Europäische Ursprünge - amerikanische Zukunft?

Ein extropisches oder hypermodernes Denken könnte die Lähmung Europas überwinden, die ihren Ausdruck in der Postmoderne gefunden hat. Die Menschen brauchen eine neue Frontier, um Visionen und Begeisterung zu entwickeln.

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Ich komme von England und bin nach Kalifornien ausgewandert, dem vielleicht am wenigsten europäischen Land. Mir erschien das wie eine Heimkehr. In England wuchs ich in den 70er Jahren auf. Das war ein Jahrzehnt mit hoher Arbeitslosigkeit, hoher Inflation und großer Armut. Die Menschen hatten die Erwartung, daß sie mit Nuklearwaffen bombardiert werden oder daß ein Atomkraftwerk in die Luft fliegt. Sie glaubten, daß alles falsch laufen könnte. Als Student sah ich Studenten, die mit schmuddeligen Kleidern und einem allgemein beklagenswerten Aussehen darauf warteten, daß alles zur Hölle geht. Ich fragte mich, was ich in einem solchen Land eigentlich mache. Es glich einem furchtbaren Gefängnis. Daher wartete ich auf eine Gelegenheit, um nach Kalifornien zu gehen. Ich floh, sobald ich konnte, und kam während der letzten zehn Jahre bislang nur für zehn Tage wieder zurück.

Meine Antwort auf die Frage: "Eine neue Aufklärung: europäische Ursprünge - amerikanische Zukunft?" geht dahin, daß ich nicht hoffe, es werde nur eine amerikanische Zukunft sein. Ich hoffe vielmehr, daß die neue Aufklärung ein globales Geschehen werden wird. Doch die Themen, die von mir angesprochen werden, sind im Augenblick vor allem in den USA anzutreffen - und hier besonders in Kalifornien und im Internet. Ein Bestandteil meiner Hoffnung, daß sich diese Ideen weiter verbreiten werden, rührt daher, daß sie im Internet eine großen Einfluß auszuüben scheinen und kein lokales Phänomen darstellen. An der Email-Liste, die wir gemacht haben, nehmen Menschen aus Schweden, Deutschland, Australien, also Menschen aus aller Welt teil. Aber natürlich stimmt es, daß die Mehrzahl aus Kalifornien stammt.

Wenn ich über die neue Aufklärung spreche, spreche von dem, was man Hypermodernismus nennen könnte. Ich bin ein scharfer Gegner der Postmoderne, weil sie für mich eine geistige Krankheit ist, und ein Befürworter der Supermoderne, die nicht einmal an amerikanischen Universitäten hoch im Kurs steht.

Die europäischen Ursprünge

Die europäischen Ursprünge der Aufklärung finden sich in den Ideen von John Locke und David Hume. Locke führte die empiristische Tradition ein. Empiristen sind der Überzeugung, daß wir unser Wissen aus den Sinnen gewinnen, daß alle Ideen an die Sinne zurückgebunden sein müssen. Wir müssen Ideen einer Wirklichkeitsprüfung unterziehen. Zur Aufklärung gehört, daß die Nutzlosigkeit des Mystizismus als bewiesen gilt, auch wenn der Mystizismus ein weites Gebiet ist und ich nichts gegen Meditation habe. Aber Mystizismus in dem Sinn, daß es einen anderen Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit gibt, ist irrational.

Zur Aufklärung gehört auch der schottische Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Adam Smith, der äußerst einflußreiche Ideen formuliert hat. Normalerweise gilt er als Wirtschaftswissenschaftler, der über die "unsichtbare Hand" nachgedacht hat, also daß Ordnung aus den Handlungen von Individuen in bestimmten Umgebungen ohne zentrale Steuerung entstehen kann. Man weiß, daß Darwin stark vom ökonomischen Denken beeinflußt wurde. Die ganze Idee der Evolution mit ihren Prinzipien entstammt dem ökonomischen Denken. Diese Ideen werden heute wieder sehr populär und als Selbstorganisation oder spontane Ordnung beschrieben. Ein solches Denken ist für unsere Zukunft wichtig und gehört zur neuen Aufklärung. Komplexe Ordnungen können aus den Handlungen von einzelnen entstehen, die freiwillig in Organisationen auf der Grundlage von möglichst wenigen Regeln zusammenarbeiten. Eine sinnvolle Ordnung entsteht normalerweise auf der Grundlage bestimmter Bedingungen, die Menschen die Freiheit gewähren, selbst neue Strukturen zu schaffen.

