deshalb fällt es uns so schwer, souverän in eine neue Zeit einzutreten. Wir haben ein Entwöhnungstrauma der beendeten Moderne.

Was immer Postmoderne also heißen mag - das ist in jedem Falle ein Name, der für ein ganz bestimmtes, wichtiges Gefühl steht. Dieses untrügliche Gefühl sagt uns, daß unser Leben die Moderne überholt hat. Und ganz deutlich ist auch, daß es ein befreiendes Gefühl ist, "danach" zu sein. Wir sind den Alpdruck los, den man Moderne genannt hat. Die Moderne war eine Zeit avantgardistischer Projekte, die uns zu unserem Glück zwingen wollten: Wir sollten aufgeklärte Menschen, selbstdenkende Wesen, autonome Subjekte und mündige Bürger werden. Und wer hätte es gewagt, all das nicht sein zu wollen? Doch hundert Jahre Moderne haben gezeigt: Das waren Überforderungen und Glückszwangsangebote. Deshalb die Erleichterung des "post" - endlich haben wir das hinter uns!

Es handelt sich beim Posthistoire nicht um den Untergang des Abendlandes, also eine Verfallsphase, sondern um den Austritt aus der Geschichte. Sie endet wie eine Schachpartie in Pattstellung. Die nachgeschichtliche Welt läßt das Leben erstarren und herrscht mit der mythischen Macht der alten Naturordnung. Im nüchternen Rückblick auf die Kulturentwicklung der Menschheit verliert sich die Phase "Geschichte" als winziges Intervall zwischen Prähistorie und Posthistoire. Was sind schon 2500 Jahre auf dem Bildschirm der Evolution!

Ich möchte hier ein naheliegendes Mißverständnis gar nicht erst aufkommen lassen: Posthistoire heißt nicht, daß nichts mehr geschieht. Im Gegenteil, Ereignisse, Sensationen, Katastrophen allerorten! Aber es ändert sich nichts Wesentliches mehr in der Grundstruktur der westlichen Gesellschaft. Und der Rest der Welt hat kaum eine andere Option als die, sich an diese westliche Grundstruktur anzupassen.

Wie gesagt: Nachgeschichte heißt nicht etwa, daß nichts mehr geschieht! Im Gegenteil. Aber im Chaos der Ereignisse zeigen sich keine eigentlich historischen Strukturen mehr - denken Sie nur an den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien oder an die kriegerischen Zerfallsprozesse am Rande der ehemaligen Sovietunion. Der Unterschied, um den es hier geht, läßt sich ganz einfach an einem Vergleich von Vietnam-Krieg und Golf-Krieg ablesen. Der Golf-Krieg war ein Videokrieg, der auf den Bildschirmen des elektronischen Weltdorfes inszeniert worden ist - die äußerste Zuspitzung der Simulationskultur einer High-Tech-Gesellschaft. Der Vietnam-Krieg war das Hintergrundrauschen der Generation X - eine häßliche Zeit, aber, wie Douglas Coupland sehr schön bemerkt, "genuine capital H history times, before history was turned into a press release, a marketing strategy, and a cynical campaign tool." Zum letzten Mal wurde Geschichte mit großen Buchstaben geschrieben; seither ist das "historische Ereignis" zum Markenartikel der Politik geschrumpft. Als die Generation X, also die heute Fünfunddreißigjährigen, den Schauplatz der Geschichte betrat, endete gerade der letzte Aufzug.

Die Zeit, da Geschichte mit Großbuchstaben geschrieben wurde, ist nun endgültig vorbei. Geschichte ist heute nur noch ein Farbspektrum der Modepalette. Man könnte von einer Plazebo-Version der Geschichte sprechen. Was sich in der Welt ereignet, erscheint als kaleidoskopischer Bilderwechsel, und Hollywood ist die Schule dieser "imagification" der Geschichte. Stuart Ewen, Professor für Medientheorie am New Yorker Hunter College, bemerkt hierzu: "Postmodernism is about the rubble of history, rather than history itself. It's about the reduction of history to a set of images and surfaces. This isn't true just of postmodernism, of course, it was pioneered by Hollywood". Ich übersetze: Die Postmoderne hat mit dem Schotter der Geschichte zu tun; sie wird auf eine Staffage von Bildern und Oberflächen reduziert. Und das gilt nicht nur für die Postmoderne - Hollywood war hier natürlich der Vorreiter.