Zu den Wurzeln des Aufklärungsdenkens gehören auch Francis Bacon und die wissenschaftliche Methode, also die Vorstellung, daß es eine Methode zur Erkenntnis der Wirklichkeit gibt und nicht nur die Lektüre von Interpretationen, die man niemals als wahr erweisen oder der Wahrheit annähern kann. In Deutschland hingegen war Immanuel Kant sehr einflußreich. Ich habe Kant gegenüber allerdings gemischte Gefühle. Vieles in seinem Werk ist schlicht furchtbar und gefährlich und untergräbt das menschliche Glück. Andererseits war er ein starker Befürworter der Menschenrechte, der menschlichen Würde und Vernunft.

Noch umstrittener ist Friedrich Nietzsche, der ebenfalls zum neuen Aufklärungsdenken gehört. Er widerspricht sich selbst und sein Denken ist allen möglichen Spannungen ausgesetzt. Ich denke jedoch vor allem an seine Überzeugung, daß die Menschheit ein großartiger Beginn, aber noch nicht das letzte Wort sei. Menschen sind Teil des Evolutionsprozesses. Nietzsche sprach vom Übermenschen, was stets ein gefährliches Thema bei einer deutschen Leserschaft ist. Er wurde oft mißbraucht, doch er war pro-jüdisch und entschiedener Anti-Nationalist. Meine Deutung des Übermenschen geht dahin, daß die Menschen noch nicht fertig sind. Wir sollten uns nicht mit dem zufrieden geben, was wir sind. Wir sind nicht der Gipfel der Evolution, sondern wir sollten über uns hinausgehen, um uns permanent zu verbessern. Nietzsche gehört auch der Hypermoderne an, wenn man an seine Haltung der fortgesetzten Kritik und seinem Widerstand gegenüber geistiger Autorität denkt. Nietzsche wußte, daß er für spätere Generationen zu einem Guru werden könnte. Und die Haltung eines pankritischen Rationalismus, also die Überzeugung, daß geistige Autoritäten immer in Frage gestellt werden können, gehört zur Hypermoderne und unterscheidet sich vielleicht von der Moderne, die eine stärker auf Autorität gegründete Überzeugung von geistigen Maßstäben besaß.

Extropisches Denken

Ich habe selbst einige Ideen in den Kontext dessen gestellt, was ich extropisches Denken nenne. Extropisch leitet sich vom Begriff der Extropie ab, der wiederum von dem der Entropie stammt. Entropie ist eine physikalische Idee, die auf dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik basiert und strenggenommen wachsende Unordnung, Zerfall oder Degeneration bedeutet. Entropie ist die Folge eines Energieverlustes. Wenn man eine riesige Schale um die Erde bauen und das gesamte Licht der Sonne damit blockieren würde, dann würde die Erde zu einem geschlossenen System werden, und wir hätten immer größere Schwierigkeiten, die Zivilisation aufrechtzuerhalten. Wenn es Leben, Fortschritt und Wachstum in einem System gibt, dann muß von außen Energie kommen. Wenn Energie in ein System gelangt, dann kann es zu einer wachsenden Extropie kommen.

Wenn man genau sein will, dann ist Extrope nicht genau das Gegenteil von Entropie. In Wirklichkeit bedeutet Extropie zunehmende Ordnung, Information, Vitalität, Intelligenz und Kapazität für künftiges Wachstum. Wenn ich über die Hypermoderne oder die neue Aufklärung sprechen, dann spreche ich von Ideen, die mit einem permanenten Fortschritt zu tun haben. Zu glauben, daß alles besser gemacht werden kann, ist eine optimistische Sicht. Und genau diese Haltung oder dieser Zeitgeist scheint mir in Europa zu fehlen.

Timothy Leary sagte einmal, daß Menschen, die begeisterungsfähig sind, die eine große Energie und positive neue Ideen haben, dazu neigten, westwärts zu ziehen. Während der letzten Jahrhunderte zogen viele Menschen von Europa zur Ostküste Amerikas und schließlich nach Kalifornien. Vielleicht gibt es deswegen in Kalifornien so viele biotechnologische Firmen und Computerunternehmen. Weil die Computerindustrie so wichtig ist und weil sie derart schnell wächst, gibt sie den Takt für alles andere an.

Das extropische Weltverständnis hat viele unterschiedliche Aspekte. Zuallererst möchte ich festhalten, daß es kein Katalog von Glaubenssätzen ist. Es ist keine Ideologie, die auf festgelegten Katalog von Ideen beruht. Das extropische Denken gleicht weitgehend dem humanistischem Denken. Es bekämpft Dogmen, versucht sich ständig zu überprüfen und ist selbstkritisch. Es basiert eher auf einer Reihe von Einstellungen gegenüber dem Leben. Extropisches Denken läßt sich in sechs Prinzipien zusammenfassen.

Die Prinzipien des extropischen Denkens

Das erste Prinzip ist die unbegrenzte Forschung. Wer extropisch denkt, ist davon überzeugt, daß die Welt voller Möglichkeiten ist, daß das Universum der Erkenntnis offensteht. Wir können uns um die Erde herumbewegen, die Erde verlassen, unser Leben verlängern, neue Formen des Menschseins schaffen, unsere Identität verändern. Nichts ist heilig. Wir sollten alle unsere Überzeugungen hinterfragen. Wir sollten nicht glauben, daß wir von der Mutter Natur als in irgendeiner Form heilige Wesen geschaffen wurden. Wir können uns, unsere Wissenschaft, unsere Technik verbessern.

Das zweite Prinzip ist die Selbstveränderung, also die Idee, daß es erstrebenswert ist, uns persönlich andauernd zu verbessern, uns ethisch herauszufordern, unser Verhalten zu verbessern, unsere körperliche Gesundheit zu bewahren, der Menschen zu werden versuchen, der wir sein wollen, anstatt nur müßig der zu sein, der wir sind, und dafür unsere Eltern oder die Gesellschaft anzuklagen. Man muß wirklich für sich die Verantwortung übernehmen, wenn wir zu Menschen werden wollen, wie wir sie erstrebenswert finden.

Eine weitere wichtige Idee neben der Notwendigkeit, die Natur zu hinterfragen, ist die Überzeugung, daß wir das Leben verlängern sollten, weil wir eine Menge Zeit brauchen, wenn wir unsere Umwelt und uns verändern und Großes im Leben erreichen wollen. Bislang hatten die Menschen dafür nur drei oder vier Jahrzehnte Zeit. In dieser Zeitspanne kann man nicht viel machen. Daher sind die Extropianer der Meinung, daß man das Leben verlängern sollte. Wir finden es ein wenig verrückt, daß Millionen Dollar in Forschungsprogramme für seltsame Krankheiten gesteckt werden und es nahezu kein Geld zur Erforschung der grundlegenden Mechanismen des Alterns gibt. Viele der Krankheiten, unter denen wir leiden, hängen mit dem Altern zusammen. Wenn wir den Prozeß des Alterns verlangsamen könnten, wären wir in der Lage, Krebs, Herzerkrankungen und andere Probleme zu verhindern. Die Vorstellung, Hunderte von Jahren zu leben, entsetzt viele Menschen. Noch entsetzlicher aber scheint zu sein, dies erstrebenswert zu finden.

Ein weiteres Ziel ist die Übertragung des menschlichen Bewußtseins vom Gehirn auf ein anderes Medium. In einer extremen Form, wie sie vom Robotikforscher Hans Moravec beschrieben wurde, nennt man das Uploading. Das ist nichts anderes als die Übertragung von Informationen von einem Computer zu einem anderen. Vielleicht können wir im Prinzip entdecken, was in einem Gehirn vor sich geht und etwas erfinden, das dieselbe Aktivität produziert. Ich selbst bin der Ansicht, daß eher ein schrittweiser Übergang geschehen wird. Heute arbeiten bereits Wissenschaftler an künstlichen Neuronen. Der führende Forscher in diesem Bereich erzählte mir, daß wir möglicherweise in zehn Jahren Teile von beschädigtem Gehirngewebe und fehlende Gehirnfunktionen ersetzen können. Dann ist es kein großer Schritt mehr, in das Gehirn einen größeren Speicherplatz für das Gedächtnis und eine größere Verarbeitungskapazität einzubauen. Langfristig werden auf einer anderen Plattform und viel schneller denken.