Europa: ein Museum

Die Hysterie der Geschehnisse ist selbst ein Erzeugnis des Endes der Geschichte. Weil es keine Geschichte mehr gibt, dürfen die Ereignisse nie aufhören. Weil es keine Ursachen mehr gibt, muß man Effekte ohne Unterbrechung herstellen. Weil nichts mehr Sinn hat, muß alles reibungslos funktionieren.

Jean Baudrillard

Vielleicht werden Sie sagen: Das ist Schwarz in Schwarz gemalt. Doch auch wenn diese Theorie vom Posthistoire übertrieben sein sollte, so trifft sie doch etwas Entscheidendes: Wir können unser Leben und unsere Welt nicht mehr aus der Geschichte heraus verstehen. Die historische Form ist ausgehöhlt. Gerade deshalb aber gibt es Heimweh nach Geschichte. Pilgerscharen ziehen ins Museum, um die Geschichte der Staufer und Etrusker zu erleben. Und im Recycling der Mode kehren die Jahrzehnte wieder, in denen wir geboren wurden.

Kein Mißverständnis bitte: All das ist nicht das Zeichen eines historischen Bewußtseins. Wir sind dabei, ein ironisches Verhältnis zur Geschichte zu entwickeln. Im Karneval der Zeiten bedienen wir uns ungezwungen aus der Requisitenkammer der Vergangenheit. Man benutzt postmodern die vergangenen Zeiten wie Mode-Farben, die man neu kombinieren kann. "Decade-Blending", Verschnitt der Epochen, nennen das die Designer der Generation X. Wer noch einen Sinn für historische Zeit hat, könnte sagen: Das Recycling der Mode ist eine Farce auf die zyklische Geschichtsauffassung.

Nirgendwo war Geschichte so sehr Geschichte im eigentlichen Sinne wie in Europa. Gerade deshalb verwandelt sich Europa heute, nach dem Ende der Geschichte, in ein Museum. Die amerikanischen und japanischen Touristen haben das schon sehr früh bemerkt. Man könnte sagen: Die Europa-Touristen aus Japan und Amerika sind die postmodernen Beobachter der Moderne.

Postmodern existiert, wer die Hinterlassenschaften der Moderne als Denkmäler wahrnimmt.

Hermann Lübbe

Was die mit Videokameras bewaffneten Menschen aus Seattle und Osaka in Europa suchen, sind die romantischen Ruinen einer vergangenen Epoche. Mit großem Recht hat man deshalb das Museum als Gesamtkunstwerk des 20.Jahrhunderts bezeichnet. Denn das Museum ist die Institution eines Eklektizismus mit gutem Gewissen.

Bei allem Spott über das "Museale" sollte man also nicht vergessen: Im Museum ist die Kultur von der Zwangsneurose des Avantgardismus befreit. Erinnern Sie sich nur an das Losungswort des Lyrikers Arthur Rimbaud: Il faut etre absolutment moderne! Das Museum Europa befreit uns von diesem spezifisch modernen Zwang, immer absolut modern sein zu müssen. Es zitiert die Moderne ironisch und denkt sie neu - als etwas Vergangenes.

Ein in Paris lehrender Philosoph russischer Abstammung, Alexandre Kojève, hat einen interessanten Gedanken Hegels radikalisiert. Um seine Schlüsselthese zu verstehen, muß man wissen, daß der Hegelsche Mensch als ein geistiges Wesen gedacht wurde, das durch "Negativität" und einen ständigen Prestigekampf um Anerkennung charakterisiert ist.

- Negativität heißt bei Hegel das Gegenteil dessen, was man vermuten würde. Die negative Energie ist nämlich das "Positivste" am Menschen. Hegel meint damit die Arbeit, auch die begriffliche Arbeit und alle Weisen des "Formens". Dadurch macht sich der Mensch frei von den Fesseln des Materials und der Natur; er wird Geistmensch.
- Prestigekampf meint den Kampf um Anerkennung. Hegel entwickelt ihn in seiner Urform, als Kampf zwischen Herr und Knecht auf Leben und Tod. Wichtig daran ist, daß der Mensch hier nicht aus Bedürftigkeit und Not, sondern wegen eines ideellen Werts sein Leben riskiert.