Das fünfte Prinzip ist die wirtschaftliche und politische Anwendung der Idee der Selbstorganisation oder der spontanen Ordnung. In den USA nennt man die politische Ansicht, die diese Idee ernsthaft in den ökonomischen Raum übertragen will, Liberalismus. Liberale sind weder rechts noch links. Sie glauben, daß der freie Markt, wenn er richtig aufgebaut ist, die einzige Möglichkeit darstellt, die Gesellschaft zu organisieren, und daß er auf den Prinzipien der Evolution und der spontanen Ordnung basiert. Wir müssen nur sehr vorsichtig klare Regeln für das Eigentum festlegen und dann den Menschen die Freiheit geben, sich selbst zu organisieren.

Die letzte Eigenschaft des neuen Aufklärungsdenkens ist Skeptizismus, aber nicht Zynismus. Zynismus ist wahrscheinlich eine Eigenschaft des postmodernen Denkens, d.h. des Glaubens, daß Ideen ziemlich sinnlos sind, daß alles von unlauteren Antrieben verdorben ist, daß es keinen Sinn macht, etwas zu verbessern, weil es immer jemanden gibt, der dies mißbrauchen wird. Menschen mit einer extropianischen Orientierung sind gleichzeitig skeptisch und optimistisch. Für manche scheint das ein Widerspruch zu sein. Ich habe einen Begriff geprägt, der zu erläutern sucht, warum das nicht der Fall ist. Ich will nicht vom Optimismus, sondern von einem dynamischen Optimismus sprechen. Ein dynamischer Optimist ist niemand, der sich zurücklehnt und glaubt, daß schon alles gut ausgehen werde. Er sagt, daß das Universum für die Intelligenz, für Möglichkeiten, für unsere eigenen Fähigkeiten offen ist. Wir müssen die Dinge nur besser machen, indem wir unseren Willen und unsere Intelligenz einsetzen.

Gegen die Postmoderne

Für mich ist das postmoderne Denken ein gefährlicher geistiger Virus, der in Europa zu dominieren scheint. Das Problem besteht teilweise darin, daß das postmoderne Denken viele Ideen enthält. Ich wähle daraus nur jene, die ich für besonders unerfreulich halte. Eine sehr allgemeine Haltung im postmodernen Denken ist die Rebellion gegen eine objektive Wirklichkeit, also die Überzeugung, daß es keine Wirklichkeit gibt. Das ist die Weltanschauung des New Age, daß wir alle unsere Wirklichkeiten besitzen und daß sie unvereinbar sind. Die Hypermoderne geht hingegen davon aus, daß es da draußen eine objektive Wirklichkeit gibt, daß man sie entdecken und begreifen kann, aber daß sie nicht leicht zu finden ist. Es gibt Maßstäbe, weil es eine objektive Wirklichkeit gibt, aber man muß erkennen, daß wir keinen direkten Zugang zu ihr besitzen. Wir können unsere Sinnesdaten nicht als etwas Gegebenes nehmen, denn sie enthalten stets eine in sie eingebaute Theorie. Ich glaube nicht, daß uns das daran hindert, die Welt so, wie sie ist, zu erkennen, aber wir müssen uns unserer Theorien bewußt sein, die uns von der Struktur unserer Gehirne aufgezwungen werden. Wenn man Maßstäbe anerkennt, ist es entscheidend, daß sie hinterfragbar sind. Wir benötigen für den Fortschritt Maßstäbe, aber sie müssen immer einer Kritik unterzogen werden können.

Bis vor kurzem litt ein Großteil der Philosophie unter der Erbschaft von René Descartes. Er glaubte an Maßstäbe, aber sie waren falsch. Descartes suchte nach einer absoluten geistigen Autorität. Das war für ihn das klare Licht der Vernunft. Es stellte sich heraus, daß dieses von Gott garantiert wurde. Und alle kritischen Einwände zeigten, daß es als Maßstab nicht funktionierte. Aber seine Überzeugung, daß es einen absoluten Maßstab geben müsse, blieb über Jahrhunderte bestehen. Viele Empiristen suchten nach Verstandesformen, die sie für absolut hielten, oder nach Sinneseindrücken, die garantieren, daß wir die Dinge richtig sehen. Wir haben gelernt, daß diese Versuche gescheitert sind. Die Maßstäbe der Hypermoderne müssen revidierbar sein. Wir gehen von einer objektiven Wirklichkeit aus, weil wir die wirkliche Welt entdecken wollen, damit es einen wirklichen Fortschritt gibt, aber wir sind niemals sicher, daß unsere Maßstäbe die letzten und richtigen sind. Die Postmoderne neigt zum Zynismus, die Hypermoderne zur Skepsis.

Bei vielen Postmodernen bemerke ich einen Anti-Individualismus, der ganz allgemein aus dem Mißtrauen gegenüber der Vernunft des einzelnen entsteht. Wenn die Vernunft machtlos ist, dann müssen wir mit den kollektiven Strömungen mitschwimmen. Hypermoderne sind viel individualistischer und sprechen sich für individuelle Urteilskraft sowie persönliche Verantwortung aus. Postmoderne neigen zur Skepsis gegenüber der Technologie. Manche kämpfen aktiv gegen sie ganz allgemein. Manche sind zwar nicht prinzipiell gegen sie eingestellt, aber mißtrauen vielen ihrer Anwendungen. Für die Kreise, in denen ich mich vor allem im Internet bewege, ist eine extreme Begeisterung für Technik charakteristisch. Wir lieben die Technik. Wir lieben die neuesten Apparate. Wir lieben die DNA-Chips. Wir lieben die Hirnprothesen. Wir glauben, daß das gute Dinge sind.

Dynamischer Optimismus gegen die europäische Müdigkeit

Aus dieser superoptimistischen Perspektive will ich mich jetzt der Frage zuwenden, warum Europa müde ist. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Ich neige wegen meines philosophischen Hintergrunds dazu, Ideen als treibende Kräfte zu betrachten, selbst wenn es um Ökonomisches geht. Eine Idee Nietzsches, die christliche Sklaveneinstellung, ist einer der Gründe für die europäische Müdigkeit. Was ich an Amerika überhaupt nicht schätze, ist die Macht des religiösen Glaubens. Der Fundamentalismus ist hier sehr viel weiter verbreitet als in Europa. Das ist das einzige, warum ich Europa vermisse. Glücklicherweise stoße ich die meiste Zeit, die ich mit meinen Freunden im Internet verbringe, nicht sehr viel darauf. Ich bin stets überrascht, wenn ich einmal ausgehe. Eines Tages ging zum Friseur und die Frau, die meine Haare schnitt, war eine fundamentalistische Christin. Sie fragte mich, was ich mache, und wir begannen zu miteinander zu sprechen. Ich achtete sehr darauf, was ich sagte, da sie mit der Schere nahe an meinem Hals hantierte.

Ein wichtiger Grund für die europäische Müdigkeit ist die Tradition des Staates. Die Europäer sind damit aufgewachsen, daß der Staat zuviel macht. Es gab einmal eine Zeit, in der die Menschen dachten, daß die Regierung den Menschen ein wenig helfen und für sie sorgen könnte. Jetzt scheint es so zusein, daß die Menschen Hilfe von der Regierung als Recht einfordern, daß sie glauben, es sei ein Menschenrecht, auf Kosten anderer etwas zu erhalten, und daß jede einzelne Gruppe besondere Rechte haben sollte, die vom Staat garantiert werden. Jede Gruppe will ihre eigenen Rechte, was zu einer Menge Konflikte und Disharmonien führt. Die Folge des Wohlfahrtsstaates mit einer umfassenden Regulierung ist Arbeitslosigkeit und geringes Wirtschaftswachstum, worunter die Deutschen gerade leiden. Eine umfassende Regulierung macht es auch High-Tech-Industrien schwierig, in Gang und auf Touren zu kommen. Das ist ein Grund, warum Kalifornien so sehr von der Computerrevolution profitiert hat, denn diese kennt kaum Regeln. Natürlich haben die Menschen Angst, daß Microsoft ihr Leben beherrschen könnte, aber bislang hat das Fehlen jeder Regulierung zu einem explosiven Wachstum und extremer Innovation geführt. Die meisten Europäer - und auch viele Amerikaner - ziehen Sicherheit und ein garantiertes Einkommen dem gesunden Chaos des freien Marktes vor, der Industrien zerstört und neue schafft, der Menschen dazu auffordert, dynamischer zu sein und immer wieder Neues zu lernen.