Kurzum: Der Kampf um Anerkennung und die Arbeit des Negativen machen für Hegel den Menschen erst zum Menschen. Und dieser Mensch stirbt am Ende der Geschichte im napoleonischen Endstaat. Denn jetzt ist der Prestigekampf um Anerkennung ja gewonnen, die Knechte sind seit der Französischen Revolution gleiche Bürger, von denen die Macht ausgeht. Es gibt keinen Grund und Ansatzpunkt mehr für "Negativität". Nun beginnt das Posthistoire; der nachgeschichtliche Mensch betritt die Weltbühne.

Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Sinn. Das Ende der menschlichen Zeit oder der Geschichte bedeutet ja ganz einfach das Aufhören des Handelns im eigentlichen Sinn des Wortes. Das heißt praktisch: das Verschwinden der Kriege und blutigen Revolutionen. Und auch das Verschwinden der Philosophie; denn da der Mensch sich nicht mehr wesentlich selbst ändert, gibt es keinen Grund mehr, die Grundsätze zu verändern, die die Basis der Welterkenntnis und Selbsterkenntnis bilden. Aber alles übrige kann sich unbegrenzt erhalten: die Kunst, die Liebe, das Spiel.

Alexandre Kojève

Kojève hat selbst radikale Konsequenzen aus dieser Diagnose gezogen und seine wissenschaftliche Karriere beendet. Denn wenn die Geschichte am Ende ist, endet auch die "große Politik" - und damit ist auch die Philosophie am Ende. Kojève wurde Beamter in der Europäischen Gemeinschaft. Die EG war für ihn "ein angemessenes Symbol für das Ende der Geschichte." (F.Fukuyama) Alles geschieht nur noch, als ob etwas geschehe. Die Fülle der Ereignisse gehorcht einem stabilen Pattern. Man könnte sagen: Seither hört die Geschichte nicht auf zu enden.

Die wohl berühmteste Figuration des Posthistoire ist Zarathustras Lehre vom Letzten Menschen.

Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühl über alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesentum

Friedrich Nietzsche

Sozialdemokratisch, konsensfähig und langweilig, könnte man sagen. Zarathustra bemerkt nun sehr schön, daß diese letzten Menschen das Glück nicht gefunden, sondern erfunden haben. Es handelt sich nämlich um die Narkose der kleinen Gifte und Rauschmittel. Diese Drogen betrügen den Menschen aber um seine letzten Kräfte - nämlich die Sehnsucht und die Verachtung. Das ist Nietzsches Urteil über den Grundvorgang der Modernisierung: Die langsam fortschreitende Behaglichkeit des Wohlstands führt zur geistigen Versklavung. Deshalb lehrt Zarathustra den Ekel am Glück und die Kraft der großen Verachtung. In einer grandiosen Nachlaßnotiz Nietzsches heißt es: "Unser Atheismus ist ein Suchen nach Unglück".

Traumlose Erstarrung

Schon um 1900 verbreitete sich also der Eindruck, daß die westliche Zivilisation in eine Endphase der Kristallisation eingetreten ist: Ein bloß noch biologisches Auf und Ab ersetzt die Geschichte, die Form des Lebens erstarrt zur Formel und der Lebensstil versteinert zum Typus. So hat der Kulturtheoretiker Oswald Spengler in seinem berühmten Werk über den "Untergang des Abendlandes" Goethes Faust (II.Teil) als Führer in die traumlose Erstarrung begrüßt. Entsprechend werden dann auch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse gedeutet: Die physikalische Lehre von der Entropie, dem Wärmetod, hat Spengler kurzerhand auf die Geschichtswelt übertragen und als eine Art Götterdämmerung verstanden.

Ob man also die Soziologie Antoine Cournots, die Geschichtsphilosophie Hegels, die Prophetie Nietzsches oder die Kulturtheorie Oswald Spenglers befragt - der Grundgedanke dieser Erfahrung des "Posthistoire", der Nachgeschichte ist stets folgender: Wenn die Zivilisation erst einmal in ihrem Grundriß fertig ist, dann gibt es keine Geschichte im eigentlichen Sinne mehr. Wir leben nun in einer Welt fortwährender Veränderungen, in der nichts anders wird. So hat man es also schon im 19.Jahrhundert gesehen, und nach dem Zweiten Weltkrieg haben dann Alexandre Kojève, Arnold Gehlen und - zuletzt - Francis Fukuyama diese These wiederholt.

Wenn man chronisch müde ist, empfiehlt es sich Sport zu treiben. Sport ermöglicht es, in einem engen, leicht überschaubaren Sinnbereich, in dem also chaotische Überkomplexität reduziert ist, dennoch hohe Komplexität aufzubauen. Die Fußball-Fans und Aerobic-Damen können dann ihr ganzes Leben in die Koordinaten ihres Sports pressen.

Diese überragende Bedeutung des Sports hat auch Francis Fukuyama, einer der wichtigsten außenpolitischen Berater der amerikanischen Regierung, der seine weltpolitische Standortbestimmung ganz in den Koordinaten von Kojèves Theorie des Posthistoire vorgenommen hat, klar erkannt.

Der alpine Bergsteiger hat alle Bedingungen des historischen Kampfes für sich neu geschaffen: Gefahr, körperliche Qual, harte Arbeit und schließlich das Risiko eines gewaltsamen Todes. Doch das Ziel ist kein historisches Ziel mehr, sondern ein rein formales: Man will der erste Amerikaner oder der erste Deutsche sein, der den K-2 oder den Nanga Parbat besteigt, und wenn das geschafft ist, will man der erste sein, der den Aufstieg ohne Sauerstoff schafft, und so weiter. Für den größten Teil des posthistorischen Europa haben die Weltmeisterschaften den militärischen Wettstreit als wichtigstes Ventil für nationalistische Bestrebungen ersetzt. Kojève sagte einmal, sein Ziel sei es, das Römische Reich wiederaufzubauen, diesmal jedoch als multinationale Fußballmannschaft.

Francis Fukuyama

Das Spiel des Sports ist also sehr viel mehr als nur ein Spiel. Um das zu verstehen, müssen wir uns noch einmal die zentrale These Alexandre Kojèves vergegenwärtigen: Zu Beginn des 19.Jahrhunderts hat die "Avantgarde der Menschheit virtuell" das Ende der Geschichte erreicht; in den nächsten 150 Jahren verfestigt sich dann der Weltlebensstil zum American Way of Life, zu dem es scheinbar keine Alternative gibt.

Doch Kojève selbst hat 1959, nach einer Japan-Reise, einen faszinierenden Einwand gegen seine eigene Diagnose formuliert. Denn in Japan ist er auf eine Kultur gestoßen, die einen radikal anti-amerikanischen Weg ins Posthistoire weist. Kojève spricht hier von einem japanischen Snobismus. Gemeint ist, daß die Japaner nach total formalisierten Werten leben - ihre zeremonialen Formen beziehen sich nur noch auf sich selbst, völlig abgelöst von jedem Inhalt. Es handelt sich also um eine Art Lebensartistik - denken Sie nur an die Samurai, das No-Spiel, die Tee-Zeremonien u.s.w. Übrigens findet sich eine ganz ähnliche Konzeption des Formensnobismus auch in Thomas Manns Roman "Doktor Faustus". Auch für die Kunst der Moderne gilt ja: Es gibt keine verpflichtend geltenden Konventionen mehr. Man kann das wissen und dennoch mit den leeren Formen "das Spiel potenzieren".

Nichts geht mehr - alles geht

All die komplexen Überlegungen zur Zeit nach dem Ende der Geschichte haben also ein simples Fazit: Nichts geht mehr. Und gerade darum gilt: Anything goes! Im Westen nichts Neues. Seit der deutschen Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch des "realen Sozialismus" verkünden aber einige Zeitgenossen: ...und sie bewegt sich doch! Es ereignet sich Weltgeschichte! Von hier und heute (nämlich 1989) geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und wir können sagen, daß wir dabeigewesen...

Während sich der Westen immer komfortabler im Posthistoire, also in der Zeit nach dem Ende der Geschichte einrichtete, schien sich im Osten noch einmal Geschichte zu ereignen. Man hat sogar von einer friedlichen Revolution gesprochen. Doch schnell ist auch wieder die Enttäuschung eingekehrt. Die Menschen im Osten haben sich beharrlich geweigert, den Intellektuellentraum vom "dritten Weg" eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu erfüllen. Auch dieses philosophische Projekt der Moderne war ein Glückszwangsangebot. Stattdessen wollten auch die Menschen des Ostens den Kapitalismus pur und ergaben sich der Magie der D-Mark. Sie sehnten sich nicht, wie einige unserer Linksintellektuellen flehentlich hofften, nach einem neuen Gesellschaftsvertrag, sondern nach dem, was Oscar Wilde so schön und böse die "Wonnen des Trivialen" genannt hat.

Ich meine also, daß gerade auch der große Wandel im Osten die von den Propheten des Posthistoire vorausgesagte Universalisierung des American Way of Life vorantreibt. Der westliche Lebensstil ist heute - zumindest was die Bedürfnisse der zivilisierten Menschen betrifft - ohne Alternative. Andy Warhol hatte recht: Die Welt ist schön, wo es McDonalds gibt. Jetzt ist auch Moskau schön.

Mit dieser Weltbeschreibung können sich Menschen arrangieren, die mit dem Liberalismus unserer formalen westlichen Demokratie zufrieden sind und die ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht haben. Doch die Theorie des Posthistoire ist natürlich ein Skandal für alle Linksintellektuellen, die ihre Identität mit der Utopie des "dritten Wegs", des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" verknüpft haben. Das Ende der Geschichte ist nämlich auch das Ende der politischen Linken. Verzweifelt halten sie noch an ihren Träumen fest - und verwandeln sich unversehens in die Reaktionäre der postmodernen Welt. Gebetsmühlenhaft predigen sie über Aufklärung und philosophische Projekte der Moderne. Das alles ist aber nur ein Ausdruck der theoretischen Farbenblindheit vieler Linksintellektueller. Meine These lautet: Die Linke erlischt wie die Philosophie der fortschreitenden Geschichte, an die sie seit der Aufklärung geglaubt hat.

Die psychische Arbeit des Abschieds von der linken Utopie ist so groß, daß die Energien der Kritik dramatisch schrumpfen; und dem kritischen Bewußtsein geht es nun wie einem Zwangskranken, der immer wieder, nach Freud, "in eine lähmende Müdigkeit" verfällt - und zwar "bei Anlässen, die offenbar einen Wutausbruch hätten herbeiführen sollen." Man muß eben sehr große Energien aufwenden, um Idealen treu zu bleiben, von deren Unhaltbarkeit man im Innersten längst überzeugt ist - wenn man etwa die SPD wählt. Das ermüdet. Der linksintellektuelle Wähler hat also schon ungeheueres geleistet, wenn er an der Wahlurne erscheint. Mehr an Engagement zu fordern, wäre rücksichtslos. Das scheint mir auch hinter dem Phänomen der Politikverdrossenheit zu stecken: Man ist erschöpft, wenn man sein Kreuz gemacht hat - zu vieles spricht dagegen, noch an gestaltende Politik zu glauben.

Wir sind erschöpft von der Akkordarbeit am Projekt der Moderne. Und angesichts dessen ist es geradezu eine Frage der Selbstbehauptung, diese Erschöpfung ins Positive umzudeuten. Aber wie könnte Müdigkeit als Happy End aussehen? Vielleicht müßte man Prometheus aus dem Heiligenkalender von Karl Marx löschen - der Revolutionär müßte begnadigt werden. Sein Auftrag wird unleserlich, die Schuld wird vergessen, die Tragik endet in kreatürlicher Erschlaffung. Prometheus wird nicht entfesselt, sondern in Ruhe gelassen. So lautet der Ein-Satz-Mythos Kafkas über unser Thema:

"Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde."

Das ist das gesuchte Happy End: Ermüdung als Surrogat für Begnadigung. Auch eine Gnade der späten Geburt.