Ich glaube, um zwei Ideen zu vermischen, daß wir nicht unser Leben lang den gleichen Beruf ausüben können, wenn wir länger leben würden. Würde man wirklich für 300 oder 400 Jahre immer dasselbe machen wollen? Wir müssen uns an die Vorstellung gewöhnen, daß unsere berufliche Karriere flexibel sein muß. Wir müssen Neues lernen wollen. Gegen diese Vorstellung gibt es großen Widerstand, der Bestandteil der Müdigkeit ist. Sie kommt aus der Vorstellung, daß wir an dem festhalten sollen, was wir haben. Alles was stört, ist schlecht und muß aufgehalten werden. Doch wir müssen stattdessen lernen, auf den Wellen des Zukunftsschocks zu surfen und diesen zu lieben. Der Wohlfahrtsstaat, das Verlangen nach Sicherheit und die durch neue Industrien bewirkte Enttäuschung über das ökonomische Wachstum haben viel zur europäischen Müdigkeit beigetragen. Das sicher nicht nur ein europäisches Phänomen. Man kann es auch in vielen Teilen der USA sehen, am geringsten wahrscheinlich in Kalifornien.

Es gibt aber noch zwei weitere Gründe, die ich nur kurz erwähnen will. Einer ist das Fehlen von Grenzen. Menschen mit viel Energie und Kreativität, die mit dem Status quo unzufrieden sind, gehen gerne weg und sind oft in den Westen gewandert. Heute gibt es zwei neue Grenzen. Eine liegt im Weltraum. Der Weltraum ist nicht mehr sehr attraktiv. Aber ich glaube, daß es neue Technologien gibt, die in den nächsten 20 Jahren die Kosten von Weltraumfahrten erheblich senken werden. Viele Millionen von Menschen werden im nächsten Jahrhundert im Weltraum leben. Die andere Grenze gibt es mit dem Cyberspace bereits. Das gibt mir Hoffnung, daß die Hypermoderne nicht nur ein amerikanisches oder ein kalifornisches Phänomen sein wird. Das Internet kennt keine Grenzen. Meine optimistische Hoffnung ist, daß sich die neuen Möglichkeiten über das Internet verbreiten. Das scheint auch zu geschehen und gibt den Menschen die Vorstellung, daß sie vorwärtsgehen können.

Die geringe Begeisterung in Europa verdankt sich schließlich der relativen geringen Einwanderung. Die Bevölkerung Amerikas würde ohne Einwanderung allmählich weniger werden. Die Einwanderung ist aber sehr hoch, was für die amerikanischen Nationalisten schrecklich ist. Die Menschen, die nach Amerika kommen, suchen nicht die Unterstützung des Staates. Meist sind es Menschen mit hoher Energie und Kreativität und nicht solche, die faul sein wollen. Solche Einwanderer gibt es in Europa nicht viel. Für diese Sorge hat man in England, als ich dort aufwuchs, einen Namen gefunden: den Brain Drain.

Ich habe einige der Gründe aufgeführt, die die Schwierigkeiten Europas erklären könnten. Ich hoffe aber, daß sich durch das Internet die Begeisterung verbreiten wird, die ich und andere Menschen gegenüber der Zukunft und ihren Möglichkeiten empfinden. Für mich gibt es keinen Grund, warum sie sich nicht auch in Europa verbreiten könnte.

Max More: Transhumanismus
Gundolf Freyermuth über die Extropianer: Die Avantgarde der Evolution

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer